Eine Seele

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Ich drehte mich weg, als einige Schattenschwingen zu dem Körper ihres toten Anführers gingen. Ich wollte nicht sehen, wie sie ihn wegbrachten, denn dann müsste ich mir eingestehen, dass er gegangen war. Dass er mich verlassen hatte. Und nicht wieder kommen würde.
In meinen Tränen spiegelte sich das Feuer, dass noch immer brannte und den hellen Nachthimmel erleuchtete.
Lautlos weinte ich und starrte in die Flammen.
"Tut mir leid, Talia.", hörte ich Jake neben mir sagen.
Ich nickte nur. Er stellte sich neben mich und nahm meine Hand.
"Er hat dich wirklich geliebt." Gemeinsam standen wir hier. Weinend und sahen dabei zu, wie Nassims Anwesen dem Erdboden gleich gemacht wurde.
"Ich weiß.", flüsterte ich heiser.
Plötzlich begann sich alles zu drehen und mir wurde schlecht. Ich wankte. "Jake?"
"Ja?", fragte er und sah mich verwirrt an, während ihm weiter die Tränen übers Gesicht liefen. "Alles okay?"
"Ich glaube ich kipp gleich um.", erklärte ich und fasste mir an den Kopf, der auf einmal angefangen hatte schmerzhaft zu pochen.
Schwarze Punkte tauchten in meinem Sichtfeld auf und ich klammerte mich an Jake.
Was passierte hier? Hatte ich einen Kreislaufzusammenbruch? Oder war es doch etwas anderes?
Dann zog mich ein dunkler Sog in die Bewusstlosigkeit.

Als ich meine Augen öffnete blendete mich ein helles Licht. Ich richtete mich auf und sah mich um. Wo war ich? Alles war so hell, dass ich nichts sehen konnte.
"Hallo?", fragte ich und richtete mich auf. Überall war dieses Licht. Egal wo ich hinblickte.
Nach einiger Zeit schwand das unnatürliche Licht und ich stand wieder auf der Lichtung.
Allerdings nicht dort wo ich das Bewusstsein verloren hatte. Es war als stände ich hinter mir.
Ich sah meinen eigenen Körper. Er lag auf dem Boden. Jake beugte sich über mich und überprüfte meinen Puls. Danach begann er irgendwelche verrückten Anweisungen zu schreien.
Behutsam hob er mich hoch und trug mich zu Adriens Leiche. Es schien als wisse er genau, was er machen musste.
"Jake!", rief ich, lief hinter im her und schnippte mit den Fingern vor seinem Gesicht, aber er schien mich nicht zu sehen. Was war das hier? Wo war ich jetzt wieder reingeraten? Und vor allem: Was passierte hier gerade?
Ich warf einen Blick zu Nassim und seinen Leuten. Bis eben hatten sie alle regungslos zugesehen und uns beobachtet. Nun kam Bewegung in die Truppe. Nassim erteilte Befehle und seine Leute begannen sich zu verteilen. Einige kamen auf die leblosen Körper von Adrien und mir zu.
Jake und Cam waren gerade dabei unsere Hände ineinander zu legen. Was das sollte, konnte ich nicht sagen, aber sie würden schon wissen was sie da taten.
Die Vampire kamen rasch näher. Bevor sie uns allerdings erreichen konnten, stellten sich ein paar Schattenengel in den Weg und hielten sie auf.
Offenbar war es wichtig, dass niemand Adrien und mich trennte. Aber warum? Adrien war tot und ich bewusstlos. Was hatte es für einen Sinn, dass Cam unsere Hände auf einander gelegt hatte?
"Talia.", sagte jemand sanft meinen Namen und ich fuhr herum. Ein paar eisblaue Augen kamen auf mich zu.
Ungläubig beobachtete ich wie Adrien immer weiter zu sich selber wurde. Er schritt aus einem grellen Licht. Demselben Licht aus dem auch ich gekommen war.
