Zu weit weg

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Das Kreischen von Metall auf Metall weckte mich.
Verschlafen blickte ich auf. Draußen war noch immer tiefste Nacht.
Was war passiert? Adriens finsteren Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte entweder ein Geisterfahrer ihn gerade erwischt oder er hatte eine Laterne mitgenommen. Aber ich glaubte an nichts von beidem.
"Was ist los?", fragte ich und schaute in den Rückspiegel.
Hinter uns auf der Straße sah ich ein paar Scheinwerfer die schnell näher kamen. Sehr schnell.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit und dieses wurde nur noch verstärkt, als ich zu Adrien sah.
Sein Blick wanderte konzentriert zwischen dem Außenspiegel und der Straße hin und her.
"Wir haben Besuch bekommen.", antwortete er nur knapp und biss die Zähne auf einander.
"Und das heißt?", forderte ich ihn auf.
"Nichts gutes.", beendete er und warf mir einen schnellen Blick zu ehe er die Corvette zu Höchstleistungen anspornte. Trotzdem blieb der andere Wagen und auf den Fersen.
Anfangs hatte ich noch gedacht, dass er gleich überholen würde, aber irgendwie sah es nicht so aus.
Ganz im Gegenteil. Er klebte uns förmlich am Heck.
"Kann es sein, dass da jemand noch eine Rechnung mit dir offen hat?", wollte ich wissen und lachte leicht. Noch lachte ich.
„Wie gesagt. Ich habe viele Feinde.", knurrte er und umklammerte das Lenkrad fester während sein Blick zwischen Straße und Außenspiegel hin und her zuckte. Als er dann wieder beschleunigte klammerte ich mich an meinem Sicherheitsgurt fest und versuchte mich irgendwo festzuhalten. Was so gut wie unmöglich war bei dem Fahrstil den Adrien plötzlich an den Tag legte. Und genau das war es was mir Angst machte. Ich wusste er würde nicht so fahren wenn es nicht ernst wäre.
Ein erneuter Blick in den Rückspiegel zeigte mir, dass der andere Fahrer trotzdem an uns dranblieb und sogar aufholte. Ein ungutes Gefühl überkam mich und sagte mir, dass dies eine Jagd war. Und wir die Gejagten waren.
„Adrien ich hab Angst.", gestand ich leise, wobei meine Stimme zwischen dem Motorenlärm fast unterging.
Nachdem meine Worte zu ihm durchgedrungen waren, bremste er scharf ab. Die Reifen schrien gequält auf und unser Verfolger schoss an uns vorbei. Es war ein großer, schwarzer AMG SUV. Das hieß unsere Chance heil aus dieser Situation herauszukommen war gering. Sehr gering.
„Was?", fragte er und sah mich an.
„Ich. Hab. Angst.", wiederholte ich also und sah wie der fremde Wagen vor uns ein irres Wendemanöver hinlegte und immer schneller auf uns zukam.
„ADRIEN!", schrie ich und deutete auf den dunklen Schatten der viel zu schnell näher kam.
Er fluchte laut und schleuderte die Corvette herum. Doch es war ein wenig zu spät. Der AMG prallte von hinten gegen uns. Es gab einen dumpfen Knall und wir wurden ein Stück nach vorne geschleudert. Das Heck brach aus und wir rutschten in den Gegenverkehr. Ein großer Lastkraftwagen hupte und ich kniff die Augen zusammen um nicht zu schreien. Das war nämlich das letzte was Adrien jetzt gebrauchen konnte. Das wir beide gebrauchen konnten.
Ich werde nicht sterben. Ich werde nicht sterben. Immer und immer wieder murmelte ich diesen Satz wie ein Mantra und als ich die Augen öffnete riss Adrien gerade das Steuer herum und fuhr wieder zurück auf die richtige Spur. Unseren Verfolger hatten wir allerdings nicht abschütteln können.
Vorsichtig blickte ich zu Adrien. Sein ganzes Gesicht war angespannt. Er war hoch konzentriert. Trotzdem hatte er wohl bemerkt, dass ich ihn beobachtete, denn er wandte kurz den Kopf zu mir. Vielleicht täuschte ich mich auch, aber war das Sorge in seinem Blick?
