Narben

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Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, begrüßte mich ein wunderschönes Licht und das leichte Rauschen der Nordsee.
Matt rieb ich mir über das Gesicht und gähnte herzhaft. Das Bett war einfach herrlich weich und am liebsten wäre ich niemals aufgestanden. Aber der Gedanke, dass Adrien bereits wach war, brachte mich schlussendlich doch dazu die Bettdecke zur Seite zu stoßen. Mühsam kämpfte ich mich auf und streckte mich erstmal ausgiebig, nachdem meine Füße den kalten Boden berührt hatten.
Das Zimmer hier war ganz anders, als das in dem ich vorher gewohnt hatte.
Dieses hier war zwar genauso groß, jedoch viel heller und freundlicher. Ich hatte ein hohes Bett, in das ich erstmal hineinklettern musste. Die Bettwäsche war in leichten Blautönen gehalten und wenn ich mich während dem Liegen zur Seite drehte, konnte ich den Strand sehen. Es gab drei große bodentiefe Fenster und an der Wand gegenüber meiner Bettenburg befand sich ein großer Fernseher. Der Raum war weiß gestrichen und es gab nicht viele Möbel: An der Wand hingen zwei lange Regale, auf die man etwas stellen konnte. Aber da ich nichts besaß würden sie wohl noch etwas länger leer bleiben.
Gähnend tapste ich auf nackten Füßen zu dem geöffneten Fenster, lehnte mich gegen den Rahmen und sah sehnsüchtig hinaus auf das Wasser.
Bei dem Gedanken daran, dass meine Familie jetzt noch weiter von mir entfernt war, schmerzte mein Herz. Aber es war besser so, beruhigte ich mich und fuhr mir durch die Haare. Umso weiter weg ich bin, umso sicherer sind die Menschen die mir etwas bedeuten vor Nassim. Zumindest redete ich mir das ein... Ob es letzten Endes so war, würde ich wahrscheinlich eh niemals erfahren.
Draußen wehte ein leichter Wind und ich rieb mir langsam mit den Händen über die Arme. Viel hatte ich nicht an. Und das was ich gerade am Körper trug gehörte nicht einmal mir.
Ich trug lediglich eine Boxershorts von Adrien, sowie ein weites T-Shirt.
Um das Ganze zu erklären:
Unsere Sachen würden erst heute ankommen, hatte Adrien gestern Abend erklärt. Ein paar seiner Leute würden die wichtigsten Gegenstände aus seinem alten Haus holen und die Gegend auskundschaften, damit man uns nicht folgen konnte.
Ich hielt das für ein bisschen riskant, gerade falls jemand den Männern folgen sollte. Aber da hatte ich ja nichts zu sagen und um ehrlich zu sein, war ich es auch leid dauernd mit Adrien über so etwas zu diskutieren. Immerhin kannte er Nassim besser als ich und zweitens war es ja eigentlich eh nicht meine Angelegenheit. Naja... Zumindest mehr oder weniger nicht...
Das Kreischen einer Möwe riss mich schließlich aus meiner Starre und so nahm ich noch einen tiefen Atemzug, bevor ich mich umdrehte und leise aus dem Zimmer lief.
Auf dem Weg in die Küche stellte ich noch einmal fest, wie anders dieses Haus im Vergleich zu dem anderen doch war. Der Flur war hell und lichtdurchflutet und viel moderner. Wirklich viel moderner. Das Haus beeindruckte mich schon von außen. Es war ziemlich eckig und sah von vorne erstmal recht überschaubar aus, dafür war es aber überraschend weit nach hinten gezogen. So das die Seite praktisch direkt am Wasser lag. Mal abgesehen von der Wiese die noch dazwischen lag.
Es gab eine unendlich lange Auffahrt mit ebenen grauen Steinen, an deren Seite sich Beete und Wiese erstreckte. Um ehrlich zu sein gefiel es mir hier ziemlich gut.
Langsam lief ich in das große Wohn- und Esszimmer und sah mich um. Da es so ruhig war, musste ich zweimal hinsehen um Adrien hinter der Kochinsel in der Küche zu entdecken.
Gedankenverloren tippte er auf seinem Tablet herum und starrte den Bildschirm müde an.
„Morgen.", sagte ich leise und ging zu ihm.
Ertappt blickte er auf und lächelte nachdem sein Blick von unten bis oben über mich gewandert war.
„Guten Morgen.", entgegnete er und lehnte sich mit den Ellenbogen auf die Küchenplatte.
„Gut geschlafen?", fragte er dann, zog mich an sich und küsste mich auf die Stirn. Seine Haare standen ihm in alle Richtungen vom Kopf und er trug auch nur eine Jogginghose und ein Shirt. Und um die Wahrheit zu sagen, dass sah unglaublich heiß aus.
„Wie ein Stein.", antwortete ich und lächelte.
„Das freut mich.", meinte er und sah erneut an mir hinab. Wusste er denn gar nicht wie nervös mich das machte?
„Ja, ich weiß, dass ich schlimm aussehe. Das musst du mit deinen Blicken nicht noch unterstreichen!" Ich verdrehte die Augen, machte mich von ihm los und sah in den Kühlschrank.
