Angekommen

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Die Angst war fort. Adrien saß neben mir, hielt meine Hand und ich fühlte mich wieder sicher. Sein Blick wanderte von mir nach draußen und zurück.
Er dachte an dasselbe wie ich. Wo war Cam?
Auch wenn ich mir momentan wünschte, dass er blieb wo der Pfeffer wuchs, machte ich mir doch Sorgen um ihn.
Wir waren einfach so gegangen. Und hatten ihn zurückgelassen. Obwohl Nassim dort irgendwo war.
Seufzend lehnte ich meinen Kopf an die Fensterscheibe und kühlte meine erhitzen Gedanken. Zumindest versuchte ich es. Aber klappen wollte es nicht so richtig.
Ich schaffte es nicht, den Kuss zu verdrängen. Es war als spürte ich noch immer Cams Lippen auf meinen. Auch wenn ich mir immer und immer wieder sagte, dass ER MICH geküsst hatte, erdrückte das schlechte Gewissen mich fast.
Am liebsten würde ich Adrien alles beichten. Jetzt. Auf der Stelle.
Doch die Worte wollten einfach nicht aus meinem Mund. Sobald unsere Blicke sich trafen, war alles weg und ich wusste, dass ich es nicht konnte.
Ich konnte es ihm nicht sagen. Wir waren gerade so glücklich und wenn ich ihm jetzt erzählte, dass Cam und ich... naja. Egal wie er reagieren würde, ich könnte es verstehen.
Es wäre dasselbe, wenn er zu Cassy ging und sie küssen würde. Selbst wenn er mir später versichern würde, dass es ihm nichts bedeutet hat, wäre es nie wie vorher. Es wäre nicht mehr das gleiche. Und aus diesem Grund brachte ich es nicht übers Herz, es ihm zu sagen.
Als hätte er meine Gedanken gehört, sah er mich besorgt an. „Geht es dir sicher gut? Du siehst nämlich eher aus, als würdest du gleich bewusstlos umfallen.", stellte er fest.
Ich lächelte matt und drückte mir unauffällig die Hand fester an die Brust. Es tat weh, aber ich wollte ihn nicht zusätzlich beunruhigen. Er machte sich auch so schon genug Sorgen um seinen Bruder. Da waren meine Probleme das Letzte was er gerade brauchte!
„Es geht mir..." Ich atmete kurz tief ein um vor Schmerz nicht das Gesicht zu verziehen, ehe ich mit gepresster Stimme weiterredete: „gut! Mach dir keine Sorgen!"
Er zog eine Augenbraue in die Höhe und sein Blick wanderte zu der Hand auf meiner Brust.
„Aha.", machte er nur und schüttelte leicht den Kopf.
Offenbar glaubte er mir nicht. Natürlich glaubte er mir nicht! Ich hätte mir ja selbst nicht geglaubt!
Danach füllte eine unangenehme Stille das Auto und ich merkte, dass Rafaels Blick auf mir lag. Mir war bewusst, dass er von mir erwartete, das ich Adrien die Wahrheit sagte, aber wie sollte ich das tun, verdammt? Ich schaffte es ja selber kaum meine Gedanken zu ordnen.
Weitere Minuten zerbrach ich mir den Kopf darüber nur um letztlich zu dem Gleichen Entschluss wie vorher zu kommen: Erst einmal würde ich gar nichts sagen!
Kurz erwiderte ich also seinen nervigen Blick und signalisierte ihm, dass ich wusste was er von mir wollte und jetzt also aufhören könnte.
Irgendwann war ich so müde von dem ganzen Grübeln, dass ich einfach die Augen schloss und keine Minute später eingeschlafen war.
Ich träumte. Und ich träumte schlecht.

Meine Füße trugen mich. Vor mir lief Cam und hielt meine Hand.
Panisch warf ich einen Blick zurück und stellte fest, das nicht Nassim uns verfolgte. Sondern Adrien.
