Macht der Natur

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Der Wind war kälter als ich gedacht hatte.
Der Sommer war ein absoluter Reinfall in diesem Jahr gewesen und der Winter versprach ziemlich kalt zu werden.
Ich fröstelte und zog unwillkürlich meine Stickjacke enger, als ich erneut von einer eisigen Böe erwischt wurde.
Verträumt strich ich mir mit dem Daumen über die Unterlippe und dachte an Adrien.
Ich wusste, dass ich ihn liebte. Wir wussten es beide.
Vorhin hatte ich es ihm sagen wollen. Der Moment war mehr als perfekt gewesen um ihm zu sagen, was ich fühlte, doch Adrien hatte anders reagiert als ich es mir erhofft hatte.
Denn bevor ich die drei magischen Worte überhaupt aussprechen konnte, hatte Adrien mich mit ernster Miene daran gehindert.
Er hatte gesagt, dass er gerne hören würde, wie ich den Satz sagte. Doch ich durfte es nicht. Noch nicht jedenfalls.
Wir müssen warten bis wir Nassim geschlagen haben. Bis er uns nichts mehr anhaben kann. Bis er uns nicht mehr trennen kann. Verstehst du das?, hatte Adrien gesagt. Und auch wenn es Sinn machte, was er gesagt hatte, so wollte ich nicht begreifen, warum.
Ich verstand nicht warum er sich solche Sorgen machte.
"Ich kann dich nicht mehr beschützen, wenn ich nur ein Mensch bin.", erklang just in diesem Moment seine Stimme sanft hinter mir.
Schnell kämpfte ich die Tränen zurück die sich in meinen Augen gesammelt hatten und verschränkte die Arme vor der Brust.
Das Gesicht hielt ich weiter in den kalten Wind.
Er seufzte hinter mir und ich sah in der Spiegelung der Glastür, dass er sich an die Wand gelehnt hatte und mich ansah.
Ich konnte seine Augen zwar nicht sehen, aber ich könnte wetten Bedauern darin zu lesen.
"Denkst du es interessiert mich ob du mich beschützen kannst?", fragte ich traurig und beobachtete wie die Blumen sich unter der Kraft des Windes bogen.
"Ich weiß, dass es dich nicht interessiert.", schmunzelte er. "Aber für mich ist es nun mal sehr wichtig. Wenn dir etwas passiert nur weil ich ein schwacher Mensch bin, ist das ein Fehler den ich mir niemals verzeihen könnte."
Ich machte ein abfälliges Geräusch und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
"Es tut mir leid, dass ich dich damit verletzte, aber ich mache das alles nur zu deiner Sicherheit. Irgendwann wirst du es verstehen.", meinte er und steckte die Nase in den Wind.
"Ich will es gar nicht verstehen.", schniefte ich und merkte wie mir doch wieder die Tränen hochkamen. "Wir haben eine 50 Prozent Chance, dass Nassim zerstört wird oder zumindest auch zum Menschen wird, wenn ich dir..." Ich schluckte und suchte nach den richtigen Worten um ja nichts falsches zu sagen.
"...diesen doofen Satz sage!", beendete ich schließlich und verdrängte den Schmerz in meinem Inneren.
"Damit bleiben 50 Prozent Risiko. Und das sind 50 Prozent zu viel.", sagte er und strich sich kurz übers Gesicht.
Er hatte Recht: Ich verstand das alles nicht. Aber offenbar war er auch nicht gewollt es mir zu erklären. Und das machte mich wütend. Ja, ich war wütend. Und ich schämte mich.
Ich hatte ihm meine Liebe gestehen wollen und er hatte mich weggestoßen.
Bei dem Gedanken an seine Reaktion, rollten mir doch ein paar Tränen über die Wangen. Doch ich hatte nicht die Kraft sie fortzuwischen. Er sollte ruhig sehen, wie es mir ging. Auch wenn ich wusste, dass er seine Entscheidung nicht zurücknehmen würde. Und selbst wenn er es doch tun sollte, dann wusste ich nicht ob ich noch einmal den Mut aufbringen konnte um ihm zu sagen, dass ich ihn liebte.
"Talia!", flüsterte er hinter mir und ich konnte den Schmerz in seiner Stimme hören.