„Ich hab gar nichts gesagt.", verteidigte er sich und lächelte wissend.
Skeptisch zog ich meine Augenbraue hoch und nippte an meinem Glas Apfelsaft.
„Nein ehrlich!", beteuerte er. „Ich finde du siehst ausgesprochen gut aus."
Bei seinen Worten verschluckte ich mich an dem Saft den ich gerade hatte schlucken wollen und begann laut zu husten.
Als ich mich wieder beruhigt hatte, schüttelte ich den Kopf und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch, an dem er inzwischen Platz genommen hatte.
„Ich glaube du weißt gar nicht wie schön du eigentlich bist.", flüsterte er und sah mich komisch an und fast hätte ich mich erneut verschluckt.
„Du bist wahnsinnig!", tat ich seine Worte ab, stand auf und lief wieder in die Küche. Ich wollte nicht, dass er sah wie rot ich geworden war. Aber sein leises Lachen zeigte, dass er genau wusste warum ich vom Tisch geflüchtet war.
Mit rotem Kopf suchte ich nach irgendetwas essbaren in diesem Haus, bis ich auf eine Packung Cornflakes fand und glücklicherweise sogar Milch.
Als ich an den Tisch zurückkehrte, hing Adrien bereits wieder über seinem elektrischen Gerät und schien höchst konzentriert.
Leise kaute ich auf meinem Müsli herum und schnappte mir die Zeitung die auf dem Tisch lag, aber ich brauchte nur einen Blick auf die Titelseite zu werfen, denn es war alles auf Dänisch! Frustriert schob ich sie wieder von mir weg und fixierte Adrien.
Einige Zeit schien er meinen forschen Blick nicht zu bemerken, doch dann sah er endlich auf.
„Hast du etwas gesagt?", fragte er verwirrt und sah mich überrascht an.
Ich ignorierte seine Frage. „Erzähl mir mehr über Nassim.", forderte ich ohne Umschweife.
Sofort änderten sich seine Züge. „Nein!", sagte er hart und blickte wieder auf sein blödes Tablet.
Ich schloss die Augen um ruhig zu bleiben. „Adrien, bitte!", versuchte ich es sanfter.
Er blickte auf und sah mich ernst an. „Ich sagte: Nein!"
„Ach komm schon!", flehte ich und zog einen Schmollmund.
Aber er schüttelte nur den Kopf. „Vergiss es!", beharrte er.
„Das ist gemein!", behauptete ich und mir wurde zu spät bewusst, dass ich klang wie ein kleines Kind, das keine Schokolade bekam. „Ich will doch einfach nur wissen, auf was ich mich vorbereiten muss."
Er schaltete sein Tablet aus und in als er mich dann wieder ansah, konnte ich Wut in seinen Augen sehen.
Oh... Nicht gut...
„Warum solltest du dich auf etwas vorbereiten müssen?", wollte er wissen und ich konnte den nur mühsam unterdrückten Zorn hören.
„Oh bitte tu nicht so!", lachte ich bitter. „Wir wissen beide, dass wir uns hier nicht ewig verstecken können!"
Über den Tisch hinweg starrten wir einander an. Beide zu stur um als erstes wegzusehen.
„Ich möchte aber nicht, dass du dich damit auseinandersetzten musst. Du wirst dir nur unnötige Gedanken machen. Außerdem wirst du ihm nie wieder so nahe sein wie im Krankenhaus.", stellte er klar.
Seine Entschlossenheit machte mich wütend. „Ach? Und was wenn doch? Du wirst nicht immer da sein können, wenn etwas passiert?"
Still sah er mich an. Also fuhr ich fort.
„Ich erwarte ja nicht von dir, dass du mir zeigst wie ich meinen Gegner gleich umbringen kann!", fuhr ich ihn an.
„Ich will doch nur Antworten!", fügte ich ruhiger hinzu. „Antworten und Informationen."
Es dauerte einige Minuten, ehe er leise seufzte. „Okay. Aber danach vergessen wir dieses Thema wieder, verstanden?"
Sofort nickte ich und sprang auf.
„Was machst du?", rief Adrien.
„Kaffee!", antwortete ich aus der Küche und stellte gerade eine Tasse unter die Maschine.
Er lachte.
Anschließend setzte ich mich mit einer heißen Tasse Latte Macchiato neben ihn und blickte ihn erwartungsvoll an.
„Okay. Also Nassims Eltern sind früh gestorben. Ertrunken bei einem Schiffsunglück. Er hat als Einziger überlebt. Das hat ihn ziemlich geprägt. Die Leute mieden ihn. Sie sagten er hätte das Leben seiner Eltern verkauft um selber am Leben zu bleiben. Er war vorher schon das schwarze Schaf seiner Familie. Aber nach dem Unfall war es die Hölle für ihn. Wenn die Menschen ihn beleidigten war das schon harmlos. Ich lernte ihn auf einer meiner Reisen kennen. Wir verstanden uns sofort. Wahrscheinlich weil es mir ähnlich ging. Mich sah man auch nicht gerne in meiner Heimatstadt. Cam im Gegensatz schon. Er war immer der Gute. Der Schlaue. Der Schöne. Und ich? Ich war der Ausgestoßene! Der Böse! Der Gefährliche!" Seine Worte waren voll Abscheu, Trauer und Zorn. Ich nahm seine Hand und drückte sie kurz. Er lächelte und küsste mich auf die Handinnenfläche und fuhr fort.
