Der Fremde

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Cam sollte tatsächlich Recht behalten. Ich schaffte es nicht lange ruhig im Bett zu bleiben. Genauer gesagt, keine drei Tage. Irgendwann fingen meine Beine an fast schon nach Bewegung zu schreien. Aber Cameron UND Adrien waren der Meinung, dass ein Spaziergang noch nichts für mich wäre. Sie hatten Angst, dass meine Nähte aufreißen und ich ganz unbemerkt wieder an meinem eigenen Blut ersticken könnte. Was natürlich totaler Schwachsinn war. Der Satz „Ich rufe laut um Hilfe" kam im Wortschatz der beiden wohl nicht vor. Gestern hatte ich es dann nicht mehr ausgehalten und war trotzdem einfach aufgestanden, als Adrien kurz zum Telefonieren vor die angelehnte Zimmertür gegangen war. Anfangs war mir ziemlich schlecht geworden und meine Bauchdecke zog unangenehm, aber nachdem ich mir die Nadel aus dem Arm gezogen hatte ging alles einwandfrei. Die Kabel waren lang genug, außerdem hatte ich nicht vor einmal zum Nordpol und zurück zu rennen.
Also ging ich auf wackeligen Beinen zur Balkontür und öffnete sie. Doch wenn ihr mir eins glauben könnt, dann das selbst diese vier Meter einem Marathonlauf glichen. Mein Herz raste und die Welt drehte sich. Langsam und schwer atmend tapste ich auf den Balkon und lehnte mich auf das Geländer.
Die frische Luft tat gut und füllte meine Lungen. Entspannt schloss ich die Augen und konzentrierte mich einfach nur auf meine Atmung. Die Krankenhausluft hatte schon gedroht mich zu ersticken. Aus diesem Grund genoss ich das gerade noch viel mehr. Vogelzwitschern drang an meine Ohren und der milde Wind strich leicht um meine Nasenspitze. Es war kaum zu glauben, wie sehr ich dieses Gefühl vermisste.
Allerdings endete der Moment viel zu schnell, denn Adrien hatte offenbar sein Telefonat beendet, war zurück ins Zimmer gekommen und hatte das Bett leer vorgefunden.
Schimpfend trug er mich zurück ins Bett und rief sofort Cam an. Dieser war innerhalb von wenigen Minuten bei uns und untersuchte mich genauestens.
Schweigend hatte ich dem Vortrag der beiden gelauscht und fragte dann lediglich, ob sie jetzt fertig seien. Keine Sekunde später, bereute ich meine Frage jedoch bereits wieder, da Adrien noch lauter wurde und mir etwas von Sorgen, Angst, Gesundheit und Tod erzählte. Er war sogar so laut, dass eine Schwester die Sicherheitsleute rief. Das Missverständnis hatte sich natürlich schnell aufgeklärt und Adrien sich wieder beruhigt. Auch wenn ich in seinen Augen sah, dass er mich am liebsten in einen mit Watte befüllten Kokon gesteckt hätte. Aber Gott sei Dank hatte ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden.

„Adrien?", fragte ich am Abend des vierten Tages. Er saß an dem kleinen Tisch in meinem Zimmer und las Zeitung. Das hieß, er tat zumindest so. Nach der Aktion gestern war er nicht mehr fort gewesen. Nicht einmal um auf die Toilette zu gehen. Das war wohl einer der Vorteile wenn man nicht menschlich war.
Er blickte auf. „Hm?"
„Geh!", forderte ich ihn auf. Seine Hände zitterten und seine Kiefermuskeln waren schon eine Zeit lang angespannt.
Fragend sah er mich an. Aber wir wussten beide ganz genau was ich meinte.
„Geh!", wiederholte ich also nochmals.
Er sprang schon fast auf die Füße. „Nein!", sagte er etwas zu schnell. „Vergiss es! Ich lass dich hier nicht alleine."
Ich stöhnte. „Verdammt Adrien. Das ist ja auch echt süß von dir, aber ich sehe doch dass du leidest. Wie lange hast du... nichts mehr zu dir genommen?" Das Wort „gegessen" brachte ich nicht über die Lippen.