"Weißt du wie lange ich mit mir gekämpft habe um zu dieser Entscheidung zu kommen? Weißt du wie lange ich überlegt habe deine Frau zu werden? So oft habe ich daran gedacht einfach zu gehen. Mich aus dieser Welt rauszuhalten. Aus diesem ganzen Mist hier! Es wäre so leicht, all dem hier den Rücken zu kehren und keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden. Es würde mir wahrscheinlich nicht einmal schwerfallen. Ich bin gut darin Sachen zu ignorieren und den Schmerz zu verdrängen, der droht mich zu zerfressen. Da würde es auf diesen einen mehr auch nicht ankommen.", erklärte ich leise und sah in der Scheibe wie Adrien den Blick abwandte und die Zähne zusammenbiss. Die Muskeln an seinem Kiefer zuckten kurz.
"Und weißt du warum ich geblieben bin?", fragte ich und drehte mich zu ihm um. Auf meinen Wangen lag eine zarte Röte, während meine Augen glasig von den Tränen waren die mir langsam über das Gesicht liefen.
"Wegen dir." Mein Herz schmerzte als ich ihn ansah und es schmerzte noch mehr, als er meinen Blick suchte und still blieb.
Gerade als ich mich abwenden und gehen wollte, fand er offensichtlich seine Stimme wieder. "Ich weiß, dass ich jetzt sagen kann was ich will, es wird es nicht besser machen." Er stoppte und sah mich sanft an. "Mir bedeutet es unglaublich viel, dass du es sagen wolltest. Es tut mir leid, wenn ich dich mit meiner Abweisung verletzt habe, aber der Moment wird kommen, in dem du es sagen darfst. Und ich werde dich nicht daran hindern. Wir durchleben gerade gefährliche Zeiten, da kann einem jedes Wort zum Verhängnis werden. Gerade Sätze die so viel Macht in sich bergen."
Ich schluchzte und barg kurz das Gesicht in den Händen. "Dann war ich jetzt wohl diejenige die überreagiert hat, oder?" Schief lächelte ich unter meinen Tränen hindurch.
Adrien schmunzelte. „Ich würde sagen, du hast intuitiv gehandelt. Und ich deine Reaktion berührt mich zutiefst. Es zeigt mit, dass du es ehrlich gemeint hast."
„Weißt du, dass du echt ein Genie bist, wenn es darum geht, Sachen angemessen zu umschreiben?", fragte ich und ging nicht weiter auf seine Aussage ein.
„Und du bist echt ein Genie, wenn es darum geht vom Thema abzulenken.", behauptete er lächelnd.
Ertappt sah ich ihn an.
Doch er lachte nur. „Ich durchschaue dich genau, meine Liebe."
„Das ist wohl offensichtlich." Ich verzog das Gesicht und wartete bis er sich wieder beruhigt hatte.
Als sein Lachen schließlich verstummt war, sah ich ihn ernst an. „Fertig?"
Er nickte, nahm meine Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Entschuldige bitte."
Bei seiner Geste stieg mir erneut die Röte ins Gesicht und ich blickte schnell in eine andere Richtung.
„Lass uns reingehen.", bat ich und versuchte mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.
„Steht unser Plan denn nicht mehr?", fragte er und schnitt mir den Weg nach drinnen ab.
„Welcher Plan?", stellte ich verwirrt die Gegenfrage und versuchte an ihm vorbei zu kommen. Aber da er den ganzen Türrahmen ausfüllte, war es so gut wie unmöglich einen Weg an ihm vorbei zu finden.
„Du und ich und ein langer Spaziergang durch den Wald.", erinnerte er mich und da kam wir wieder in den Sinn, was er gesagt hatte, als Chris und er sich kennengelernt hatten.
„Oh.", machte ich nur. „Dann hole ich mir nur schnell etwas anderes zum Anziehen."
Ein Lächeln legte sich erneut auf seine wunderschönen Lippen. „Sehr gut. Wir wollen ja nicht, dass du erfrierst."
Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande und schlüpfte schnell unter ihm hindurch ins Haus.
Oben zog ich einen dunklen Pullover über und tauschte meine Socken gegen dickere. Dann stürmte ich wieder nach unten und sprang förmlich in meine Schuhe.
Eilig schlüpfte ich in meine Jacke und warf noch kurz einen Blick in den Spiegel, bevor ich zurück zu Adrien lief.
Dieser stand auf der Terrasse und beobachtete die Umgebung. Er hatte eine schwarze Lederjacke übergezogen und ebenfalls seine Schuhe getauscht. Ein blauer Schal zierte seinen schmalen Hals.
Der Wind spielte mit seinen Haaren und ich musste mich mehrmals ermahnen, ihn nicht so anzustarren, während ich meine Schnürsenkel zuknotete.
Aber es fiel mir echt schwer. Ein gewisser Stolz breitete sich in mir aus, als ich ihm so zusah. Immerhin konnte ich ihn „Mein" nennen und das war mehr, als ich mir jemals zu träumen gewagt hätte.