„Ja wie gesagt wir fühlten uns irgendwie verbunden und er entschied mit mir zu kommen. Es war ein langer beschwerlicher Weg zurück, aber wir redeten viel und stellen fest, dass wir ziemlich gleiche Ansichten über bestimmte Dinge hatten. Aber schon früh erkannte ich diese andere Seite an ihm. Sie war voller Kälte, Wut, Hass. Diese Charakterzüge bereiteten mir anfangs Sorgen, aber ich vergaß oder ignorierte sie schnell. In den Jahren in denen Cam und ich einander immer fremder geworden waren, wuchsen Nassim und ich zusammen. Hätte man mich vor die Wahl zwischen den beiden gestellt, hätte ich mich ohne zu zögern für Nassim entschieden. Ich wusste, dass er mir nicht gut tat. Ganz im Gegenteil! Wir tranken viel und lebten einfach so in den Tag hinein. Immer mit dem Wissen, dass dies eines Tages unser Untergang sein würde und als meine Mutter eines Tages kam und mich vor die Wahl stellte, war der Moment eingetroffen, den ich jahrelang versucht hatte zu verdrängen. Sie stellte mich vor die Wahl. Entweder ich würde mich von meiner Bruderschaft - den das war es inzwischen - zu Nassim lossprechen, oder ich wäre nicht länger ihr Sohn und damit auch kein Teil der Familie mehr. Es war die schwerste Entscheidung meines Lebens, das kannst du mir glauben. Mein Bruder war mir egal. Mein Vater auch. Aber meine Mutter... Meine Mutter war ein Engel und es tat mir weh, dass sie mich zu so etwas zwang. Einige Zeit war ich ziemlich verzweifelt und wusste nicht was ich tun sollte. Ich liebte meine Mutter. Ich liebte sie mehr als alles andere zu dieser Zeit. Nassim fand mich angetrunken in einer der Gassen meiner Stadt und dumm wie ich war, erzählte ich ihm alles. Er hörte mir zu und ich dachte er versteht mich. Tja falsch gedacht..." Adrien lachte bitter und ballte die Hände zu Fäusten.
„Er sagte mir, dass ich sie vergessen sollte. Sie seien es nicht wert. Und da bin ich ausgerastet. Wir prügelten uns und dabei entstand die Narbe in seiner linken Augenbraue. Er ist mit dem Gesicht in die Überreste meiner Bierflasche gefallen die ich nach ihm geworfen hatte. Alle Narben die wir vor unserer Verwandlung hatten, blieben."
Er rutschte ein Stück mit seinem Stuhl zurück und ließ meine Hand los. Dann nahm er sein Oberteil und zog es ein Stück nach oben. Neben seinem Bauchnabel war eine kleine längliche Narbe.
„Das ist passiert, als mein Vater mit einem Teller nach mir geworfen hat.", erklärte er.
Schockiert sah ich ihn an.
Er lächelte. „Ja, wie gesagt, ich bin nicht unbedingt der perfekte Sohn gewesen."
„Aber trotzdem. Warum macht man so etwas?", fragte ich entsetzt und meine Hand streckte sich automatisch und mit zitternden Fingern strich ich über den kleinen hellen Strich, der so gar nicht zu dem sonst so perfekten Adrien. Aber diese kleine Narbe zeigte, dass er alles andere war. Perfekt sah ganz anders aus...
Seine Brust war warm und seine Haut unter meinem Fingern wunderschön weich. Adrien sah mich an und suchte darin nach irgendetwas.
„Hast du Angst?", fragte er mich und schon hatten wir ein anderes Thema. Aber das war egal.
„Nein.", antwortete ich mit dünner Stimmte und fuhr erneut mit den Fingerspitzen über den Makel an seiner so wunderbar definierten Brust.
„Und warum zitterten deine Finger dann?", wollte er wissen und nahm seinen Blick nicht von mir.
„Ich... Ich... Tun sie doch gar nicht.", verteidigte ich mich leise, aber wir wussten beide, dass ich Angst hatte. Doch ich hatte keine Angst vor ihm! Ich hatte Angst vor dem wo das hier gerade hinführte! Angst vor den Konsequenzen, falls ich weiterging und meine Gefühle freiließ. Gefühle die ich viel zu lange schon verdrängt und nicht zugelassen hatte.
Dann nahm er meine Hand plötzlich in seine. Im ersten Moment wollte ich erschreckt zurückzucken, aber er hielt meine Hand so fest, dass ich nicht flüchten konnte. Dann führte er langsam meine Hand weiter unter sein Shirt und legte sie auf sein Herz.
Ich atmete schwer. Sein Herz pochte laut und gleichmäßig. Es war ein wunderschönes Gefühl.

Schwingen der NachtWhere stories live. Discover now