Er schloss die Augen und atmete tief durch. „Drei Tage.", antwortete er dann.
„Worauf wartest du dann noch?", fragte ich und machte mit den Händen eine wegscheuchende Handbewegung.
Unentschlossen stand er vor mir. Ich könnte ihn erwürgen.
„ADRIEN!", rief ich schon fast. „Sieh zu dass du wegkommst!"
„Okay!" Ergeben hielt er die Hände über den Kopf. „Aber nur wenn du mir versprichst, genau hier liegen zu bleiben. Du stehst nicht auf. Du denkst nicht einmal daran. Und wenn jemand kommt der dir komisch vorkommt schrei ganz laut. Ich bleibe auf dem Gang. Lass niemanden außer Cam an deine Geräte oder Medikamente.", zählte er auf.
Ich verdrehte nur die Augen. Aber wenn er nicht einmal etwas aß um mich nicht aus den Augen zu lassen, hieß dass das die Situation nicht wirklich lustig war. Auch, dass er nicht wollte, dass jemand anderes als Cam an mich durfte, sprach dafür, dass hinter den schützenden Krankenhaustüren jemand auf uns - oder mich - wartete.
„Verstanden.", willigte ich ein und es dauerte keine Sekunde länger, bis er aus dem Zimmer verschwunden war.  Natürlich hatte er Hunger.
Die Anzeichen waren allerdings auch ein bisschen sehr offensichtlich gewesen.
Kopfschüttelnd griff ich nach meinem Buch. Cam hatte es mir heute Morgen gegeben, damit ich mich ein wenig ablenken konnte. Bis jetzt hatte ich noch nicht die Zeit gefunden es mir genauer anzusehen. Auf dem Cover war das Foto von einem Wald und ein Mädchen in einem blauen Kleid und kurzen hellen Haaren lief geradewegs auf den Waldrand zu. Wechselwald war der Titel des Fantasyromans. Schnell überflog ich den Klappentext auf der Rückseite. Klang spannend, beschloss ich und begann meine Nase zwischen die Seiten des ersten Kapitels zu stecken.
Als ich nach den ersten sechzig Seiten, das Buch zuklappte, war es draußen bereits dunkel und Adrien noch immer nicht zurück. Sollte ich mir Sorgen machen? Nein, er war alt genug und konnte auf sich aufpassen. Oder? Ich hoffte es.
In diesem Moment klopfte es an der Zimmertür und ich verspannte mich. Adrien würde nicht klopfen. Aber meine Bedenken waren vollkommen unnötig, da Cam den Kopf zur Tür hineinsteckte und sagte er wolle noch einmal meinen Verband wechseln.
Suchend glitt sein Blick durch den Raum. „Wo ist Adrien?", fragte er dann.
„Essen.", antwortete ich knapp.
„Und seit wann?", wollte er weiter wissen.
„Ähm...", machte ich. Ich wusste ja nicht wie viel Uhr es war.
„Wie spät ist es denn?", stellte ich die Gegenfrage.
Cam warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. „Halb zehn."
„Oh.", brachte ich dann nur hervor. „Er ist gegen sieben aufgebrochen."
Jetzt machte Cam nur „Oh."
„Solange braucht er normalerweise nie.", fügte er noch hinzu und jetzt begann ich doch mir Sorgen zu machen.
„Ich werde mal nach ihm suchen. ABER erst wechseln wir deinen Verband.", stoppte er meine Euphorie.
Schade ich hatte gehofft heute drum herum zu kommen, da es jedes Mal ziemlich schmerzte, wenn er einen neuen Verband anpasste und festzog.
„Glaubst du ihm ist etwas passiert?" Ich versuchte mich von den Schmerzen abzulenken und biss mir während dem fragen auf die Lippe.
Cam sah kurz zu mir hoch. „Ich hoffe es nicht."
Er befürchtete etwas. Und irgendetwas verschwieg er mir. Sonst würde er meinen Blick jetzt nicht so meiden.