Langsam richtete ich mich auf und verharrte ein paar weitere Minuten. Er war einfach nur schön.
Und obwohl er einfach nur dort stand, strahlte er eine solche Autorität aus, dass mir fast schwindelig wurde.
Es schien nicht, als würde der Wind gegen ihn prallen wie bei jedem anderen Menschen. Nein, es sah aus als wäre er ein Teil davon. Adrien schien ein Teil von ihm zu sein. Die Böen fuhren um ihn herum und zollten ihm ihre Anerkennung. Es war beeindruckend. Mehr als das.
„Okay. Bin da.", sagte ich und stolperte über die Schwelle nach draußen, als würde ich gerade erst kommen. Schnell überwand ich die Meter zwischen uns und stellte mich neben ihn.
„Ich hab Jake schon Bescheid gesagt, damit er sich keine Sorgen machen muss.", erklärte er und ließ seinen Blick über mich wandern.
Um seiner neugierigen Musterung zu entkommen, hakte ich mich frech bei ihm unter und sah zu ihm empor.
Seine Augen glitzerten und das sonst so ozeanblau seiner Iris wirkte ein wenig stürmisch wie der Himmel über uns.
Adrien lächelte und zog mich noch ein Stück näher an sich, dann nahm er meine Hand und steckte sie gemeinsam mit seiner in seine Jackentasche, als wir Kurs auf den Wald nahmen.
Aus dem Nachbargrundstück hörten wir ein lautes Klopfen und als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, sah ich, dass Chris auf dem Dach der demolierten Scheune saß und versuchte die letzten vorhandenen Dachziegel zu befestigen.
„Hoffentlich hält er sich gut fest, bei dem Wind.", sprach ich meine Gedanken laut aus und schluckte, als ich Chris sich aufrichtete und ungesichert auf dem Dach herumlief. Der Wind riss an ihm und er wankte mehrmals um sein Gleichgewicht wieder zu finden.
„Ihm wird schon nichts passieren.", winkte Adrien ab. „Und selbst wenn, ich fahre dich gerne zu seiner Beerdigung."
„Adrien!", rief ich entrüstet und wollte meine Hand aus seiner Jackentasche ziehen, aber er hielt sie fest.
„Das ist nicht witzig.", schimpfte ich und sah ihn böse an.
„Find ich schon.", verteidigte er sich ernst und blickte an mir vorbei.
Ich schüttelte den Kopf und zog ihn weiter, bevor er noch so einen idiotischen Spruch lassen konnte.
Der Wald war dunkel und nass. Es war also die richtige Entscheidung gewesen einen Pullover und die Jacke anzuziehen.
Gemeinsam marschierten wir ohne einen wirklichen Plan drauflos. Wobei nur für mich galt, dass ich keine Ahnung hatte wo wir lang liefen. Für mich sah alles ähnlich aus und ohne Adrien wäre ich wahrscheinlich aufgeschmissen.
Das Moos unter unseren Füßen machte bei jedem Schritt komische, saugartige Geräusche über die ich mich anfangs ziemlich amüsierte. Allerdings rutschte mir mein Lachen aus dem Gesicht, als Adrien auf einmal verschwunden war.
Ich war mir sicher, dass er nicht weit gekommen war und mich sicher nur erschrecken wollte, aber trotzdem fand ich die Situation alles andere als amüsant.
„Adrien?", fragte ich leise und drehte mich schnell herum, als hinter mir etwas knackste.
„Das ist nicht lustig!", rief ich und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
Plötzlich flog etwas Schwarzes auf mich hinab.
Ich schrie laut und hob abwehrend die Hände über den Kopf.
Adriens lautes Lachen gab mir schließlich Entwarnung.
„Bist du völlig übergeschnappt oder was?!", fuhr ich ihn an und schlug ihm gegen die Schulter, während er sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten konnte.
„Ich finde das alles andere als witzig!", meinte ich eingeschnappt und ging an ihm vorbei weiter.
„Tut mir leid. Aber du hättest dein Gesicht sehen sollen.", meinte er und versuchte das Lachen zu unterdrücken, aber es misslang ihm ziemlich.
„Es tut dir nicht leid, dass wissen wir beide.", keifte ich und starrte ihn sauer an.
Er holte mehrmals tief Luft, ehe er zu mir aufschloss und seinen Arm um meine Schultern legte.
„Vielleicht hast du Recht.", gab er zu und grinste.
„Ich weiß, dass ich Recht habe.", korrigierte ich ihn und war noch immer ein bisschen wütend.
„Es tut mir wirklich leid.", versuchte er es erneut und stellte sich vor mich. In seinen Augen sah ich, dass er es ehrlich bereute.
