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Er küsste mich.
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Noch vor wenigen Wochen, hatte ich mir gewünscht, dass genau das passierte. Das Cam mich küsste. Aus dem simplen Grund, dass er ganz anders als sein Bruder war. Vielleicht auch um zu vergleichen.
Aber jetzt?
Seine Lippen lagen warm auf meinen, aber in mir bewegte sich nichts. Es stoben keine Schmetterlinge auf und meine Gefühle begannen auch nicht verrückt zu spielen.
Da war einfach nichts.
Ich fühlte einfach nichts.
Aus diesem Grund presste ich meine Lippen auf einander und versuchte unter ihm herauszukommen.
„Cam!", sagte ich so laut es ging.
Aber eines musste ich ihm lassen: Er hatte es geschafft, dass ich wieder wach war. Um nicht sogar zu sagen, hellwach.
Wild strampelte ich mit den Beinen und trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust.
Dann riss uns jemand plötzlich auseinander.
Schweratmend rappelte ich mich auf und sah mich verwirrt um.
Ein paar Meter vor mir, konnte ich zwei dunkle Umrisse ausmachen und stolperte auf sie zu.
Oh bitte lass es nicht Adrien sein, dachte ich und betete im Stillen. Wenn Adrien uns gesehen hatte, wusste ich nicht wie ich reagieren sollte. Ich hatte Cams Kuss zwar nicht erwidert, aber ich hatte mich auch nicht gleich gewährt. Also war ich auch nicht ganz unschuldig.
Oh Gott was hatte ich nur getan?
Ich presste mir eine Hand auf die schmerzende Brust und ging auf die beiden Schatten zu.
Bitte lass es nicht Adrien sein, betete ich immer und immer wieder.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt, oder was?", schrie die eine Stimme und ich atmete erleichtert auf, als ich sie als Rafaels identifizieren konnte.
Es war nicht Adrien! Puhh. Ich atmete tief durch und näherte mich den beiden langsam. Aber ich musste gestehen, dass meine Brust ziemlich schmerzte.
Es war tiefste Nacht und daher hatte ich damit zu kämpfen irgendetwas deutlich sehen zu können. Doch nachdem ich einige Minuten auf die Stelle, auf der Cam und Rafael standen, gestarrt hatte, begannen meine Augen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Rafael hatte Cam am Genick gepackt und schüttelte ihn. Seine Augen leuchteten rot und ich konnte sehen, dass seine Zähne sich in messerscharfe Klingen verwandelt hatten. Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. Diese Seite an Rafael war mir unbekannt und ich war ehrlich gesagt auch nicht scharf darauf, sie näher kennenzulernen.
„Du weißt genau, dass sie deinem Bruder gehört!", knurrte er gefährlich.
„Und wo ist mein toller Bruder denn gerade bitte?", presste Cam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Er hat sich schön aus dem Staub gemacht und uns fast an Nassim ausgeliefert!"
Rafael fletschte die Zähne und packte Cam an der Kehle.
„Dein Bruder wollte immer nur das Beste für dich und wie dankst du es ihm? Du läufst mit ihr dem Feind in die Arme!", zischte er und Cam versuchte Rafaels Finger von seinem Hals zu lösen.
„Mein Bruder ist ein Monster! Eine egoistische Missgeburt! Sonst hätte er mich damals gefragt, ob ich auch zu diesem etwas werden will.", röchelte er und funkelte seinen Gegenüber böse an.
„Sag das noch einmal und ich verspreche, du bist nicht mehr als ein Häufchen Asche wenn ich mit dir fertig bin!" Rafaels Körper bebte und ich konnte sehen wie sich unter seinem Rücken etwas bewegte. Es waren seine Schwingen! Sie versuchten an die Oberfläche zu dringen!
Ich glaube mir wurde schlecht!
„Ich. Hasse. Meinen. Bruder!", spuckte Cam ihm ins Gesicht und ich schlug mir die Hand vor den Mund. In Cams Gesicht war nur Hass. Blanker, ehrlicher Hass.
„Er hat mir alles genommen! ALLES!", brüllte er und blickte Rafael provozierend an. Ein gequältes Lächeln verunstaltete seine Lippen.
„Und deshalb küsst du sie?", frage Rafael und warf einen schnellen Blick zu mir. „Du weißt wie viel sie deinem Bruder bedeutet und es ist dir egal was für Folgen, dein Handeln für sie haben könnte?"