„Es ist alles okay.", versicherte er und sah wieder stur geradeaus. „Ich bring dich hier raus, verstanden?"
Ich wollte ihm glauben. Ich wollte ihm so gerne glauben. Aber irgendwie konnte ich es nicht. Mein Gefühl sagte mir, dass mich diese Nacht verändern würde. Dass ich nicht ohne einen Kratzer aus dieser Situation kam.
Also nickte ich nur und schluckte als ich sah wie der Geschwindigkeitszeiger auf dem Tacho sich immer höher schraubte. Mir war schlecht.
Meine kalten Hände umklammerten einander und ich atmete tief ein und aus um nicht doch noch in Panik auszubrechen.
Erneut schloss ich die Augen. Dieses Mal allerdings in der Hoffnung, dass ich gleich aufwachen würde und alles nur ein Traum war. Aber ich sollte inzwischen wissen, dass DAS hier die Realität war.
Man sollte ebenfalls meinen, dass mir diese Geschwindigkeit nichts ausmachen würde. Immerhin war ich ja eine Art Rennfahrerin. Aber es ist immer etwas anderes, wenn man selber nicht am Steuer sitzt und weiß dass es dieses Mal um Leben und Tod geht. Klar waren die Rennen die ich fuhr auch nicht harmlos. Jedoch hatten wir illegale Fahrer einen Ehrenkodex, der besagte, dass keiner mit Absicht einem anderen Fahrer schaden durfte. Bei mir Zuhause hatten sich alle daran gehalten. Natürlich gab es hin und wieder Unfälle und ja, wir drängten uns gegenseitig schon mal von der Straße. Doch es war nur Spaß.
Also das komplette Gegenteil zu meiner momentanen Lage.
Dann war da plötzlich wieder dieses Kreischen und ich riss erschreckt meine Augen auf. Der AMG war keinen halben Meter von mir entfernt und ich konnte das Gesicht des anderen Fahrers sehen. Ein junger Mann. Helle kurze Haare, schmale Gesichtszüge.
Sein Wagen drückte gegen unseren und er versuchte uns von der engen Straße zu drängen. Adrien hielt dagegen. Die Frage war nur, wie lange würde er das noch schaffen? Auf seiner Seite war ein Abhang und dahinter Felder. Auf meiner gab es hinter dem SUV eine hohe Felswand. Es war eine verlassene Gegend. Wenn uns jetzt etwas passieren sollte, würde niemand uns finden. Es wäre die perfekte Kulisse für einen Unfall. Oder einen Mord.
„Bastian.", presste er zwischen seinen Zähnen hervor. Der fremde Mann hatte also einen Namen.
„Ein Freund von dir?", fragte ich mit dünner Stimme um mich davon abzulenken, dass meine Hände bebten. Und es war definitiv kein Adrenalin, das daran Schuld war...
„Nicht das ich wüsste." Adrien lachte dunkel, holte aus und rammte sogenannten Bastian von der Seite. Diesen schien das nicht sonderlich zu beeindrucken. Er wich aus und hatte so genug Schwung um dasselbe mit unserer Corvette zu machen. Das Glas auf meiner Seite splitterte. Ich schrie auf und riss die Arme nach oben um mich zu schützen, aber ich reagierte zu spät. Ein paar kleine Scherben regneten auf mich hinab und schnitten mir ins Gesicht. Es tat weh und ich konnte eine warme Flüssigkeit über meine Wangen laufen spüren. Und es waren keine Tränen...
Adrien hing mit einer Hälfte des Wagens schon nicht mehr auf der Straße sondern auf dem unbefestigten Feld. Panisch blickte ich nochmals zur Seite aus dem nicht vorhandenen Fenster zu Bastian. Er lächelte ekelhaft und zwinkerte mir zu. Danach wurde sein Lächeln noch breiter und ich ahnte was er vorhatte, als er erneut ausholte. Mit allem was der schwarze SUV noch aufzubringen hatte, knallte er fast senkrecht auf uns und Adrien verlor die Kontrolle.
