Kapitel 1

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Reese

Die Seiten des Buches zwischen meinen Fingern fühlen sich leicht rau an, an den Kanten ist es schon extrem abgenutzt und doch lese ich das Buch immer und immer wieder. ‚Oliver Twist' steht auf dem Cover.
Bücher sind mein ganz persönlicher Rückzugsort, besonders dieses. Eine graue Decke ist um meinen zum Glück verheilten Körper geschlungen. Ich habe es mir auf meiner Fensterbank gemütlich gemacht und beobachte den Regen, wie er stetig auf den Boden niederprasselt. Heute ist Sonntag und morgen müsste ich wieder in die gottverdammte Schule. Meine ganz persönliche Hölle. Seufzend schlage ich mein Buch zu und ziehe die Kopfhörer aus meinen Ohren. Der Vorfall ist jetzt 3 Tage her. Bisher habe ich kein Wort darüber verloren, denn ich wollte einfach nicht. Es war nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein. Seufzend nippe ich an meiner heißen Milch. Der süße Geruch nach Schokolade steigt mir in die Nase und verzaubert meine Sinne. Dieses Getränk hat schon immer eine unglaublich beruhigende Wirkung auf mich und erwärmt meine Seele.

Als die Tasse leer ist, stehe ich auf und begebe mich nach unten. Die Sonne taucht unsere Küche in ein warmes Orange. Ich stelle sie in die Spüle und beobachte die untergehende Sonne. Plötzlich wuschelt eine Hand durch meine dichten locken. „Na Kleiner.", begrüßt mich Jake und nimmt sich ein Glas aus dem Schrank. Sofort spüre ich wieder diese Wärme, die mich sofort umgibt, wenn er bei mir ist. „Du bist ja schon wieder zurück.", sage ich überrascht und beobachte ihn dabei, wie er sein Glas mit Wasser füllt. „Ja, ich wollte mit dir essen. Deswegen habe ich heute alle nach Hause geschickt.", erzählt er. Schon seit zwei Wochen laufen die Vorbereitungen für das Ritual am Samstag. Wenn Jake die Prüfung und das Ritual besteht, ist er der neue Anführer unseres Rudels. Davor war es unser Vater, doch nach seinem Tod vor 6 Monaten, war das Rudel schutzlos. Natürlich hat sich Jake schon seitdem um alles gekümmert, doch nur mit dem Ritual ist er der wahre Alpha. Erst wenn unsere Vorfahren ihn akzeptieren, bekommt er diese unfassbar große, alles einnehmende und beschützende Macht.
Ich glaube an ihn.
Er ist der stärkste Wolf den ich kenne.
„Hast du Angst?", frage ich und schaue auf meine Socken, auf den kleine Ufos gedruckt sind. Ich weiß die Frage ist bescheuert, denn nicht er ist der der Angst hat, sondern ich bin es. Angst ihn zu verlieren. Er ist das letzte Familienmitglied, was mir geblieben ist. Seine Augen wandern über meinen Körper, denn er weiß ganz genau was in mir vorgeht. Weiß er immer.
Er legt eine Hand in meinen Nacken und hebt meinen Kopf leicht an. Unsicher schaue ich in seine Obsidian farbenen Augen. Mit etwas Druck im Nacken zieht er mich zu sich und ich lehne meine Stirn an seine breite Schulter. „Es wird mir nichts geschehen, versprochen!", flüstert er in mein Ohr und sofort breitet sich eine Gänsehaut über mir aus. Leicht nicke ich und sauge nochmal seinen Duft in mich auf. Er riecht nach Wald, mit ein bisschen seines männlichen Aftershaves und sein markantes Parfüm, das ihn einfach unwiderstehlich riechen lässt. Verstört, wohin meine Gedanken schon wieder gehen, löse ich mich von ihm. „Lass uns was essen.", sage ich und lächle ihn an. „Kochen oder Bestellen?", fragt er und geht auf unseren Kühlschrank zu. „Ich glaube wir haben nicht mehr viel da, ich muss morgen dringend einkaufen gehen...", murmelt er vor sich hin und schließt die Kühlschranktür wieder. „Chinesisch oder Pizza?", entspannt geht er auf unser Telefon zu. „Hm...Pizza.", sage ich breit grinsend. „Was auch sonst...", lacht er augenverdrehend. Ich zucke mit den Schultern. Was soll ich sagen, Pizza ist nun mal echt lecker. Während er unser Essen bestellt, räume ich Teller und