Kapitel 64

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Ich kümmere mich nicht darum und bemerke auch nicht richtig, wie nass ich durch den Regen mitlerweile geworden bin. Das Einzige, auf das ich mich konzentriere, ist Can, der vor mir sitzt und seine Augen weiterhin geschlossen hat. Auch wenn er nicht ganz bei Sinnen zu sein scheint, lässt er mein Handgelenk überhaupt nicht mehr los. Doch tatsächlich öffnet er für einen kurzen Augenblick seine Augen und blickt geradewegs in die meine. In seinen Augen ist etwas zu erkennen. Ich weiß aber nicht genau, was es ist. Er schließt sie danach langsam wieder und scheint irgendwie eingeschlafen zu sein. Er wirkt so kraftlos. Was ist mit ihm passiert? Mein Verstand sagt mir die ganze Zeit, dass ich einfach gehen und das hier vergessen soll. Doch mein Herz will, dass ich bleibe und ihm helfe. Es ist ein Kampf zwischen Herz und Verstand, den natürlich am Ende mein Herz gewinnt. Ich kann ihn hier nicht einfach liegen lassen. Schließlich ist er mein Mann. Ich muss ihm helfen. Sofort. Also sammele ich meine ganze Kraft und helfe ihm hoch. Er scheint ziemlich benommen und es kostet mich eine menge Kraft, ihn bis zu mir nach Hause zu schleppen. Er kann überhaupt nicht richtig laufen. Ich habe meinen Arm um ihn gelegt und bringe ihn so zu mir nach Hause. Zum Glück ist es nicht weit entfernt.

Zuhause  angekommen nehme ich meine letzte Kraft zusammen und lege ihn sanft ins Bett. Ich atme erschöpft aus, wischte mir die Schweißperlen, die sich an meiner Stirn befinden, weg. Die Treppen haben mich ganz schön fertig gemacht am Ende. Meine Güte. Er hat sich ganz schön gehen lassen. Er ist auf jeden Fall viel schwerer geworden. Ich blicke zu ihm herab. Langsam atmend liegt er auf dem Bett und öffnet seine Augen weiterhin nicht. Ich ziehe meine Schuhe sowie meine Jacke aus. Dann hole ich den Verbandskasten, der sich im Badezimmer befindet. Ich muss seine Wunden versorgen. Am Ende bekommt er eine Infektion oder sowas. Hätte ich ihn nicht gesehen, hätte ihm alles Mögliche passieren können. Warum kann er nicht vorsichtiger sein? Langsam ziehe ich ihm seine Jacke aus. Dann knöpfe ich sein Hemd auf. Bei dem Anblick seines weiterhin gut gebauten Körpers wird mir augenblicklich heiß. Auch wenn er schwerer geworden ist, ist sein Körper trotzdem in topform. Beeindruckend. Vorsichtig versorge ich schließlich seine Wunden. Manchmal zuckt er zusammen, was mir sehr leid tut, weswegen ich immer sanfter werde. Ich möchte nicht, dass er Schmerzen hat. Nachdem ich seine Wunden gut verarztet habe, ziehe ich ihm langsam seine Schuhe aus. Dann decke ich ihn gut zu, gehe sicher, dass er bequem lieg und setzte mich anschließend neben ihn. Still betrachtete ich ihn. Er hat sich kaum verändert.

Genau wie damals ist er immer noch attraktiv und während des Schlafens unglaublich süß. Doch das, was sich geändert hat, ist sein Charakter und unsere Beziehung. Er wirkt nicht mehr wie der alte Can. Als hätte er das Lieben verlernt. Was hat er all die Jahre getrieben? Wo wohnt er zurzeit? Wie geht es ihm? All diese Fragen hätte ich ihn nur zu gerne gefragt. Doch es ist mir bis heute einfach nicht über die Lippen gekommen, da wir beide uns irgendwie fremd und auch nicht fremd sind. Es ist seltsam. Er ist mein Ehemann. Doch es fühlt sich so an, als hätte ich einen Fremden in mein Haus geschleppt. Warum erkenne ich ihn ihm nichts Vertrautes mehr? Seufzend stehe ich auf, da ich ins Wohnzimmer gehen will. Doch ich gehe keinen Schritt weiter, als ich etwas an meinen Handgelenk spüre. Es ist Cans große, warme Hand, die mein Handgelenk umfasst. Überrascht blicke ich in sein schlafendes Gesicht. Er lässt mein Handgelenk nicht los. Ich muss und will an seiner Seite bleiben. Also bleibe ich bei ihm. Die ganze Nacht über sitze ich neben ihm auf dem Bett, achte dabei auf Abstand und betrachte ihn verträumt. Insgeheim bin ich glücklich. Nicht über seinen Zustand. Gott hat ihn zu mir geschickt. Das ist Schicksal. Weiterhin schaue ich ihm dabei zu, wie er friedlich schläft, bis die Müdigkeit mich schließlich auch überkommt und ich mich direkt neben ihn fallen lasse. Dies ist die erste Nacht, nach all den Jahren, in der ich wieder friedlich schlafen kann. Denn ich weiß, dass er an meiner Seite ist. Das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Can POV

