Kapitel 2

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Reese

„Hast du alles?", fragt er mich während er seine Autoschlüssel sucht. „Ja!", rufe ich von oben und ziehe noch schnell meine schwarzen Converse an. Schnell checke ich mich noch im Spiegel. Meine ausgewaschene Jeans und mein ausgewaschener blauer Pullover, sind jetzt vielleicht nicht das Hübscheste was ich im Schrank habe, aber mein weißes Hemd, welches ich unter dem Pullover anhabe, macht es wieder wett. Eine kleine, feine silberne Kette baumelt um meinen Hals. Halbwegs zufrieden, schnappe ich mir meinen abgenutzten weinroten Rucksack und gehe nach unten. Jake sucht immer noch seine Schlüssel. Seine schwarzen kurzen Haare sind total verwuschelt, weil wir beide heute Morgen nicht viel Zeit hatten, da unser Wecker nicht geklingelt hat. Ob ich das wirklich schlecht finde, sei erstmal dahingestellt, aber die wuscheligen Haare stehen ihm gut, sonst gelt er sie immer nach oben. Er trägt ein schwarz-weißes Baseball Shirt, eine schwarze Jeans und seine alles geliebten schwarzen Adidas Gazelle. „Ha! Ich habe ihn!", ruft er erfreut und hält den Schlüssel hoch. Lachend schüttle ich den Kopf, man könnte meinen, er hat Alzheimer, so oft wie er etwas verlegt. Als er sich zu mir umdreht, fällt mir auf, dass er vergessen hat sich zu rasieren, denn sein 3 Tage Bart ist etwas länger als sonst, aber nicht im schlechten Sinne. Wir sollten definitiv öfter verschlafen. Schnell schüttle ich den Kopf, verbanne diesen Gedanken und gehe mit ihm auf seinen schwarzen Pick-Up zu. Es hat das gesamte Wochenende geregnet und deswegen ist die Luftfeuchtigkeit ziemlich hoch, doch in den nächsten Wochen soll die Sonne wieder öfter rauskommen. Nicht wirklich motiviert steige ich ins Auto und warte, dass Jake losfährt.  „Wann hast du heute Schluss?", fragt er mich und manövriert das Auto aus unserer Einfahrt. „Hm... 14:30 Uhr denk ich, wieso?", antworte ich und mustere ihn. „Ich komme heute erst später nach Hause, es gab die Nacht ein paar ungebetene Gäste im Reservat.", erklärt er. Das klingt gar nicht gut. „Oh, okay." Eigentlich habe ich mich schon gefreut, mit ihm heute unsere Serie weiter zu schauen, aber anscheinend muss ich heute mit meinem Buch vorliebnehmen. „Ich gehe nachher einkaufen und bringe dir was zum Abendbrot mit.", er lächelt und hält vor meiner Schule an. Als ich die vielen Schüler sehe, wird mir schlecht und eine unangenehme Gänsehaut breitet sich über meinem Körper aus. „Alles gut? Du bist ganz blass.", fragt mich Jake besorgt. Ich nicke und räuspere mich, um den Klos, der sich in meinem Hals gebildet hat los zu werden. „Ja, ich schreibe heute nur eine Arbeit...", lüge ich ihn an und er weiß das ganz genau. Wusste er schon immer.