Besteck aus dem Schrank. „So, ich werde jetzt unter die Dusche springen. Die Pizzen sind so in 20 Minuten hier, dass Geld liegt auf dem Tisch.", sagt er, nach dem er aufgelegt hat und begibt sich nach oben. Nickend decke ich den Tisch und sehe im Augenwinkel, wie er die Treppen nach oben geht. Seit unser Vater gestorben ist, kümmert sich Jake um mich. Die letzten sechs Monate waren nicht einfach für uns, doch Jake war immer für mich da. Wir hatten schon immer ein gutes Verhältnis. Mein Bruder hat einen extrem ausgeprägten Beschützerinstinkt, der manchmal echt nerven kann, aber ich bringe mich auch echt oft in Schwierigkeiten. Ich bin ein totaler Tollpatsch und breche mir echt extrem oft irgendwas, zum Glück bin ich ein Werwolf und kann mich dadurch schnell heilen. Wäre ich ein Mensch, denke ich nicht das ich jetzt noch leben würde. Dazu kommt, dass ich einen angeborenen Herzfehler habe. Das volle Programm also, somit verstehe ich es, dass mein Bruder immer ein Auge auf mich hat. Man könnte sich jetzt fragen, wieso man als Werwolf ein Herzfehler hat, nun das haben wir uns alle. Die Heiler können es sich auch nicht erklären. Große Einschränkungen habe ich dadurch aber nicht. Manchmal wird mir ein bisschen schwindlig aber sonst geht es. Ich kann damit leben, immerhin habe ich es ja schon immer und kann mich damit arrangieren. Erschrocken zucke ich zusammen, als es an unserer Haustür klingelt. War ich wirklich so lange in Gedanken?
Schnell greife ich nach dem Geld und gehe zur Tür, um sie zu öffnen. Vor mir steht ein Typ in roter Kleidung, auf der ‚Elio's Pizza' steht. „Hey, hier ihr Geld.", sage ich und reiche ihm die Scheine. Dankend nimmt er sie an sich und überreicht mir die zwei Pizzen. Freundlich verabschiede ich mich von ihm und schließe die Tür. Gerade als ich in die Küche gehe, sehe ich, wie Jake von oben kommt und er ein Olivgrünes T-Shirt mit V-Ausschnitt über sich zieht. Mein Bruder hat einen extrem muskulösen Körperbau, ganz im Gegenteil zu mir. Ich bin ziemlich klein, dünn und habe nicht wirklich ausgeprägte Muskeln. Natürlich bin ich stärker als ein Mensch, aber das ist nicht zu vergleichen mit der Kraft, die Jake besitzt. Ich bin das schwächste Glied im Rudel, auch wenn Jake versucht mir immer wieder zu beteuern, dass das nicht stimmt. Unsere Eltern sagten immer das liegt an meinem Herzfehler. Sie könnten recht haben, aber es könnte auch einfach daran liegen, dass ich kaum bis gar keinen Sport mache. Während Jake mehrmals die Woche trainiert, lese ich lieber Bücher oder zeichne. So bin ich nun mal, das Rudel hatte schon immer Schwierigkeiten mich zu akzeptieren, doch Jake unterstützt mich so wie ich bin. Wenn ich nicht der Sohn des Alphas und der Bruder des zukünftigen Alphas wäre, hätten sie mich schon längst aus dem Rudel verstoßen. Ich bin nun mal einfach zu schwach und gehöre nicht in das Klischee des großen bösen Wolfs. Doch Jake streitet das immer vehement ab. Er will mich nun mal beschützen und er will mir das Gefühl geben, normal zu sein und dafür liebe ich ihn. Als Bruder versteht sich.
Ich stelle die Kartons auf den Tisch und nehme mir ein Stück meiner Peperoni Pizza heraus. Hungrig öffnet auch Jake sein Karton und nimmt sich ein Stück Margherita. Genüsslich beiße ich von meinem ab und stöhne auf. Grinsend beobachtet mich Jake. „Was?", frage ich ihn mit vollem Mund. „Du hast schon wieder einen halben Orgasmus beim Essen.", sagt er schmunzelnd. Sofort steigt mir die Röte ins Gesicht. Ich mache immer solche Geräusche beim Essen, besonders, wenn es gut schmeckt und Jake macht sich daraus immer einen heidenen Spaß. Doch ich kann das einfach nicht kontrollieren, es kommt einfach über mich. Nun gut, Pizza ist auch besser als Sex... Naja, bestimmt... Also, eigentlich habe ich keine Ahnung, aber was kann schon besser sein als Pizza, oder?