Einen Moment blickte ich ihn nur stur an, bis ich dann seufzte und die Schultern sinken ließ. „Schon vergessen.", wehrte ich ab und kuschelte mich in seine geöffneten Arme.
„Es war nicht in Ordnung von mir mit deinen Ängsten zu spielen.", schalt er sich selber.
„Ist nicht schlimm. Ich bin nur einfach ein wenig... schreckhafter, seit ich Nassim über den Weg gelaufen bin.", versuchte ich meine Reaktion zu erklären.
Adrien legte eine Hand unter mein Kinn und brachte mich dazu ihn anzusehen.
„Er wird dir nichts tun.", versprach er aufrichtig. „Solange ich bei dir bin, wird er nicht einmal in deine Nähe kommen."
Mir war bewusst, dass Adrien für mich über Leichen gehen würde. Auch wenn ich es nicht wollte.
Doch ich wusste auch, dass er gerade ein Versprechen gab, dass er nicht halten können würde. Er würde nicht immer da sein. Und wenn der richtige Moment da war, würde Nassim mich erwischen und wie meine Zukunft dann aussah, wollte ich mir nicht ausmalen.
Adrien lächelte aufmunternd, küsste mich auf die Stirn und vertrieb die Schauer die mir über den Rücken liefen.
Es war echt irre, wie sehr Adrien es schaffte mich zu beeinflussen. Wenn ich bei ihm war, fühlte ich mich sicher und geborgen. War er nicht da, war ich niedergeschlagen und innerlich leer.
Mit ihm an meiner Seite ging es mir so richtig gut und nur wenn er bei mir war und mich so hielt wie jetzt gerade, erlaubte ich mir zu hoffen. Auf eine zufriedene Zukunft. Mit Adrien an meiner Seite. Ohne Nassim und all diese Probleme.
„Können wir jetzt vielleicht über etwas anderes reden?", fragte ich und versuchte mal wieder vom Thema abzulenken.
Adrien lächelte. „Natürlich. Dann schieß los."
Fragend sah ich ihn an. „Womit?"
„Keine Ahnung. Was fragt man denn normalerweise so, wenn man einander kennenlernen will?", wollte Adrien wissen, nahm meine Hand und gemeinsam gingen wir weiter.
Ich lachte laut. „Wir sind verlobt und wissen eigentlich nichts voneinander."
Adrien stoppte und sah mich an. „Nun ja. Du weißt nicht viel von mir. Ich allerdings weiß einiges über dich."
„Bitte!", flehte ich und sah ihn leidend an. „Sag so etwas nicht. Das ist echt angsteinflößend."
Er lachte. „Okay. Ich werde es versuchen."
„Danke." Ich lächelte und setzte mich auf einen umgestürzten Baumstamm.
Vorsichtig um nicht runterzufallen, zog ich die Beine an den Körper und machte es mir so bequem es nur ging.
Adrien setzte sich mir gegenüber und forderte mich auf, meine Fragen zu stellen.
Die folgenden Stunden waren wirklich unvergleichlich. Wir waren ganz normale Leute, die einfach ein paar schöne Stunden zusammen verbrachten um sich besser kennenzulernen.
Er liebte Gummibärchen, aber nur die weißen. Er verabscheute Sonne, weil es zu normal war. Sein Lieblingsort war ein verlassener Bunker in der Nordsee.
Er erzählte mir von den Fehlern die er gemacht hatte. Viele davon waren schrecklich und wandelten das Bild, das ich von ihm hatte. Aber ich war zu verliebt um klar zu sehen.
Ich fand heraus, dass Adriens Lieblingsfarbe grün war. Als ich nach einer Begründung verlangte, sagte er es liege daran, dass meine Augen grün seien.
Außerdem war er Fan von Nirvana und Kurt Cobain.
Bei der Vorstellung wie Adrien zu Nirvana Songs mitschrie, musste ich lachen und wäre fast vom Baumstamm gefallen, hätte er mich nicht rechtzeitig gehalten.
Alles in allem war es ein echte schöner Nachmittag und ich fand es echt schade, als Adrien verkündete, dass wir uns auf den Rückweg machen würden.
Schlussendlich akzeptierte ich seine Entscheidung aber, da ich nicht sonderlich gewillt war im Dunkeln nach Hause durch den Wald laufen zu müssen.
Also gab ich klein bei und stapfte hinter ihm her Richtung Haus.
Keine Sekunde zu spät, denn im gleichen Moment in dem wir ein Dach über dem Kopf hatten, donnerte es und das nächste Gewitter kündigte sich an.

Schwingen der NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt