15. ASHER

9.8K 556 96
                                    

Er stand schon seit geraumer Zeit direkt vor mir, seine Hand lag in meinem Nacken und er spielte an meinen Haaren dort herum, was mir ein angenehmes Gefühl beschaffte.

Ich wusste nicht wieso, aber ich genoss seine Nähe.
Dieser war der erste Moment, in dem ich dachte, ich hatte seine Nähe schon immer irgendwie genossen, wollte es mir nur nicht eingestehen. Tja, und es war so.

Wie sollte ich es denn weiterhin verleugnen? Es war alles ziemlich offensichtlich.
Immerhin stand ich hier abends mit einem Typen im dunkeln Wald und starrte ihn an, während mein Herz beinahe aus meiner Brust sprang.

Irgendwann- keine Ahnung wie viel Zeit vergangen war- hörte er auf an meinen Haaren herumzuspielen, führ mit dem Finger federleicht über meinen Hals und strich dann über meine Unterlippe.

„Du hast schöne Lippen“, meinte er  plötzlich.

Oh Gott diese Stimme!
Mein Herzschlag beschleunigte sich immer weiter, ich starrte ihn einfach nur an, konnte nicht anders.

Und vielleicht, ja vielleicht, hätte ich in diesem Moment zum ersten Mal einen Jungen geküsst, hätte er keine aufgeplatzte Lippe gehabt.
Also nicht, dass es mich stören würde, ich wollte nur nicht, dass es ihm wehtat. Er sollte es schön finden, mich zu küssen, so verstörend dieser Gedanke auch war.

Mittlerweile war ich gar nicht mehr verwundert über meine Gedanken, immerhin waren es ja nur Gedanken. Keiner würde jemals davon erfahren.
Wenn das allerdings so bleiben sollte, musste ich jetzt etwas tun.

Also legte ich meine Hand auf seine, die vor meinem Gesicht herum schwebte, weil er mit den Fingern meine Konturen nachgefahren war und führte sie von mir weg.

Ich wollte, dass er sich wehrte, wollte, dass er sagte, er würde nie wieder aufhören, doch das tat er nicht.
Und vielleicht war das auch besser so.

Er sah mich etwas verletzt an, ich war enttäuscht, dass er nichts dagegen unternahm.

Und es war diese Enttäuschung, die mir zum ersten Mal vor Augen führte, dass ich kein Hetero war.

Diese Erkenntnis war erschütternd und verwirrend und sie machte mir Angst.

Ich sah Grayson einfach weiterhin an, während er versuchte etwas in meinem Blick zu lesen, doch ich setze eine verschlossene Miene auf.
Ich wollte mit ihm reden, ja am liebsten Tag und Nacht, aber in diesem Moment konnte ich es nicht.
Ich konnte einfach nicht wahrhaben, dass ich auf dem besten Weg war, mich in einen Typen zu verlieben.
Einen, der dies nicht erwidern würde.

Ich meine, er hasste mich.
Das hatte er schon immer getan und ich sollte es auch tun.
Und erst da fiel mir etwas ein, das ich unbedingt wissen musste.
Ich ging einen Schritt zurück, unterbrach den Blickkontakt aber nicht.

„Was hast du vorhin mit Ashley besprochen?“
Seine leicht geöffneten Lippen schlossen sich, er vergrub die Hände in den Hosentaschen und zuckte mit den Schultern. „Hab mich entschuldigt“
Meine Augenbrauen wanderten nach oben. Er hatte sich bei Ashley entschuldigt? Wieso?
„Ich dachte, sie bedeutet dir nichts?“

Er lächelte wieder leicht, während er mir einfach gegenüberstand. „Aber sie bedeutet dir alles. Ich will nicht, dass du mich hasst, weil es sie tut, also habe ich mich entschuldigt, damit...“ Er beendete den Satz.
„Damit?“, forderte ich ihn auf, aber er schien fertig gesprochen zu haben, denn er drehte sich um und lief den Waldweg zurück zum Spielplatz.

Ich sah ihm kurz überrascht hinterher, beeilte mich dann aber zu ihm zu kommen und lief neben ihm her. „Damit was?“, versuchte ich es noch einmal, doch er wollte nicht mehr reden, schüttelte nur den Kopf.

Es verletzte mich, dass er es mir nicht sagen wollte, doch ich ließ mir nichts anmerken, wurde stattdessen wütend.

Ich wurde immer wütend.
Wenn etwas nicht so lief wie ich es wollte? Wütend.
Wenn ich nicht das bekam, was ich wollte? Wütend.
Wenn ich verletzt war? Wütend.
Wenn ich Angst hatte? Wütend.

Ja, ich hatte echt ein Aggressionsproblem, aber es war mir egal. Ich lief etwas schneller, um Grayson zu überholen.
Ich hatte keine Lust mehr auf ihn, wollte stattdessen lieber schnell nachhause.

Ich hörte ihn hinter mir genervt stöhnen. „Jetzt sei nicht sauer, Ash“ Er eilte zu mir, stellte sich vor mich, sodass ich keine Möglichkeit hatte, an ihm vorbei zu kommen.
Ich sah auf die Häuser hinter ihm, hatte keine Lust mehr, ihn wieder anzustarren, wollte nicht mehr, dass er diese Wirkung auf mich hatte.
Er verwirrte mich nur.
Und das machte mich? Wütend.

Er nahm meinen Kopf in die Hände und zwang mich somit ihn anzusehen. Für einen kurzen Moment ließ ich es zu, aber dann stieß ich ihn von mir weg, sodass er nach hinten taumelte.

„Warum bist du jetzt so?“, fragte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. Er wirkte verletzt, ich seufzte. Ich wusste, was körperliche Gewalt mit ihm machte, was es aus ihm machte.
Ich sollte wirklich rücksichtsvoller mit ihm umgehen.
Vorallem, weil ich nicht wollte, dass er mich so ansah, wie er es gerade tat. Nämlich als hätte ich ihn verprügelt und nicht sein Stiefvater.

„Wie bin ich denn?“, fragte ich trotzdem provozierend und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Kalt“, antwortete er.

Ich ließ die Arme wieder sinken und mit ihnen die Maske. Mir gefiel der Ton nicht, in dem er mit mir sprach. Mir gefiel dieser Ausdruck nicht, den er gerade in seinem Blick hatte, und mir gefiel die Distanz nicht, die aufeinmal herrschte.Ich

„Ich bin verwirrt“, gestand ich dann leise und ließ die Schultern hängen. Ich wusste nicht, wieso ich ihm das sagte, aber es war die Wahrheit. Und immerhin war er dafür verantwortlich.

„Weswegen?“

Was sollte ich denn jetzt sagen? Ich wusste es ja selbst nicht genau. Weil ich vermutlich auf einen Typen stand? Einen, der verantwortlich war für viel Leid bei meiner Schwester. Einer, der vermutlich noch mehr Frauen im Bett hatte als ich selbst. Einer, der das niemals erwidern würde, was auch immer es war, das ich fühlte.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also zuckte ich nur mit den Schultern.

Grayson lächelte mich aufmunternd an, aber so, als hätte er bereits gewusst, dass mehr von mir nicht kommen würde. Also ging er einen Schritt zur Seite, damit ich an ihm vorbei gehen konnte.
Er lief wieder neben mir. Der Weg zu seinem Haus war nicht mehr weit, doch für die letzten 500 Meter legte er seinen Arm auf meinen Schultern ab.

Ich sah fragend zum ihm hoch, doch er grinste nur. Je näher wir seinem Haus kamen, desto mehr ging dieses Grinsen allerdings zurück und genau wie gestern hielt er wieder vor der Steinmauer. Er lehnte sich dagegen, ich setzte mich darauf, wir sahen auf den geteerten Boden vor uns.

„Gray, du kannst wirklich zu mir kommen, wenn du nicht da rein willst“, bot ich ihm noch einmal an. Unser Haus war groß, mir und Ashley gehörte zwar nur die unterste Etage, aber ich würde sicher eine Möglichkeit finden, dass er bei uns bleiben konnte, solange er wollte. Ashley würde das zwar nicht gefallen, aber sie musste es ja auch nicht erfahren.

Wieder lehnte er ab, indem er den Kopf schüttelte, doch dann hob er den Blick und sah mich lächelnd an. Seine Augen leuchteten dabei fast so hell wie die Sterne. Okay, ich dachte wie ein Mädchen, aber es war nun mal so. Ich mochte seine Augen.

„Gray?“
Er sah etwas überrascht aus. Als ob ihn noch nie jemand Gray genannt hatte. Der Spitzname lag doch nahe! Besser als ihn nur bei seinem Nachnamen anzusprechen. Alle nannten ihn nur Clade, weil er seinen Vornamen nicht mochte. Ich fand Grayson klang ganz cool, aber Gray war cooler.
„Sag nichts dazu, du hast mich Baby genannt“, verteidigte ich mich also. Okay, er hatte Baby auf den Zettel geschrieben und es war ja zu unserem Ding geworden uns durch kleine Flirts zu necken, aber irgendwie begann ich, dem Ganzen mehr Bedeutung zu schenken.

„Gefällt dir Schatzi besser?“, fragte er dann grinsend und ich musste leise lachen. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Ash. Einfach nur Ash“, antwortete ich dann, nachdem ich mich beruhigt hatte.
„Ich bleibe bei Baby“ Er zuckte mit den Schultern, ich verdrehte die Augen.
Ich mochte es, wie er das Wort aussprach.
Ich mochte seine Stimme.
Ich mochte ihn.

Niemand kennt uns wirklich (BoyxBoy)Where stories live. Discover now