Als wir die vortrefflichen Pizzen verputzt haben, mustert mich Jake intensiv und ich weiß genau was jetzt kommt. Seufzend lehne mich zurück und warte auf seinen Vortrag. „Du weißt, dass wir darüber sprechen müssen...", fängt er an. Schützend schlinge ich meine Arme um mich und schaue auf die restlichen Krümel auf dem Teller. „Ich weiß...", murmle ich. „Sieh mich an und sage mir was verdammt nochmal passiert ist!" Eingeschüchtert schlucke ich und schaue zu ihm auf. Habe ich schon erzählt, dass mein Bruder auch sehr herrisch sein kann, wenn er will? Ich kann seine Wut bis hier her spüren, doch sie gilt nicht mir. Das hat sie noch nie.
Eigentlich will ich mich an den Abend vor ein paar Tagen gar nicht zurück erinnern. Ich wollte mir doch nur ein Buch in der Bibliothek ausleihen, doch als ich sie verlassen habe, haben sie mich auch schon umzingelt, ich hatte keine Chance. „E-Es war wirklich dunkel und... und ich konnte nicht viel erkennen. Es ging alles so schnell und d-da lag ich dann auch schon irgendwo. So schlimm war es doch gar nicht!", versuche ich ihn zu beschwichtigen. „Nicht so SCHLIMM?! Verdammt Reese! Es hätte so viel passieren können.", er ist wütend und das ist verständlich. „Ich weiß...", flüstere ich und schaue beschämt auf den Boden. Ich weiß genau wer mir das angetan hat und wenn ich es Jake sagen würde, wären sie noch heute Geschichte. Jeder weiß wie viel ich ihm bedeute, doch sie haben etwas gegen mich in der Hand und das darf Jake auf keinen Fall erfahren. Also können sie mit mir machen was sie wollen, denn wehren kann ich mich sowieso nicht. „Reese, das war jetzt schon der dritte Vorfall seit letztem Monat. So kann das doch nicht weiter gehen!", schimpft er. Oh, wenn er wüsste, dass es noch so viel mehr Vorfälle gab und ich nur nicht so schlimm zugerichtet wurde, so dass er es hätte merken können. „Es tut mir leid, Jake...", sage ich ehrlich. Seine angespannten Schultern sacken in sich zusammen und er kommt auf mich zu und geht vor mir in die Hocke. Mit meinen hellbraunen Glubschaugen sehe ich ihn unsicher an. Er seufzt laut und gibt mir ein Kuss auf meine Stupsnase, ehe er mich umarmt. Das macht er schon immer, wenn er der Meinung ist, dass er zu streng zu mir war. Ich tue zwar immer so, als würde ich das hassen, aber insgeheim liebe ich es, wenn er das tut. „Tut mir leid Kleiner. Ich kann nur einfach nicht mit ansehen, wenn dir jemand etwas antut und ich rein gar nichts dagegen tun kann." Er wuschelt mir noch durch die Haare und steht dann auf, um das Geschirr in die Spüle zu räumen. „Geh ruhig hoch, ich räume hier noch auf. Ich fahre dich dann morgen zur Schule." „Okay, gute Nacht Jake.", murmle ich und gehe nach oben.
Total erschöpft lege ich mich ins Bett und versuche einzuschlafen, auch wenn langsam die Angst in mir aufsteigt, denn in der Schule warten sie schon auf mich.

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