Und da wusste ich, was passieren würde. Er würde uns sehen.
Augenblicklich stemmte ich meine Füße in den Boden und versuchte Cam zum Anhalten zu bringen. Aber weit gefehlt! Egal was ich auch probierte: Es war als wäre ich nicht länger Herr über meinen Körper. Ohne Einfluss beobachtete ich die Situation und konnte nicht einmal die Augen schließen oder ihm sagen, dass sein Bruder hinter ihm stand.
Und dann geschah wirklich genau das, wovon ich hoffte, dass es nicht passierte.
Ich brach zusammen und kurz darauf landeten Cams Lippen auf meinen. Panisch warf ich einen Blick nach hinten, während ich versuchte, unter dem schweren Körper rauszukommen.
Adrien, der uns eben noch gefolgt war, erstarrte nun an Ort und Stelle und seine Augen bohrten sich in meine. Schmerz sah ich darin. Und Enttäuschung.
Ich wollte seinen Namen schreien und ihm erklären, dass es nicht meine Schuld war. Aber Cam ließ mich einfach nicht los.
Der Schmerz in Adriens Blick verletzte mich in diesem Moment aber mehr, als alles andere. Er sollte das nicht sehen und warum unternahm er denn nichts? Man konnte doch sehen, dass ich das nicht wollte. Dass nicht ICH CAM küsste! Es war anders herum!
Dann verwandelte sich Cams Kuss plötzlich und statt der sonst so grünen Augen, blickten mich ein paar gelber an.
Und in der linken Augenbraue hatte er auf einmal eine kleine Narbe!
Als ich erkannte wer mich jetzt so begierig ansah, wurde mir schlecht und ich begann auf ihn einzuschlagen. Er sollte mich loslassen!
„Adrien!", schrie ich und keuchte unter Nassim nach Luft. Aber letzterer lachte nur, als Adrien den Kopf schüttelte und mich ansah. „Warum?", fragte er leise und da legte Nassim erneut seine Lippen auf meine, so dass ich nicht antworten konnte.
Ich hörte Schritte und sah, dass Adrien sich umgedreht hatte und ging.
„NEIN!", brüllte ich und zappelte wild unter Nassim.
„Geh runter von mir!", fuhr ich ihn an. „Adrien, ich kann das erklären!"
Aber an der Stelle an der eben noch gestanden hatte, war nur noch Dunkelheit.
Nassim lachte. „Jetzt bist du mein!" Dann nahm er meine Arme und drückte sie mir über den Kopf.
„Jahrzehnte lang, hab ich nach dir gesucht im Gegensatz zu ihm. Es ist nur fair, wenn ich mir das nehme, was mir zusteht.", behauptete er mit dunkler, rauer Stimme.
Das hier war nur ein Traum, erinnerte ich mich wieder und wusste was ich zu tun hatte.
„Das hier ist mein Traum!", flüsterte ich und lächelte. „Hier spielen wir nach meinen Regeln!"
Seine linke Augenbraue zuckte kurz nach oben. „Na dann versuch dein Glück, mein Engel!" Den belustigten Tonfall überhörte ich einfach und presste meine Lippen fest aufeinander, als seine sich wieder auf meine senkten.
Nachdem er festgestellt hatte, dass er da kein Glück hatte, fuhren seine Lippen mein Kinn und schließlich mein Schlüsselbein entlang.
Angewidert schloss ich meine Augen und versuchte die Welle der Angst zu verdrängen, die durch meinen Körper strömte.
„Ich habe viel zu lange gewartet!", wisperte er an meinem Ohr und ich biss mir auf die Zunge um ihm nicht zu zeigen wie viel Angst ich hatte.
Mein Traum. Meine Wünsche. Meine Vorstellungen!
Erneut senkte ich die Lider und stellte mir vor, wie ein plötzlicher Energieschub Nassim zurückschleuderte und drückte meine Hand gegen seine Brust.
Er lachte nur belustigt.
