Notfall (überarbeitet)

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Der junge Mann fasste sich spielerisch mit der Hand aufs Herz. "Autsch! Der Wagen ist mein ganzer Stolz."

"Das glaube ich sofort. Nimm es nicht persönlich, aber dein Auto ist nicht ganz mein Fall.", versuchte ich mich zu entschuldigen.

"Ist nicht so schlimm. Lass ich dir durchgehen, weil du nen Dodge fährst und ich dich jetzt gerne auf einen Drink einladen würde. Ich heiße Noah.", stellte er sich vor. 

"Talia.", erwiderte ich nur knapp und lächelte. "Und solange es ein alkoholfreier Drink ist, habe ich nichts dagegen."

"Das ist selbsterklärend. Wir Fahrer müssen immerhin zusammenhalten.", er deutete dem Barkeeper, dass wir gerne noch zwei Energy hätten. 

"Da gebe ich dir Recht. Wie viele Leute musst du nachher in der Gegend verteilen?", fragte ich und hoffte so eine normales Gespräch zum Laufen zu bringen. 

Er stöhnte und fuhr sich durch die Haare. "Ähm... Vier meiner Jungs, du?"

"Nur meine beste Freundin." Aus dem Augenwinkel heraus, sah ich besagte Freundin gerade mit einem Typen an der Hand in Richtung Terrasse verschwinden. 

"Kann es sein, dass ich dich kenne?", lenkte Noah meine Aufmerksamkeit, wieder auf sich.

"Das musst du doch wissen. Ich für meinen Teil, kannte dich bis jetzt noch nicht.", erwiderte ich und musste über seinen lahmen Anmachspruch grinsen.

"Doch.", beharrte er. "Du bist doch häufig an der alten Bundesstraße. Du fährst Rennen. Daher kannte ich auch deinen Wagen."

Ertappt barg ich den Kopf in den Händen. "Gelegentlich findet man mich da."

"Ich wusste es! Ich wusste es in dem Moment, in dem ich dich auf den Parkplatz gesehen hab.", jubelte er und ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich jetzt freuen sollte, oder lieber nicht. 

Der Bass und die Musik wurden immer lauter und es war mittlerweile unglaublich schwer, seine eigenen Gedanken noch zu hören, daher war ich Noah echt dankbar, als er vorschlug, dass wir uns ein wenig nach draußen, auf die Terrasse setzen könnten. 

Stöhnend ließ ich mich auf einen der Korbsessel fallen und ließ den Blick über die Menschen gleiten. Sie schienen alle so unbeschwert, oder unglaublich betrunken. 

Als ich Noah winkend am Pizzastand erkannte, lächelte ich und winkte ebenfalls. Erst als sich ein Schatten, vor mich schob, blickte ich auf. 

"Was tust du hier?" Ein großer, unbekannter Mann versperrte mir die Sicht. 

"Bitte?" Ich versuchte ein Gesicht unter der tief sitzenden Kapuze zu erkennen, aber aus meinem Winkel heraus, schien das fast unmöglich. Wer war er? Was wollte er? 

Irgendwas war komisch an ihm. Ich konnte mir nur nicht erklären was es war.
Er warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. In seinen Augen lauerte etwas dunkles. Etwas gefährliches. Vielleicht war es auch nur so eine Ahnung. 

Der Kerl folgte meinem Blick zu Noah und dann musterte er mich wieder. "Du solltest hier weg. Der Typ ist gefährlich. Du hast ja keine Ahnung, für wen er arbeitet?"

Mein Kopf fing an zu rattern. Noah fuhr einen BMW, wie gefährlich konnte er schon sein? Für wen könnte er arbeiten? Gab es jemanden aus einem anderen Rennteam, den ich mal abgezogen hatte und der sich jetzt rächen wollte, weil ich sein Ego geknickt hatte? Nein,  niemals. Ich konnte mir keinen Reim auf seine Aussagen machen. 