„Cam. Ich merke, dass da noch mehr ist. Du weißt doch etwas.", behauptete ich mutig.
„Ich weiß gar nichts, okay? Das sind Adriens Angelegenheiten nicht meine. Ich habe früh genug gelernt mich da raus zu halten. Das gibt nur Ärger.", brauste er auf. Sofort verstummte ich.
„Entschuldige bitte.", bat er nachdem er fertig war und sich im Bad die Hände wusch. „Ich mache mir auch nur Sorgen. Es war nicht fair von mir, dich so anzumeckern."
„Schon okay.", tat ich es ab und legte mich zurück in die Kissen. Der neue Verband drückte ziemlich.
„Ich werde mach nach ihm sehen.", entschied er und zog sich seine Jacke über. Draußen gewitterte es mittlerweile heftig.
„Danke.", erwiderte ich matt und beobachtete, wie er aus dem Zimmer verschwand. In der letzten Zeit war Cam irgendwie öfters schlecht gelaunt oder so aufbrausend wie eben. Lag es vielleicht an dem was zwischen Adrien und mir vorgefallen war?
Möglich wäre es.
Ich gähnte und knipste das Licht auf meinem Nachtisch aus. Allerdings nicht ohne vorher meine tägliche Tablette mit einem Schluck Wasser hinter zu spülen.
Danach legte ich mich entspannt in die Kissen und rollte müde zur Seite. Draußen pfiff der Wind und die Bäume griffen erfolglos mit ihren Ästen nach der stärkeren Macht.
Ab und zu erhellte ein Blitz den schwarzen Nachthimmel. Wo war Adrien nur? War ihm etwas zugestoßen? Daran wollte ich gar nicht denken.
Erschöpft schloss ich die Augen und öffnete sie kurze Zeit wieder.
Das erste was ich sah, war der dunkle Schatten am Fenster.
Und es war nicht Adriens.
Augenblicklich erstarrte ich. Fast gelbe Augen blickten mich durchdringend an. Ich schluckte. Es war als wäre mein Körper vor Angst erstarrt. Regen lief ihm durch einst braune Haare die der Regen allerdings fast schon so schwarz aussehen ließ wie die Nacht die ihn umgab. Erneut erhellte ein Blitz den Himmel und ich konnte die Narbe in seiner linken Augenbraue sehen.
Wer war er? Die Angst lähmte mich. Ich wollte schreien. Laufen. Aber ich konnte nicht. Langsam setzte ich mich auf. Die Augen folgten meinen Bewegungen. Vorsichtig strich ich  mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Begierig und Neugier lag in dem Blick meines Gegenübers. Uns trennte nur das dünne Glas des Fensters. Wenn er mir etwas hätte antun wollen, hätte er es längst getan, oder? Bestimmt. Aber wer war er dann?
Der Fremde legte den Kopf schief und sah mich an. Er war schön. Und da bemerkte ich die dunklen Schatten hinter seinem Rücken. Es waren Schwingen. Schattenschwingen.
Ich hielt die Luft an.
Plötzlich riss jemand meine Zimmertüre auf und ich atmete erleichtert ein, als ich sah, dass es Adrien war. Auch er war von oben bis unten nass. Hinter ihm tauchte Cam auf. Die beiden sahen alarmiert aus.
Verwirrt blickte ich zurück zum Fenster. Der Unbekannte war fort.
„Wir müssen hier weg?", fragte Cam aufgebracht.
„Nein!", entschied Adrien scharf. „Das schafft sie nicht." Er deutete auf mich.
„Was ist denn passiert?", wollte sein Bruder wissen und ich warf erneut einen Blick zum Balkon. Hatte ich mir das alles vielleicht nur eingebildet?
„Nassim.", sagte Adrien dunkel und seine Stimme war schwer, wegen dem Haas der daraus sprach. „Er ist hier."
Cam wollte etwas erwidern, aber ich fuhr dazwischen.
„Ich weiß.", flüsterte ich und sah zum dritten Mal nach draußen in die Nacht. „Er war hier."
Ich wusste jetzt wer der Fremde war...

Schwingen der NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt