44| Meine persönliche Hölle

6.2K 446 14
                                    

Ezra

„Was zum Teufel ist gestern passiert?", fragte Moe und stellte das Tablett ein wenig zu schwungvoll auf den Platz vor mir. Müde hob ich den Blick und traf in seine wütend funkelnden Augen. Sadie und Lily setzten sich neben mich und somit war ich umzingelt. Das war's mit meiner ruhigen Mittagspause.

Nichts", erwiderte ich. „Nichts ist passiert."
Das Stimmte nicht. Ich hatte wahrscheinlich alles kaputt gemacht, weil ich nicht meine verdammte Klappe halten konnte. Aber das war allein meine Schuld und nichts, über was sie sich Gedanken machen müssten.

„Ich kriege um fucking halb 5 Uhr morgens einen Anruf und muss meinen blutüberströmten besten Freund von irgendeiner Landstraße abholen. Also sag nicht, es sei nichts passiert!" Seine Faust landete auf der Tischplatte und ließ mich zusammen zucken.

Ich hatte kaum geschlafen. Immer und immer wieder ließ ich die Szene in meinem Kopf laufen. Was auch immer da zwischen uns passiert war, es hatte alles um so schwieriger gemacht.

Und ich weiß noch nicht mal was genau zwischen uns ist? Sind wir Feinde, Freunde oder mehr? Oder war, wie er sagte, alles nicht real und wir waren beide einfach nur einsam?

Wäre das nicht die beste Lösung? Eine Fake-Beziehung mit ein wenig Spaß? Ich kniff die Augen zusammen. Jetzt war sowieso alles egal. Weil, was auch immer es war, nun in Scherben unter meinen Schuhen knirschte.

Lily legte ihre Hand auf meine Schulter. „Alles ok?" Nein, alles war ruiniert. Ich blinzelte und zwang mich, mich zusammenzureißen. „Es ist alles gut.", sagte ich mit fester Stimme. Ich sah zu Moe und merkte das Flackern in seinen Augen.

Er machte sich Sorgen um seinen Freund, und so wie ich Lee kannte, hatte er kein Wort gesagt. Also war ich es nun, der die Geschichte erzählen durfte. Aber was war eigentlich zu erzählen?

„Es gab einen Zwischenfall. Er hat sich mit jemanden geprügelt. Wir haben eine Spritztour gemacht und uns dann gestritten. Das war alles." Allein diese Worte kosteten unheimlich viel Mühe. „Das war alles?", rief Lily aufgebracht. „Details, Ezra!"

Sadie legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Ich glaube, wir sollten ihn erstmal in Ruhe lassen." Dankbar sah ich zu ihr und sie nickte mir zu. „Trotzdem solltet ihr das schnell klären! Ich hab keinen Bock auf Streit.", zischte Moe.

„Das ist ihre Sache, Romeo.", meinte Sadie und Moe verschränkte unzufrieden die Arme. „Sieh sie dir doch mal an, Green. Lee heute Morgen und jetzt Ezra.", er deutete auf mich, als würde das alles erklären. In mir brannte die Frage auf, ob Lee okay ist. Ob es ihm gut geht.

Ich hätte ihn nicht einfach auf diesem verdammten Parkplatz stehen lassen dürfen. Aber es war nun zu spät, um etwas daran zu ändern.

Ich vergrub meinen Kopf in meinen Armen und kniff die Augen zusammen. „Ich hab's verhauen, Leute.", flüsterte ich und spürte wie Sadie mir aufmunternd über den Rücken strich. Wenn sie wüsste, was ich getan hatte, würde sie mich wahrscheinlich genauso hassen.

Blinzelnd richtete ich mich auf. „Was macht man, wenn man bei Lee verschissen hat?", fragte ich hoffnungsvoll in die Runde. „Auf die Knie fallen und beten.", meinte Moe mit vollem Mund. „Deinen Erstgeborenen opfern.", warf Sadie ein.

Stöhnend vergrub ich meinen Kopf erneut.
„Ich glaube, er hasst mich wieder.", flüsterte ich leise. Die Art wie er mich angesehen hatte ... meine Fingernägel bohrten sich in meine Handfläche. Shit!

„Komm schon, so schlimm wird's schon nicht sein.", versuchte Lily mich aufzubauen und ich fühlte mich noch elendiger. „Ich hab ausersehen mal sein Handy geschrotet.", Moe nickte, sein Blick in die Ferne gerichtet, als wäre das ein traumatisches Ereignis, über das er bis heute noch nicht hinweg ist.

„Wir haben ihn alle schon mal enttäuscht. Der kriegt sich schon wieder ein.", sagte Sadie und lächelte. Ja, aber ihr seid Familie.

Ich war ... der Außenseiter, den er nicht mal leiden konnte.

Sie sollten nicht so für mich da sein. Aber... Ich war ein Feigling und wollte nicht, dass sie mich auch so ansahen...

„So jetzt genug mit diesem elendigen Trübsal blasen.", meinte Moe. „Das hält ja niemand aus."

_________________

Drei Tage lang hörte ich nichts von ihm. Aber auch ich versuchte nicht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. In der Schule, schienen auch die anderen das Thema zu vermeiden.

Wir redeten nicht über Lee oder den Deal.

Jeden Tag haderte ich mir, ob ich nicht einfach Moe fragen sollte, ob es Lee gut ging. Aber ich hatte kein Recht dazu.

„Hey", fragte Sadie, als ich von meinem Handy aufsah. „Alles okay?" Ich starrte zurück auf mein Display. Das hatte ich wegen der Lee Sache total vergessen. „Heute Abend, ist großes Familien-Treffen.", sagte ich müde.

Meine Familie. In einem Raum. Es würde ein Gemetzel werden. Ich hatte sowieso nicht vorgehabt, Lee in die Höhle des Löwen mitzunehmen, aber ich hätte ihn gerne gefragt. Es wäre wahrscheinlich ein beruhigender Gedanke gewesen, wenn ich dort nicht allein würde reinmüssen.

Sadie warf mir einen mitleidigen Blick zu, während gerade der Lehrer das Klassenzimmer betrat. „Wirst du es schaffen?" Ich winkte ab. „Das wird schon alles."

Lüge. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir übel.
„Ich drück dir die Daumen."

_________________________

Ich saß in meinem alten Kinderzimmer. Es war alles noch genauso wie an dem Tag, an dem ich meine Sachen gepackt hatte und in mein eigenes Apartment gezogen bin.

Der Schrank stand einen Spalt breit offen und ich konnte in der Dunkelheit noch den Schuhkarton entdecken, in dem ich früher meine Schätze versteckt hatte. Funkelnde Murmeln oder ein Kuscheltier, das aussah wie eine Eule.

Ich strich gedankenverloren über meine Bettdecke, als ich zum wahrscheinlich hundertsten Mal mein Handy entsperrte. Ich starrte auf den blinkenden Cursor.

Ich schloss die App und öffnete eine andere. Ich starrte auf das Bild. Dieses Gott verdammte Bild. Ich schüttelte den Kopf und ging zurück auf unseren Chatverlauf. Ich riss mich zusammen und begann zu schreiben.

Drama-Queen
zuletzt Online 17:34

Hey, können
wir reden?

Sobald ich die Nachricht abgeschickt hatte, warf ich mein Handy von mir.

Ich richtete mich auf und ging zur Tür. Es wurde Zeit. Ich hörte bereits ihre Stimmen unten, während ich mich noch am oberen Rand der Treppe versteckte.

Tief durchatmen.

Ich zwang mich zu einem Lächeln und betrat meine eigene persönliche Hölle.

Bad Influence [BxB]Where stories live. Discover now