"Adrien?", fragte ich und starrte ihn fassungslos an. "Wie... Ich habe doch gesehen wie du gestorben bist. Was... Wie kannst du hier sein?" Tränen begannen mir über die Wangen zu laufen. Tränen der Angst. Ich wollte nicht, dass das dies nur eine Halluzination war.
Er lächelte, als wäre er nie fort gewesen. Als wäre all das eben nicht passiert.
"Aus demselben Grund wie du.", meinte er und am liebsten hätte ich ihn dafür erwürgt, dass er in diesen komischen Rätseln sprach.
"Aber warum sind wir hier?", wollte ich weiter wissen und konnte nicht glauben, dass er mir einfach so gegenüber stand. Ich meine: Er ist eben vor meinen Augen gestorben. GESTORBEN! Und jetzt war er hier. Unversehrt. Das war doch nicht möglich. Ich musste tot sein. Anders konnte ich es mir nicht erklären.
"Bin ich auch tot?", platzte es aus mir heraus, ehe er auf die vorherige Frage antworten konnte.
Er lachte und kam näher. Tatsächlich. Er sah aus wie immer. Sogar das Glänzen, dass ich so sehr liebte, war wieder in seinen Augen.
"Nein du bist du nicht.", schmunzelte er und blickte ebenfalls auf unsere beiden Körper. "Ziemlich komisch, hm?"
Ich nickte zustimmend und versuchte mir mit meinen eigenen Armen etwas Wärme zu spenden.
Das passierte gerade nicht wirklich. Das war einfach nicht möglich!
"Es liegt jetzt an dir.", fuhr er dann fort und kam noch näher.
"An mir?" Verwirrt sah ich ihn an.
"Hast du etwa schon vergessen, dass du mir gesagt hast, dass du mich liebst? Das hier ist unsere Möglichkeit den Fluch der Unsterblichkeit aufzuheben. Du hast es in der Hand. Entweder wir kehren beide zurück, oder nur du. Es ist deine Entscheidung. Du musst dazu einen Teil deiner Seele aufgeben. Für mich. Und ich will dich nicht anlügen. Es wird wehtun.", erklärte er und lächelte vorsichtig. Er hatte Angst. Er hatte Angst, dass ich ihn fortschicken würde.
"Ich mach es!", unterbrach ich ihn und blickte fest entschlossen in seine Augen. Egal wie schmerzhaft es werden würde. Nichts war schmerzhafter, als ihn in meinem Leben zu missen.
"Bist du dir sicher? Du solltest es dir gut überlegen. Das ist keine Entscheidung, die einfach wieder rückgängig gemacht werden kann.", redete er mir ein. Aber ich würde meine Meinung nicht mehr ändern.
Ich brauchte ihn in meinem Leben. Das war unser Traum. Wir beide irgendwann zusammen mit grauen Haaren und ganz vielen Enkelkindern.
"Wirst du menschlich, wenn ich ja sage?", wollte ich wissen und blickte zu Cam und Jake.
Adrien folgte meinem Blick und blieb bei seinem Bruder hängen.
"Ja.", antwortete er.
"Und die anderen?", fuhr ich fort.
Er hielt inne. "Ich bin mir nicht sicher, ob sie ebenfalls erlöst werden."
Es bestand also nur eine 50 zu 50 Chance, dass Jake und die anderen ebenfalls zu Menschen wurden. Das verpasste meiner Euphorie doch einen ziemlichen Dämpfer.
"Was ist mit Nassim? Was wird aus ihm?" Ich sah zu dem Vampir, der gefährlich fauchend um einen Kreis aus Schattenschwingen lief, den Adriens Leute um unsere Körper gebaut hatten. Wir mussten uns beeilen, so wie es aussah.
"Das liegt nicht in meiner Hand. Aber wir werden ihn los sein. So viel ist sicher.", versicherte Adrien und blickte mich an. Seine Augen verrieten, dass er wusste, was mit Nassim passieren würde.
"Ich will eine Zukunft mit dir. Ich will, dass wir unseren Kindern gute Nacht Geschichten erzählen. Ich will den Rest meines menschlichen Lebens mit dir verbringen." Ich stoppte meinen Redeschwall, atmete tief durch und erwiderte Adriens Blick. "Sag mir was ich tun muss."
Er lächelte erleichtert. "Überlass den Rest einfach mir." Und da war er wieder der alte Adrien. Der Adrien in den ich mich verliebt hatte.
Ich lachte und streckte ihm meine Hände entgegen. Er ergriff sie und begann irgendetwas zu murmeln.
An den Stellen an denen wir uns berührten, begann ein Licht zu strahlen. Ich sah automatisch zu unseren Körpern. Auch dort glühten unsere Hände, bis der Schein immer heller wurde.
"Bereit?", fragte Adrien und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Schnell schluckte ich meine Angst und nickte. Er lächelte mich aufmunternd an.
Danach wurde das Licht immer und immer heller. Es blendete in den Augen und ich kniff meine Lider zusammen. Solange ich Adriens Hände in meinen spüren konnte, bestand kein Grund zur Panik. Zumindest hoffte ich es.
Plötzlich fühlte ich wieder diesen Sog der mich auch hierhergebracht hatte und ich wusste, ab jetzt würde es ungemütlich werden.
Adrien und ich wurden zusammen gezogen und knallten ineinander. Es war als würde ich gegen eine Wand laufen. Alles was danach kam, nahm ich nur noch halbwegs wahr.
Die Schmerzen hatten mich fest in der Hand. Es fühlte sich an als würde mir jemand bei lebendigem Leid das Herz herausreißen.
Irgendwann war es einfach vorbei.

"Talia!"
Die Stimme war weit weg und drang nur knapp bis in meinen Verstand vor. Doch mit einem Schlag waren all die Erinnerungen wieder da und ich riss schon fast die Augen auf.
Das erste was ich sah, war eine blaue Iris.
Erleichtert fiel ich ihm um den Hals.
"Es hat geklappt!", keuchte ich und konnte nicht glauben, dass die Person die mich hielt wirklich Adrien war.
Er lachte. "Ich weiß!" Seine Augen strahlten, als er sich auf mich stürzte und leidenschaftlich küsste.
Als wir uns wieder voneinander trennten, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
"Verdammter Mist!", fluchte ich und wischte mir über die Augen.
Wir waren noch immer auf der Lichtung, auf der Adrien gestorben war. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er hier war. Bei mir. Als Mensch. Das war... unbeschreiblich.
"Genau deswegen liebe ich dich so.", lachte er breit und nahm meine Hand.
"Heißt das, dass wir uns nun eine Seele teilen?" Ich grinste ihn breit an und versuchte meine Tränen zu stoppen. Doch irgendwie wollten sie einfach nicht versiegen.
"Ja, du hast eine Hälfte gegeben um mich zu retten.", erklärte er die Kurzfassung und die Erleichterung war ihm ins Gesicht geschrieben.
Bevor ich noch etwas sagen konnte, fiel mir jemand um den Hals.
"Gott ich hatte solche Angst um dich.", heulte Jake und ich musste lachen als ich seine roten, verweinten Augen sah.
Danach drückte auch Cam mich. Ich flüsterte ihm leise ein Danke ins Ohr und hielt ihn einfach nur fest.
Als ich mich von ihm löste, sah ich mich um.
Um uns herum standen Adriens Leute im Kreis und schirmten uns nach aussen ab. Aber unsere Freude sollte nicht lange halten, denn auf einmal bebte der Erdboden und alles drehte sich.
Ich flüchtete mich in Adriens Arme und versuchte an ihm Halt zu finden, während vor uns der Boden aufriss.

Schwingen der NachtWhere stories live. Discover now