Benommen öffne ich meine Augen. Das Sonnenlicht blendet mich, weswegen ich mir meine Hand vor mein Gesicht halte. Als ich mich aufrichten will, zucke ich vor lauter Schmerz zusammen. Ich blicke runter und sehe, dass meine Wunde versorgt wurde. Stimmt. Gestern habe ich eine Schlägerei mit diesen Kerlen gehabt. Ich habe sie zwar fertig gemacht, habe jedoch viele Messerstiche und Schläge kassiert. Aber wer hat meine Wunde verarztet? Wo befinde ich mich überhaupt? Während ich mich verwundert umsehe, kommt mir langsam in den Sinn, wo ich mich befindet und als ich neben mich blicke, bestätigen sich meine Gedanken. Ich blickte in Leylas schlafendes Gesicht. Sie sieht so friedlich aus. Also ist sie es gewesen, die mich hierher gebracht und sich um mich gekümmert hat. Wie hat sie mich gefunden? Wie hat sie mich alleine hierher gebracht? Warum hat sie das getan? Ich meine, ich habe sie die letzten Wochen sehr schlecht behandelt und trotz allem sorgt sie sich um mich. Als ich nach vorne blicke, sticht mir etwas ins Auge. Auf der Kommode stehen immer noch die Bilder, auf denen Leyla und ich gemeinsam zu sehen sind. Insbesondere unsere Hochzeitsfotos. Sie hat diese Fotos behalten? Hängt sie so sehr an diesen Erinnerungen? Oder liebt sie mich vielleicht immer noch? Wieder blicke ich in Leylas schönes Gesicht. Sie ist einfach bildhübsch geblieben. Zwar etwas bleicher und dünner, doch sie ist nach wie vor wunderschön. Ein kleines Lächeln huscht über meine Lippen. Sie hat mich niemals vergessen. Und auch ich habe sie nie vergessen.

Ich decke sie gut zu, damit ihr nicht kalt wird und lege mich langsam wieder hin, um sie zu betrachten. Je mehr ich sie so ansehe, desto mehr Reue und Schmerz empfinde ich. Ihr Anblick ist  gleichzeitig so schön und doch so schmerzhaft. Sie ist so blass und dünn geworden. Außerdem zeichnen sich unter ihren Augen tiefe Augenringe ab. Sie schläft und isst kaum, was mir sehr leid tut. Seufzend will ich meine Hand auf ihre Wange legen, bringe es jedoch nicht übers Herz. Stattdessen streiche ich ihr dachte eine Strähne aus ihrem Gesicht. Meine Leyla. Nachdem ich mich wieder aufgerichtet habe, fällt mein Blick auf ihre Hände. Was ist das nur? Ich blicke genauer hin. Sie hat einige Wunden an ihren Händen sowie an ihren Armen. Es sieht so aus, als hätte sie sich nicht um diese Wunden gekümmert, da an einigen Stellen schon Narben zu erkennen sind. Um mich sorgt sie sich, doch sich selbst hat sie vollkommen vergessen. Wieso kann sie mich nicht einfach vergessen? Liebt sie mich so sehr, dass sie sich selbst egal geworden ist? Doch ich kann sie verstehen. Auch ich denke schließlich sehr oft an sie. Na ja, eigentlich immer. Jetzt gerade mache ich mir schließlich Sorgen um ihre Wunden. Doch im Gegensatz zu ihr verberge ich meine Gefühle und bleibe standhaft. Ich weiß, dass es rücksichtslos von mir ist. Sie zerbricht von Tag zu Tag immer mehr. Meinetwegen. Sanft streichele ich ihre Hand und küsse sachte eine kleine Wunde, die sich an ihrem Finger befindet. Sie darf nicht zerbrechen. Wenn sie zerbricht, zerbreche ich. Mein Blick fällt auf ihren Ring. Ich stehe vor der Qual der Wahl. Entweder kehre ich zu Leyla zurück und sie ist in Gefahr oder ich bleibe distanziert und sie ist trotzdem in Gefahr. Beides ist eine schwere Entscheidung, da sie so oder so verletzt sein wird. Soll ich zu ihr zurück? Ich muss gründlich darüber nachdenken. Ich will nichts überstürzen, deshalb sollte ich lieber jetzt gehen. Sie soll mich nicht sehen.