Das letzte was ich bewusst wahrnahm war, dass Glas klirrte und ich laut Adriens Namen rief. Danach drehte sich die Welt um uns herum und ich glaube wir hatten uns überschlagen. Dann war es plötzlich still.
Alles was danach passierte bemerkte ich kaum. Ich hörte noch wie Adrien neben mir aus dem Auto sprang und laut einen Namen rief und ich hörte wie er wegrannte.
Laut wollte ich nach ihm rufen, aber es war als wäre ich nicht mehr Herr über meinen eigenen Körper. Panik überfiel mich.
Da war etwas Rotes in meinem Blickfeld und meine Brust schmerzte so unglaublich. Und dann merkte ich was nicht mehr mit mir stimmte: Ich konnte nicht mehr atmen.
Meine Finger vibrierten als ich versuchte, meine Brust entlang zu tasten, aber ich schaffte es nicht. Sie klemmten irgendwo zwischen mir und dem zerstörten Armaturenbrett fest. Meine Brust. Sie schmerzte so. Es tat so weh.
„Adrien!", schrie ich so laut ich konnte. Doch es war so anstrengend und schmerzhaft, dass ich das Bewusstsein verlor.
Als ich das nächste Mal aufwachte, lag ich auf Adriens Schoß. Seine blauen Augen blickten mich an und ich sah Sorge in ihnen. Warum lag ich hier? Warum tat meine Brust so ungeheuer weh?
Ich wollte aufstehen, ihm beweisen dass es mir gut ging.
Ich wollte ihn die Sorgen vergessen lassen, die sein Gesicht so verunstalteten.
Ich wollte die Schmerzen vergessen.
Ich wollte Atmen.
„Talia." Er flüsterte meinen Namen. Blut war auf seiner Stirn. Warum war da Blut?
Er zitterte. Warum?
Ein rasselndes Keuchen hallte in meinen eigenen Ohren viel zu laut und erst da bemerkte ich, dass das ich die Person war, die so Luft holte. Oder zumindest war es der klägliche Versuch davon.
„Adrien", keuchte ich. Gott, meine Brust. Ich bekam keine Luft mehr. Mit aller übrig gebliebenen Kraft hob ich meine Hand und fuhr ihm über die Wange. Er lächelte schwach. Seine Augen wurden feucht. Was war hier los?
„Psst!", machte er leise „Spar dir deine Kräfte. Du brauchst sie noch."
Ich wollte ihn fragen wofür und da hörte ich entfernt Sirenen. In meinem Rücken war es ganz heiß. Ein Feuer. Ein brennendes Auto. Und dann kamen die Erinnerungen in einer schmerzhaften Welle zurück. Ich verkrampfte mich und versuchte Luft zu bekommen, aber es ging nicht. ES GING NICHT!!! Es tat so weh. Ich bäumte mich auf und wollte schreien. Doch kein Laut entkam meinen Lippen.
Die Gewissheit kam und sie verursachte nur noch mehr Schmerzen. Ich starb.
„Halt durch!", bat Adrien und eine Träne rollte über sein schönes Gesicht.
„Adrien.", röchelte ich. Das Reden fiel schwer. Irgendetwas war in meinen Mund. Es schmeckte metallisch.
„Verlass mich nicht!", flehte er und weinte lautlos. „Bitte verlass mich nicht!"
Ich wollte ihm sagen, dass alles gut werden würde. Ich wollte ihm sagen, dass ich keine Angst vor dem Tod hatte. Aber ich schaffte es nicht. Tränen liefen aus meinen Augen. Langsam rollten sie über mein schmerzendes Gesicht.
Mein Sichtfeld wurde an den Rändern schwarz. Und ich wusste nun war es gleich soweit. Mein Leiden würde ein Ende haben, aber das durfte nicht passieren. Ich war noch nicht bereit mich von dieser Welt zu verabschieden. Adrien... Adrien... An diesen Gedanken klammerte ich mich und schaffte es die schwarzen Punkte zurückzudrängen.
„Hilf mir!", sagte ich stimmlos. Leise. Hilflos.
