In den Regen

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Seine Lippen kamen immer näher. Und näher. Und näher...

Sein Blick war fest in meinen Augen verankert und ich konnte seinen Atem schon beinahe auf meinen Lippen spüren. Ich wollte der Versuchung nachgeben. wollte wissen, wie sich sein Mund auf meinem anfühlte. Wie seine Lippen schmeckten. Ob sie so weich waren, wie sie aussahen. Was für Gefühle ein Kuss von ihm in mir auslöste.
Ich wollte ihn küssen.
Aber ich durfte es nicht. Hinter ihm sah ich eine große Brechstange neben einem Werkzeugkoffer liegen und mir kam eine Idee. Auch wenn es mir im Herzen schmerzte, so konnte ich unseren Kuss nicht zulassen.
Kurz bevor seine Lippen auf meine trafen, drückte ich mich an ihm vorbei und rannte zu der blauen Eisenstange. Sie war schwer, aber ich schaffte es dennoch locker sie hochzuheben und mich zu ihm zu drehen.
In seinen Augen sah ich Enttäuschung? Tatsächlich. Allerdings konnte wahrscheinlich das gleiche in den meinen lesen.
Doch der Moment verflog so schnell wie er gekommen war und auf seinem Gesicht lag wieder dieser kalte harte Zug, der es schaffte mir eine enorme Angst einzujagen. Er musste gar nicht so viel dafür machen. Es war einfach alles an ihm. Die gefährlichen Augen. Die leicht amüsierten Lippen. Die Ausstrahlung von Macht und Autorität.
„Talia." Er klang müde und trotzdem sagten seine Augen etwas anderes. Sie beobachteten mich aufmerksam, bereit sofort einzugreifen, falls ich ausrasten sollte. Was gar nicht so abwegig war.
„Ich werde nicht zögern, das Ding zu benutzen!", stellte ich gleich mal klar. Aber er lächelte nur. Er glaubte mir nicht. Hätte ich in seiner Situation wahrscheinlich auch nicht. Doch es wäre besser, wenn er es täte.
„Du wirst mir nicht wehtun.", meinte er nur und das Lächeln auf seinen Lippen wurde noch breiter.
„Dir vielleicht nicht. Aber wenn du nicht willst, dass dein Zenvo gleich eine neue Frontscheibe braucht, würde ich genau da stehenbleiben und mich nicht bewegen.", erklärte ich und zog kurz meine Augenbraue in die Stirn. Ich hatte erreicht was ich wollte. Er blieb stehen.
„Das wagst du nicht!", knurrte er und sah mich böse an.
„Wollen wir wetten?", fragte ich und lachte leise.
Wenn Blicke töten könnten, wäre ich bestimmt seit wenigen Minuten tot. Denn in Adriens Blick lag eine stille Drohung, die mich einen kurzen Augenblick zögern ließ.
„Wir wissen beide, dass du das nicht machst.", flüsterte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Unsere Augen bohrten sich ineinander und fochten einen kleinen Kampf aus.
„Ach und warum nicht?", zischte ich und hob die Brechstange in Richtung des Zenvo.
„Weil dir genauso viel an dem Wagen liegt wie mir. Du willst doch nicht wirklich ein 830.000 € Auto verschrotten, von dem es gerade mal 15 Stück weltweit gibt. Komm schon Talia, willst du wirklich 1104PS auf den Schrottplatz schicken?", lockte er mich und ich biss mir auf die Zunge. Verdammt, er hatte Recht.
Ich ließ meinen Blick von Adrien zu dem Zenvo ST1 wandern und seufzte. Na klasse. Er hatte mich. Autos waren nun mal meine Schwäche. Und sein selbstgefälliges Grinsen zeigte, dass er das wusste.
„Ich will ihm nicht wehtun, aber wenn ich muss... Also bleibst du einfach am besten genau da stehen und lässt mich hier rausgehen, verstanden? Sollte ich sehen, dass du auch nur mit dem kleinen Finger wackelst schlag ich dir mit diesem Teil hier in jedes Auto um mich herum mindestens ein Loch.", drohte ich und meinte es todernst. Für ein Auto meine Freiheit zu riskieren war dann doch ein Preis, den ich nicht einsah zu zahlen.