"Wer bist du?", fragte ich und bildete mir ein, dass seine Augen eisblau waren. Aber nur für eine Sekunde. Danach schienen sie wieder so schwarz wie vorher. Was passierte hier gerade? Ich kam mir vor, wie im falschen Film.

"Das wirst du noch herausfinden. Ich verspreche dir, dass ich dir nichts Böses will!" Seine Stimme war fest und ich wusste, er sagte die Wahrheit. 

Das hier war doch absurd! Warum vertraute ich den Worten eines Fremden? Warum war ich mir sicher, dass er mir nichts tun würde? 

"Geh jetzt! Rette deine Familie! Traue niemanden! Sie sind hinter dir her!" Er sprach schnell und leise und trotzdem verstand ich ihn über den lauten Partylärm hinweg, als würde er genau neben mir stehen und seine Lippen an mein Ohr legen. 


"Machen dir die verschwundenen Mädchen denn gar keine Angst? Fürchtest du nicht das Wesen von dem alle reden? Immerhin ist heute Vollmond. Hast du keine Angst, dass du die nächste sein könntest, die er zu sich holt?" Seine Stimme wurde rau und tief. 

Im Stillen gab ich ihm Recht. Seit einigen Monaten verschwanden junge Frauen. Bei jedem Vollmond. Spurlos. Die Polizei war ratlos. In unserer kleinen Stadt sorgte das ganze Thema, für eine Menge Unruhe. Erst vor wenigen Tagen hatten sie eine angeblich blutleere Leiche gefunden. Es dauerte nicht lange, bis Die wildesten Theorien entstanden: Ein Serienmörder, eine Sekte, die Jungfrauen opferte, Satanisten und sogar das Wort Vampir, fiel im Zusammenhand damit. 

Das hier irgendetwas vorging, war nicht mehr zu leugnen. Aber bis jetzt hatte ich mir noch keine großartigen Gedanken darüber gemacht. Mein Alltag blieb derselbe. 

Aber die Art und Weise wie er über all das sprach, ließ mich glauben, dass an seinen Worten ein Fünkchen Wahrheit war. Und plötzlich, einem Instinkt folgend, zog ich mein Handy hervor und blickte auf den Bildschirm. Sechs entgangene Anrufe von Mary. Mary!! Meine kleine Schwester. Sie war heute alleine zu Hause!! Entsetzt sah ich den Fremden an. 

Aber er war weg. Als wäre er niemals da gewesen.

Noah, der in diesem Moment, mit einer Pizza wieder vor mir auftauche, sah mein kreidebleiches Gesicht und ihm fiel beinahe das Essen zu Boden. "Was ist passiert?"

"Ich muss los! Meine Schwester... Es gibt einen Notfall! Ich muss weg!", versuchte ich zu erklären und wartete gar nicht mehr auf seine Antwort, sondern mache mich auf die Suche nach Cassy. 

Ich fand sie auf dem Weg zum Ausgang, in der Mitte der Tanzfläche. Eng umschlungen mit einem attraktiven jungen Mann. 

Als sie mich sah, löste sie sich augenblicklich von ihm und kam mir entgegen. Sie erkannte die Panik in meinem Blick, ohne dass ich etwas sagen musste. 

Ich zeigte ihr die verpassten Anrufe auf meinem Handy und sie nickte nur. 

"Lia, fahr bitte vorsichtig. Es hilft keinem von euch, wenn du dich jetzt totfährst!", rief sie über die Lautstärke zu mir. 

"Ich versuche es!", schrie ich zurück.

"Geh! Lass mich wissen, wenn irgendwas ist. Ich finde dann schon einen Weg zu euch zu kommen!" Sie umarmte mich schnell und dann rannte ich los zur Garderobe.

Als ich sah, wie viele Leute da anstanden, drehte ich mich auf dem Absatz um und rannte aus dem Laden.

Aus diesem Grund hatte ich immer meinen Autoschlüssel in der Hosentasche. Ich öffnete meinen Dodge schon von weitem, riss die Tür auf, warf mich auf den Sitz und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz.

Schwingen der NachtWhere stories live. Discover now