Er schniefte und eine seiner Tränen fiel auf mein Gesicht. Es war so schön ihn weinen zu sehen. Es machte den Abschied leichter. Er war ein Mensch. Er hatte Gefühle. Es war möglich ihn zu lieben. Ich wollte nicht gehen. Nicht jetzt. Nicht, wenn wir eine Zukunft hätten haben können.
Dann sah er mir tief in die Augen und lehnte sich vor. Ganz leicht berührten seine Lippen meine erst. Fast zaghaft. Schüchtern. Doch dann drückte er sie fester auf die meinen hinab und ich konnte ihn schluchzen hören. Das hier war unser erster Kuss. Ich versuchte ihn zu so gut es ging zu erwidern. Jedoch musste ich immer und immer wieder stöhnen weil meine Brust so verdammt schmerzte und ich mich anstrengen musste um nicht bewusstlos zu werden. Denn wenn ich jetzt das Bewusstsein verlor, würde ich auch mein Leben verlieren und damit Adrien.
Seine Lippen waren wundervoll weich und seine klammerten sich an meine als würde ich ertrinken. Als wäre er mein Retter in der Dunkelheit.
Ich hatte vom verbotenen Paradies probiert und wollte es nun nicht mehr verlassen. Ich wollte ihn nicht mehr verlassen. Ich wollte nicht sterben! Seine Hände hielten mich ganz fest und erleichterten es mir seine Bewegungen zu erwidern. Ein lautes Keuchen aus meiner Kehle stoppte ihn. Er hob den Kopf wieder und sah mich an. Seine Tränen liefen und schienen nie wieder versiegen zu wollen und da erst wurde mir klar, dass er das gleiche für mich empfand wie ich für ihn.
Mit meiner letzten Kraft schaffte ich es ein zweites - ein letztes Mal - meine Hand zu heben und sie auf sein Herz zu legen. Es schlug gleichmäßig und kräftig. Ganz im Gegenteil zu meinem. Denn dieses wurde immer schwächer.
Bei meiner Geste lächelte er und ich tat es ebenfalls. Er war so wunderschön. Aber ich wusste dass meine Zeit abgelaufen war. Ich wusste dass ich gehen musste.
Meine Finger hinterließen einen roten Abdruck auf seinem hellen, aber rußverschmierten Shirt. Fast so wie seine Tränen. Auch sie hinterließen einen sauberen Streifen auf seinem dreckigen Gesicht. Aber bald würden sie nur noch eine Erinnerung sein. So wie ich. Wenn ich gegangen war. Meine Brust schmerzte noch stärker aber das spürte ich schon gar nicht mehr. Für mich zählte nur noch der Mann über mir. Meine Sichtfelder bekamen wieder schwarze Ränder und ich konnte ein Licht sehen. Es schien als käme es aus den Schatten hinter Adrien. Es war so wunderschön. So warm. So klar. So verlockend.
„Ich liebe dich.", hauchte er und lächelte matt. Doch es war ein falsches Lächeln. Seine Tränen verrieten ihn. Aber er hatte es gesagt. Als Zeichen, dass ich ihn noch verstehen konnte, lächelte ich zurück. Er schluchzte. Es war so schön. Diese drei kleinen Worte. Aus seinem Mund. Und ich war gemeint. Ich weinte noch mehr. Ich wollte nicht gehen. Ich wollte hier nicht fort. Die Sirenen kamen näher und näher. Aber sie waren nicht schnell genug. Das Licht wurde immer heller und alles andere schien unwichtig zu werden. Mir war bewusst, dass ich gehen musste. Auch wenn ich es nicht wollte. Ich war auf dieser Welt entbehrlich geworden und musste Platz für einen neuen Menschen schaffen. Ein letztes Mal blickte ich zurück in Adriens blaue Augen. Sie waren so wundervoll. So blau. So klar. Doch dann spürte ich nichts mehr. Keine Schmerzen. Keine Angst. Nichts.
Und da wusste ich es.
Ich war gestorben.
Gestorben in den Armen des Mannes den ich liebte...

Schwingen der NachtWhere stories live. Discover now