Ein Nerv unter seinem Auge zuckte kurz und verriet sein Missfallen, aber ich achtete nicht darauf sondern ging ganz langsam ohne ihm den Rücken zuzukehren zwischen den Wagen hindurch zum Garagentor. Ab und zu näherte ich die Brechstange dem teuren Lack um ihm zu verdeutlichen wie ernst ich es meinte, aber ich konnte dann doch keinen Kratzer reinmachen.
Dann sah ich plötzlich wie er sich versteifte und sein Rücken sich bewegte.
„DENK nicht einmal dran deine Flügel auszufahren.", warnte ich und zog als Konsequenz einmal meinen Dodgeschlüssel über die Seite des Bugatti. Ein widerliches Schreien erfüllte den Raum und ich musste gestehen, dass es mir in der Seele wehtat. Aber ich hatte ihn gewarnt. Er ballte die Hände zu Fäusten und erdolchte mich mit seinen Blicken. Mir war durchaus bewusst, dass ich gerade einen riesigen Kratzer in ein 2,3 Millionen Fahrzeug gemacht hatte. Aber es hätte nicht so kommen müssen, wäre er einfach stehen geblieben. Es war also eigentlich gar nicht meine Schuld. Sondern seine.
„Du machst einen Fehler, Talia!", versuchte er mir einzureden. „Denkst wirklich ich finde dich nicht, wenn du jetzt entkommst? Denkst du wirklich ich lasse dich einfach so gehen? Das hier sind Autos! Sie sind ersetzbar. Aber du bist es nicht. Wenn du der Meinung bist, sie kaputtschlagen zu müssen, dann will ich dich nicht daran hindern. Ich habe genug Geld um sie mir in doppelter Zahl nochmal zu kaufen. Es ist nur fair wenn du das weißt. Und aus diesem Grund ist es mir egal, was du von mir verlangst. Ich KANN dich nicht gehen lassen. Selbst wenn ich es könnte. Ich WILL es nicht mehr.", sagte er und bei seinen Worten kroch die Angst mir durch den Körper. Er hatte Recht. Schnell schluckte ich meine Angst und ging wackeligen Schrittes noch einen Schritt zurück. Aber meine Selbstsicherheit von eben war inzwischen ganz weit weg. Wirklich ganz weit.
„Kannst du nicht einfach so tun, als hätte ich eine Chance jemals wieder aus dieser Situation herauszukommen? Kannst du mir nicht meine Hoffnung lassen?", wollte ich wütend von ihm wissen. In meinen Augen brannten Tränen.
„Sie ist das letzte was ich habe und du wirst sie mir nicht nehmen. Das kannst du nicht. Das lasse ich nicht zu.", wisperte ich und senkte meinen Arm. Dann fiel die Brechstange zu Boden und jemand schlang von hinten seine Arme um mich und hielt mich fest. Und es war nicht Adrien, denn der kam gerade mit schweren Schritten auf mich zu.
Ich brüllte auf und warf mich gegen meinen Angreifer. Aber ich hatte keine Kraft mehr.
„Es ist alles okay Talia. Ich bin es nur.", probierte Cam mich zu beruhigen. Doch das machte es nur noch schlimmer.
Ich schlug um mich und schrie immer wieder. Cam hatte so seine Probleme mich festzuhalten und erst als Adrien ihm zu Hilfe kam, schaffte sie es mich unter Kontrolle zu halten. Bis ich irgendwann nur noch ein kleiner schluchzender Haufen war, dem man den letzten Funken Hoffnung genommen hatte. In Cams Armen sank ich auf den Boden und weinte.
Es war einfach zu viel. Ich konnte nicht mehr.
„Du hast gewonnen.", schluchzte ich und sah Adrien aus trüben Augen an. Allerdings konnte ich kein Siegeslächeln auf seinen Lippen erkennen. Auf seinem Gesicht stand Sorge und Schmerz.
„Kann ich es dir denn nie recht machen?", schrie ich ihn an. „Jetzt sieh mich doch an! Du hast es endlich geschafft mich zu brechen! Und jetzt? Freu dich doch wenigstens! Du hast mich genau da wo du mich haben wolltest! Am Boden! Damit du mich nach deinen Wünschen wieder aufbauen kannst! Aber diese Person bin nicht mehr ich! Sie ist eine Marionette die tief im Inneren versucht sich gegen ihre Stricke zu wehren und zu lösen. Es ist ein echt ekelhaftest Gefühl, wenn man einem die Hoffnung nimmt! Das kann ich dir versichern! Aber Herzlichen Glückwunsch!"
Bei den ersten Sätzen hatte ich noch laut gebrüllt, wollte ihm klar machen wie schlecht es mir ging. Aber bei den letzten Silben wurde ich immer leiser. Mir fehlte die Kraft weiterhin stark zu sein. Ich konnte es schlicht nicht mehr. Er hatte meinen Willen gebrochen und freute sich nicht einmal. Es war zum Kotzen mit ihm. Konnte er sich nicht einfach mal entscheiden. Dachte er es wäre leicht für mich? Das ich das alles so wegsteckte? Wenn ja, musste ich ihn enttäuschen. Denn es war definitiv nicht so. Ja, ich war eine starke Person. Ich musste eine sein. Alleine schon für meine kleine Schwester. Aber Mary war nicht da also wem musste ich weiterhin etwas vorlügen? Mein Fass war voll. Meine Nerven am Ende.
Cam zog mich sanft hoch und umarmte mich. Ich ließ es zu und kuschelte mich an ihn. Was Adrien in diesem Moment dachte, war mich so was voll von egal.
„Geht's wieder?", fragte Cam behutsam und drückte mich ein wenig von sich weg um mich besser sehen zu können. Matt lächelte ich und fuhr mir durch die Haare.
„Ja, danke.", antwortete ich und er wischte mir liebevoll ein paar Tränen aus dem Gesicht.
„Okay.", nickte er und lächelte aufmunternd. Über uns hörte ich ein merkwürdiges Plätschern und blickte durch eines der großen Fenster nach draußen. Ein Gewitter hatte sich über uns zusammengebraut und als wenige Sekunden später laut donnerte, flüchtete ich mich noch weiter in Cams Arme. Der Regen fiel erst in vereinzelten feinen Tropfen. Dann wurde es immer mehr und bald erfüllte das Regengeräusch die gesamte Halle.
Hinter uns räusperte sich jemand unauffällig und ich drehte mich um.
„Talia, es tut mir leid.", sagte Adrien leise und ich dachte im ersten Moment, ich hätte mich verhört.
„Ich wünschte ich wäre nicht der der ich nun mal bin. Aber ich bin Adrien de Manincor und das lässt sich nicht leugnen. Wenn ich es könnte würde ich es tun. Für dich. Allerdings kann ich es nicht. Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich dich damals bei diesem Rennen gesehen habe. Dein Lachen hörte, deine wunderschönen Augen sah und mich in dich verliebte. Aber ich kann es leider nicht rückgängig machen. Es tut mir leid, dass ich dich in eine Welt gerissen habe die nicht die deine ist. Aber ich hoffe du kannst mir eines Tages verzeihen und mich genauso lieben wie ich dich. Ich erwarte nicht von dir, dass du das gleiche fühlst." Er lachte bitter. „Wie könntest du auch? Ich bin der Teufel! Du musst mich hassen für das was ich dir angetan habe."
Fassungslos starrte ich ihn an.
Als nach ein paar Minuten immer noch keiner von uns etwas sagte, drehte er sich um und rannte aus der Halle.
Danach tat ich etwas was ich selber nicht recht fassen konnte. Ich lief hinterher. In das Gewitter. In den Regen.

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