Als Cam nicht antwortete und mich stattdessen nur leer ansah, war die Sache klar und ich stolperte entsetzt zurück. Wie konnte ich mich so in ihm getäuscht haben? Ich dachte er wäre mein Freund! Mein Verbündeter in dieser fremden Welt voller Dämonen.
Es tat weh der Wahrheit so ins Gesicht blicken zu müssen.
„Mir bedeutet sie auch etwas, aber ich habe nie eine Chance gegen Adrien! Er nimmt sich was er will und wie es mir dabei geht, ist ihm doch scheißegal!", verteidigte Cam sich und zappelt unter Rafaels Griff.
Dann ging alles ganz schnell: Rafael brüllte bestialisch, seine Schwingen schossen aus seinem Rücken hervor und ich schrie laut als er sich auf Cam stürzte.
Ich sah wie beide über die Wiese rannten und wie Rafael Cam zu Boden warf. Ab und zu konnte ich entweder ein paar rot- oder grün leuchtender Augen in der Dunkelheit aufblitzen sehen.
Ich wusste, dass ich etwas unternehmen sollte. Aber die Angst ließ mich Wurzeln schlagen und so schaffte ich es nicht, mich auch nur einen Schritt zu bewegen.
Obwohl Cams Verrat schmerzhaft gewesen war, sorgte ich mich um ihn. Rafael war so schon ein guter Kämpfer, ich wollte mir also nicht vorstellen wie es war gegen ihn in seiner Schattenschwingen-Gestalt kämpfen zu müssen.
In regelmäßigen Abständen drangen Beleidigungen und Schmerzenslaute zu mir durch und nach viel zu langer Zeit stieß Rafael einen spitzen Schrei aus, der mir durch alle Knochen drang.
Ich presste mir die Hände auf die Ohren und sank in die Knie. Mein Körper zitterte und ich wollte nur noch hier weg.
Immer noch hoffte ich, dass das hier nur ein böser Traum war und ich gleich aufwachte und meinen nervigen Wecker nahm und gegen die Wand pfefferte.
Aber ich sollte es inzwischen besser wissen.
Irgendwann spürte ich eine Berührung an meinem Kopf und sah, mit einem Gesicht voller Tränen, auf.
Adrien blickte mir besorgt entgegen und ich sprang ihm schon fast in die Arme.
„Es tut mir leid.", flüsterte er an meinen Haaren und strich mir beruhigend über den Rücken.
„Das war ein ganz doofer Plan von mir."
Ich klammerte mich an ihn und weinte lautlos. Ich war doch die Person die sich entschuldigen musste. Immerhin hatte ich Cam geküsst. Aber sollte ich es ihm überhaupt sagen.
Es würde Folgen haben und zwar nicht nur für Cam.
Hinter uns hörte ich Schritte, doch ich wollte mich nicht umsehen. Ich wollte nicht wissen wer es war.
„Wo ist mein Bruder?", fragte Adrien.
„Fort!", antwortete Rafael und ich atmete tief durch.
„Talia." Adrien löste sich ein wenig von mir und sah mich ernst an. „Was ist passiert?"
Ich konnte es ihm nicht sagen. Also brach ich wieder in Tränen aus und stammelte irgendein unverständliches Zeug. „Es tut mir leid... Ich... Ich wollte das nicht... Aber... Nassim... Ich... Angst... Und... Einfach passiert."
Adrien seufzte und umarmte mich erneut.
„Wir sollten hier trotzdem weg.", meinte Rafael als hinter uns im Gebüsch etwas raschelte und Flügelschlagen über uns ertönte. Es konnte ein Vogel sein, oder etwas anderes... Herausfinden wollte ich es nicht unbedingt, daher gab ich Rafael im Stillen Recht.
„Er ist noch hier und ich bin nicht begierig darauf ihm zu begegnen." Rafael schüttelte den Kopf und mir fiel auf, dass er ohne Oberteil herumlief, seine Schwingen aber bereits wieder verschwunden waren. An seiner Lippe klebte etwas Rotes und auf seiner makellosen Brust war ein langer Roter Kratzer. Cam hatte ihm also doch ganz schön zugesetzt.
„Kannst du gehen?", wollte Adrien von mir wissen und ich nickte schwach.