Doch das verging ihm ziemlich schnell, als er von mir gegen den gegenüberliegenden Baum geschleudert wurde.
Ich holte tief Luft und starrte erst auf meine Hand, dann auf ihn. Er sah mich genauso überrascht an und rappelte sich schnell wieder auf.
Auch ich kämpfte mich zurück auf die Füße. Ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Allerdings verfärbten sich seine Augen plötzlich rot und ich schauderte. Ich musste hier weg!
Also drehte ich mich um und rannte. So schnell mich meine Beine trugen.
Meine Lunge brannte und ich war am Ende meiner Energievorräte. Trotzdem musste ich weiter.
Keuchend bahnte ich mir einen Weg durch die fremden Straßen. Den Park hatte ich schon lange hinter mir gelassen.
Hinter mir hörte ich etwas und warf einen schnellen Blick zurück.
Nassim war knapp hinter mir! Dann warf mich jemand zu Boden und ich schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf.

Keuchend fuhr ich auf. Es war nur ein Traum! Nassim war nicht hier! Er hatte mich nicht berührt! Aber es hatte sich so echt angefühlt. Adriens Stimme hallte in meinem Kopf nach. Sein „Warum?" hatte sich so hilflos, so verzweifelt angehört, dass es mir noch jetzt schmerzte.
Meine Brust hob und senkte sich heftig, als ich mich aufsetzte und mir durch die Haare strich.
Orientierungslos sah ich mich um. Der Wagen stand. Der Motor war aus. Es dämmerte. Wir waren den ganzen Tag gefahren. Und ich hatte die ganze Zeit geschlafen.
Müde sah ich hinaus und versuchte zu erkennen wo ich war. Der Bentley parkte auf einem großen runden asphaltierten Hof. Auf der einen Seite des Wagens war ein riesiges Haus mit riesiger Fensterfront. Es sah ziemlich teuer aus.
Meine Aufmerksamkeit wurde jedoch von einem wunderschönen Licht aus der anderen Richtung gefordert. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, was es war.
Ein Sonnenuntergang. Der Himmel war eine Mischung aus rot, lila, pink, gelb und orange.
All die Farben spiegelten sich auf dem vielen ruhigen Wasser. Ja Wasser. Wohin das Auge reichte.
Ein kleines Stück groben Sand trennen die Wiese, die hinter diesem Innenhof begann und das Wasser voneinander.
Ich wusste nicht wohin Adrien mich dieses Mal „entführt" hatte, aber es gefiel mir.
Wahrscheinlich war das hier das Anwesen von dem Rafael gesprochen hatte. Doch das hieß ja, dass ich in Dänemark war... Das würde zumindest erklären, dass viele Wasser erklären, denn das wäre dann wohl die Nordsee.
Unten am Strand bemerkte ich eine dunkle Silhouette. Adrien stand mit den Händen in den Hosentaschen dort und beobachtete den Himmel.
Langsam öffnete ich die Autotür und stieg aus. Eine kühle, aber angenehme Temperatur  begrüßte mich und ich atmete tief ein. Die Luft war frisch und ein wenige salzig. Eine gute Mischung.
Vorsichtig ging ich zu Adrien und stellte mich einfach neben ihn.
„Schön nicht wahr?", fragte er leise ohne mich anzusehen.
„Das ist es.", antwortete ich ruhig und genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages in meinem Gesicht.
Irgendwann nahm Adrien meine Hand und zog mich ein Stück zu sich. Er legte von hinten seine Arme über meine Schultern und ich lehnte mich an seine Brust.
Für diesen Moment wollte ich nicht nachdenken. Nicht daran denken, wie ich ihm von dem Kuss erzählte.
Nein, ich wollte nur das hier und jetzt genießen.
Ich merkte wie er sein Kinn auf meine Schulter legte und mir einen Kuss auf die Wange hauchte.
„Wir sind angekommen.", flüsterte er und seufzte wohlig.

Schwingen der NachtWhere stories live. Discover now