„Wenn etwas ist, ruf mich an, ich komme sofort." Ich nicke und schultere mein Rucksack. „Alles gut, dass wird schon. Bis später.", sage ich noch schwach lächelnd und springe aus dem Pick-Up. Tief durchatmend gehe ich auf das Gebäude zu. Hinter mir höre ich wie Jake den Motor startet und davonfährt. Jetzt bin ich alleine und die Hölle breitet die Arme aus, um mich mit sich zu ziehen. Mit geducktem Kopf laufe ich schnell nach drinnen und kralle mich schon fast krampfhaft in meinen Rucksack. ‚Du schaffst das schon Reese, ist doch nur Schule.', rede ich mir mutig zu. Unauffällig versuche ich, auf mein Schließfach zu zugehen und hole mir die Bücher für die kommende Stunde raus. Als ich dann endlich im Klassenraum sitze und der extrem langweilige Unterricht anfängt, seufze ich erleichtert auf, denn hier bin ich sicher. Wir haben Bio und unsere Lehrerin redet irgendwas über Anaphase. Ich bin soweit ziemlich gut in der Schule, so dass ich nicht unbedingt aufpassen muss. Das kann ich auch alles zu Hause lernen, wo ich meine Ruhe habe und sicher bin. Also kritzle ich auf meinem Block rum, was ich eigentlich immer tue. Jake findet, dass ich wirklich gut zeichnen kann, doch soweit würde ich nicht gehen. Ich mache das einfach nur zum Spaß und meistens zeichne ich Dinge, die ich Jake niemals zeigen könnte, seine Augen. Sie haben mich schon immer fasziniert, dieses tiefe Schwarz und doch strahlen sie mir gegen über eine extreme Wärme aus. Selbst seine perfekte Nase unter seinen tollen Augenbrauen, die in demselben Schwarz glänzen, sind perfekt. Manchmal hasse ich es, dass er so toll aussieht, denn ich habe diese Gene nicht wirklich abbekommen. Meine Nase ist ganz ok und mein Mund ist ziemlich schmal, aber eigentlich auch ok. Mein Gesicht sieht jedoch immer so Milchbubi mäßig aus und das hasse ich. Ich hätte auch gerne die markanten Kieferknochen meines Bruders, doch mein Gesicht ist eher rundlich. Was ich aber wirklich an mir mag, sind meine Haare, die wilden locken hängen mir leicht ins Gesicht und gefallen mir ganz gut. Auch, wenn die Locken nicht natürlich sind. Sonst habe ich immer glatte langweilige Haare, aber irgendwann fand ich das zu langweilig und habe sie mir dann lockig gemacht. Jake hat mich erst mal echt ausgelacht, als ich so nach Hause gekommen bin, doch mittlerweile findet er es auch gut, denk ich jedenfalls.
Als die zwei Stunden Bio endlich vorbei sind, stürze ich mich wie alle anderen auch in die Cafeteria. Glücklicherweise bin ich einer der Ersten und die Schlange ist nicht so lang.

Mit meinem Essen suche ich nach einem Platz. „Hey Hähnchen!", ruft jemand und ich schaue mich um. Hinten auf unserem Stammtisch erkenne ich Willow. Lächelnd gehe ich auf sie zu und stelle mein Tablett auf den Tisch. Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals und grinst. „Na, wie geht's, wie steht's?", fragt sie wie immer übermotiviert. „Gut und dir?" Willow ist genau wie ich ein Außenseiter an der Schule, voller Werwölfe und Menschen. Willow ist einer der wenigen Menschen hier, doch obwohl sie Menschen sind, wissen sie über uns Bescheid. Sie kommt damit auch gut klar, aber sie werden hier meistens als minderwertig angesehen, nur weil sie schwächer sind als wir. Ich habe nichts gegen Menschen, hatte ich nie, deswegen verstehe ich mich auch gut mit ihr. Dazu kommt natürlich, dass mich die Werwölfe nicht wirklich zu meinem Rudel zählen, schon von Anfang an. Mein Bruder weiß nichts davon und das wird er auch nicht erfahren, sonst werden sie mir das Leben zur Hölle machen. Ich komme damit aber gut klar, ich brauche sie nicht, ich brauche nur meinen Bruder. Witzig ist, dass alle immer einen riesigen Schiss vor Jake haben, denn er kann wirklich sehr böse werden, wenn jemand mir was tut, aber trotzdem tuen sie es und ich lasse es über mich ergehen. Was soll ich auch machen, denn sie kennen mein größtes Geheimnis. Sie wissen ich würde alles tun, damit niemand und ganz besonders Jake nichts davon erfährt. Also machen sie sich einen Spaß daraus mich windelweich zu prügeln oder einfach zu beschimpfen. Selbst die Lehrer schauen darüber hinweg. Ich hoffe sie werden das alle noch bereuen.