„Gut." Er nahm meine Hand und gemeinsam gingen wir hinter Rafael zur Straße. Während wir kreuz und quer durch den dunklen Park liefen, brannten sich unzählig viele Blicke in meine Haut.
Schon weniger Meter bevor die Straße in Sicht kam, bemerkte ich Licht und kurz darauf sah ich, dass am Wegrand eine Hand voll von Adriens Leuten standen und aufatmeten, als sie uns sahen, sie sicherten die letzten Meter bis zum Auto für uns ab und behielten die Umgebung im Auge.
Die Erleichterung machte sich mit einer Welle von Erschöpfung bei mir bemerkbar und jeder Schritt fiel mir schwerer.
Kurz bevor ich den ersten Schritt auf den rettenden Asphalt der Straße setzte, zog ein starker Wind auf und löschte alles Licht in der Umgebung.
Mein Herz rutschte mir in die Hose und ich krallte mich an Adrien.
Um uns herum wurden Kommandos gebrüllt und ich barg meinen Kopf an seiner Brust, als der Wind immer stärker wurde.
Adrien legte seine Arme um mich und wickelte mich mit seinem Mantel ein. Es vertrieb meine Angst nicht, aber ich fühlte mich zumindest ein klein wenig geschützter.
Es war totenstill und ich konnte nicht einmal meine eigene Hand vor Augen sehen.
„Das nächste Mal entkommst du mir nicht, Prinzessin.", hallte auf einmal eine Stimme irgendwo in der Nähe und lachte danach leise.
Ich keuchte und begann erneut zu zittern. Ich wollte nur noch hier weg.
Mir war auch egal wohin, nur weg von hier. Ganz, ganz weit weg!
Danach war das ganze Schauspiel wieder vorbei. Die Straßenlaternen gingen wieder an und in einer Seitenstraße um die Ecke ging die Alarmanlange eines Autos an. Es war als wäre nie etwas gewesen.
Adrien küsste mich auf den Scheitel und versicherte mir, das alles gut werden würde. Aber davon war ich nach heute nicht mehr wirklich überzeugt.
Dann bugsierte er mich bestimmt und zugleich sanft auf den Rücksitz eines unbekannten Bentleys und setzet sich selber neben mich. Rafael beanspruchte den Platz uns gegenüber.
„Was ist mit Cam?", fragte ich als der Wagen sich in Bewegung setzte. Vor uns fuhr ein großer Chevrolet Geländewagen und hinter uns ebenfalls.
Adrien und Rafael tauschten einen Blick. Wusste er es etwa? Dass Cam und ich...
Vorsichtig sah ich zu Rafael, er schüttelte ganz leicht den Kopf. Adrien hatte also keine Ahnung... Ich musste mir noch überlegen, ob ich ihm das ganze überhaupt erzählen sollte.
„Ich weiß es nicht.", antwortete Adrien nur.
„Wie du weißt es nicht?" Erschrocken blickte ich zu ihm.
„Er wusste, dass wir uns hier treffen. Wenn er nicht kommt, ist das sein Problem. Er ist alt genug, sich selber zurecht zu finden.", meinte er kalt und griff über mich zu meinem Sicherheitsgurt. Dann schnallte er mich an.
Leise bogen wir auf die Landstraße. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen und ein neuer Tag beginnen.Ein Tag voller Geheimnisse und Ausflüchten.
Ein Tag in dem ich entscheiden musste, ob ich Adrien erzählte was passiert war oder nicht.
Denn eines wusste ich: Er würde nicht locker lassen, bis er die Wahrheit erfuhr.
Und da sollte er sie lieber von mir als von Rafael erfahren...

Hallo liebe Freimde,
So das neue Kapitel ist da und ja es hat länger gedauert als geplant und das tut mir leid.
Aber ich möchte mich ganz kurz bei drei Leuten bedanken, denn ich habe (wie der ein oder andere mit Sicherheit gesehen hat) beim letzten Kapitel die drei längsten Kommentare seit aller Zeit bekommen und das kann ich immer noch kaum glauben, was da geschrieben wurde. Daher vielen Dank an:
LaTaNiLa
silverstorys
Und cupcakemaus
Fühlt euch gedrückt und geherzt. Hab mich mega gefreut.
Eure

Anna-Lena

Schwingen der NachtWhere stories live. Discover now