Vorsichtig stehe ich auf, da meine Wunde noch ein wenig schmerzt und decke sie besser zu. Dann schleiche ich mich aus dem Zimmer und begebe mich aus in das Zimmer von Cansu. Sie ist zwar nicht hier, weswegen auch immer, aber es macht mich sehr glücklich, wieder in ihrem Zimmer zu stehe und ihren Duft einzuatmen. Wie ich sie vermisse. Ich weiß, dass sie nun in den Kindergarten geht. Sie ist größer geworden. Ich, als ihr Vater, konnte nicht dabei sein, als sie angefangen hat zu laufen und in den Kindergarten zu gehen. Ich konnte nicht dabei zusehen, wie sie von Tag zu Tag immer mehr gewachsen ist und wie oft sie das Wort "Papa" ausgesprochen hat. Nie konnte ich ihr die Liebe eines Vaters geben. Während ich hier so in Cansus Zimmer sitze und nachdenke, fällt  mir etwas ein. Ich habe meine Frau mit einem Kind zurückgelassen. Ich habe Leyla zu einer alleinerziehenden Mutter und Cansu zu einem vaterlosen Kind gemacht. Das ist alles wegen mir. Was meinte sie letztens zu mir? Sie würde lieber glücklich an meiner Seite sterben, als ohne mich, unglücklich .Ja, sie liebt mich sogar unheimlich. Und wie sie mich liebt. Diese Liebe ist stark und ich spüre sie. Doch was soll ich tun? Zu ihr zurückkehren wäre ihr tot. Doch von ihr getrennt zu sein macht sie noch kaputter, als ich es jemals gedacht hätte. Sie ist am Ende. Seelisch und körperlich. Wäre ich bei ihr geblieben, wäre es wohl nicht so weit gekommen. Meine Schuldgefühle plagen mich. Ich will einfach nur raus aus diesem Haus. Ich begebe mich wieder ins Zimmer, um meine Jacke und meine Schuhe zu holen. Doch mir fällt auf, dass Leyla nicht mehr imBett liegt. Ist sie schon aufgewacht?Gerade in diesem Moment öffnet sich die Badezimmertür und sie tritt heraus. Sie taumelt etwas. Was ist los mit ihr? Ich beobachte sie ganz genau. Sie fasst an ihre Stirn, hält sich dabei an der Kommode, die sich neben ihr befindet, fest. Ihr scheint wohl schwindelig zu sein. Ihr Anblick ist erschreckend. Sie sieht überhaupt nicht gut aus. Als hätte sie keine Kraft mehr.
"Alles okay?", frage ich sie und scheine sie irgendwie geweckt zu haben. Sie hat mich vorhin wohl nicht bemerkt.
"Was? Oh-Oh, J-Ja. Mir ist nur ein wenig schwindelig", sagte sie, was meine Gedanken bestätigt. Sie scheint sehr benommen sowie neben der Spur zu sein.
"Warum?", frage ich sie dann. Ich weiß nicht genau, weshalb ich das gefragt habe. Schließlich sollte es mir doch eigentlich egal sein. Sie setzt sich auf das Bett und blickt zu mir auf. Die wenigen Schritte sind ihr gerade schwergefallen.
"Ich weiß nicht", antwortet sie. Ich knie mich vor sie nieder und blicke sie lange an. Sie sieht  tatsächlich überhaupt nicht gut aus. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und sie zitterte. Nein. Mit ihr stimmt etwas nicht. Ich weiß es doch. Sie blickt stumm auf den Boden, sie scheint sehr traurig zu sein. Ihr Anblick zerbricht  mir das Herz. Plötzlich tut sie etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Sie nimmt meine Hand in ihre. Ihre Hände sind sehr kalt und sie zittert weiterhin. Mir sticht wieder der Ehering, der sich an ihrem Finger befindet, ins Auge. Behutsam streichelt sie meine Hand und ich lasse es einfach zu. Während ich abwechselnd in ihr Gesicht sowie auf unsere Hände blicke, fällt mir auf, dass sie immer weniger zittert.

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