„Joa, aber ich will endlich raus aus der Schule und auf's Collage.", träumt sie und ich beobachte sie schmunzelnd. Über's Collage mache ich mir momentan am wenigsten Gedanken. Über Geld muss ich mir auch keine Sorgen machen, denn unsere Vorfahren waren schon immer Alphas und das heißt, dass wir auch sehr viel Geld besitzen. Doch Geld hat unsere Familie noch nie interessiert, wir haben ein normal großes Haus, keine besonders teuren Autos oder sonstiges. Jakes Pick-Up hat er von unserem Vater zum bestandenen Collage Abschluss erhalten. Es war echt süß, wie doll er sich über das Auto gefreut hat. Er liebt das Auto sehr, besonders seit unser Dad nicht mehr ist, denn es war das letzte Geschenk von ihm. „An was denkst du gerade?", fragt sie mich und schnipst vor meinem Gesicht. „Ach nichts Besonderes...", sage ich und widme mich wieder meinem Essen.
„Hey Schwuchtel!", ruft jemand, der sofort das Blut in meinen Adern gefrieren lässt. „Shit.", sage ich nur noch, ehe ich an meinem Kragen gepackt werde. Angsterfüllt schaue ich in die grauen Augen von Jace. Er hebt mich hoch und presst mich an die Wand. Keuchend versuche ich von ihm los zu kommen. „Was machst du denn schon wieder hier? War dir das letzte Woche nicht genug?", fragt er mich breit grinsend. Ich rieche seinen Hass mir gegenüber. Seine strohdummen Freunde stehen breit grinsend neben ihm und schauen mich an.  Alle Gesichter erkenne ich wieder, jeden Tritt von Jace, jeden Knochen den mir der Muskelprotz Rico gebrochen hat oder jedes beleidigende Wort, was über die Lippen von den Zwillingen Cisco und Elio kam, alles kann ich jetzt wieder spüren. Zum Glück waren bei dem Vorfall nicht noch Andru und Michael dabei, sonst wäre es wahrscheinlich noch schlimmer geworden. Die beiden schauen mich jetzt belustigt an und lecken sich die Lippen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Willow etwas sagen will, doch schnell schüttle ich mit dem Kopf, damit sie das unterlässt. Ein Opfer reicht, ich will sie nicht in Gefahr bringen.  Ich kann den Schmerz aushalten, doch sie ist ein Mensch, viel zerbrechlicher.
„Mr. Galloway!", schimpft einer unserer Lehrer. Vielleicht sind die doch zu etwas zu gebrauchen. Glücklicherweise lässt mich Jace runter, doch kommt mir plötzlich extrem nahe. „Ein Wort...", flüstert er drohend und geht dann wieder zurück. „Man sieht sich.", grinst er und zwinkert mir vielversprechend zu. Erschöpft lasse ich mich auf meiner Bank nieder. „Sag nichts!", zische ich leise, als ich sehe das Willow etwas sagen will. „Du musst es endlich Jake erzählen!", sagt sie trotzdem. Genervt rolle ich mit den Augen. „Nein!" „Wenn das so weiter geht, bringt dich Jace noch irgendwann um. Das ist kein Spaß mehr, Reese! Sag Jake verdammt nochmal die Wahrheit!", sie ist wütend. „Ich kann nicht...", flüstere ich. „Doch du kannst und du musst!" Ich weiß sie hat Recht, doch ich habe Angst, dass mich mein Bruder mit anderen Augen sieht, wenn er erfährt, dass ich schwul bin. Ich habe so eine scheiß Angst, denn das ist nicht mal das ganze Geheimnis.

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