Am Abgrund

209 19 7
                                    


Freitag,
(eigentlich) noch 16 Tage bis zur Hochzeit.

Paul hatte keine Ahnung, wann es passiert war, aber irgendwann in der Nacht musste er eingeschlafen sein. Als er wach wurde, zuckte er erschrocken zusammen. Kurz dachte er nach und erinnerte sich an den verhängnisvollen Abend. Das Video, Poldis Rauswurf. Alles war sofort wieder da. Paul hatte versucht Jeremy zu beruhigen, aber der war noch völlig ausgerastet. Er hatte im gesamten Wohnzimmer gewütet, hatte Regale mit den Armen mehrere Regale leer geräumt, hatte eine Whiskeyflasche in die Glaswand der Bar geworfen, sodass diese klirrend zusammenbrach, hatte rumgebrüllt bis er irgendwann in einer Ecke weinend zusammengebrochen war. Paul war mächtig überfordert gewesen. Er hatte auf ihn eingeredet und hinterher einfach nur noch immer wieder ein Glas Whiskey gegeben. Natürlich war es nicht richtig, seinen Zorn in Alkohol zu ertränken, aber was hatte er sonst tun sollen.
Paul verstand einfach nicht, was da passiert war. Noch immer konnte er nicht verstehen, wie falsch Poldi am Ende war. All die Wochen und Monate hatte sie Jeremy die große Liebe vorgespielt und Jeremy hatte ihr blind vertraut. Doch Paul war froh, dass ihr falsches Spiel noch vor der Hochzeit aufgeflogen war. Nicht auszumalen, was alles passiert wäre, wenn die Zwei schon verheiratet gewesen wäre. Jeremy hätte dadurch fast ein Großteil seines Vermögens verlieren können.
Jeremy.
Paul setzte sich auf und schaute sich um.
Doch Jeremy war nicht zu sehen.
„Verdammt!" sagte er sofort und stand auf. „JEREMY?" rief er und begann den Freund zu suchen. Überall herrschte Chaos. Anscheinend hatte er, nachdem Paul eingeschlafen war, noch mehr gewütet. Überall lagen Sachen auf den Boden. Vor allem im Schlafzimmer schien er völlig ausgerastet zu sein. Hier lagen zerrissene Bilder und zerbrochene Dekostücke auf dem Boden. Doch egal wo Paul auch suchte, Jeremy war nicht aufzufinden.
„Mach kein Scheiß, Junge!" nuschelte Paul und rief abermals nach Jeremy.
Dann lief er die Treppe wieder hinunter und verließ das Haus. Es genügte nur ein Blick um festzustellen, dass Jeremys Porsche weg war.
„Verdammt!" fluchte Paul.
Er lief wieder ins Haus, griff nach seinem Handy und wählte Jeremys Handy, doch es war aus.
Paul schaute auf die Uhr. Es war 12 Uhr durch. War er vielleicht zum Set gefahren? Arbeit war ihm immer wichtig gewesen. Vielleicht warf er sich auch jetzt wieder völlig in die Arbeit.
Also rief Paul bei Jeff an. Dieser ging auch bald an der anderen Leitung dran.
„Hey Paul! Alles klar?" fragte Jeff.
„Muss.... Sag mal.. ist Jeremy da?"
„Jeremy? Nein! Der hat sich heute krankgemeldet."
„Oh..."
„Ja hat mich auch gewundert. Das kennt man von ihm gar nicht."
„Ok gut... dann... versuch ich es noch mal über Handy."
„Alles klar... Bis bald mal, Paul."
„Ja wir sehen uns!"
Paul legte auf.
„Wo verdammt noch mal bist du..." nuschelte Paul und lief wieder aus dem Haus. Schnell sprang er in sein Auto und fuhr los. Das Tor stand, untypisch für Jeremy, weit offen. Es schien ihm also alles völlig egal zu sein. Doch Paul war es nicht egal. Er machte sich schreckliche Sorgen um den Freund. Er würde Jeremy solange suchen, bis er ihn gefunden hatte.... Egal wie lange es dauern würde.
...

Benebelt vom Alkohol fuhr Jeremy durch LA. Das er betrunken war interessierte ihm genauso wenig wie die Tatsache, dass er das ein oder andere Stop-Schild ignorierte. Es war ihm einfach alles egal.
Was er wollte war, vergessen. Die letzten Monate einfach auslöschen.
Nie zuvor war er so glücklich gewesen, wie in den letzten Wochen.
Und jetzt?
Alles kaputt... vorbei....
Wieder war er belogen worden. Wieder hatte man nur sein Geld gewollt. Wieder war er blind gewesen, hatte auf Warnungen nicht gehört und war jetzt wieder der Leidtragende.
Er konnte einfach nicht mehr.
Er wollte nur noch eins... vergessen...
Und es gab einen Ort in LA, wo er bekam was er brauchte. Wo er vergessen konnte.

Er fuhr in eine ziemlich düstere Ecke von LA.
Kaputte Autos standen an der Straße, die Häuser waren herunter gekommen und schäbig und Ratten liefen selbst am hellen Tag über die Straße.
Jeremys Porsche fiel in dieser Gegend definitiv auch und viele Passanten sahen ihm nach.
Vor einem alten grauen Haus blieb er stehen. Kurz schaute er aus dem Fenster und stieg dann aus. Sein Weg führte ihn zielsicher in das Haus.
An einer alten Holztür blieb er stehen und klopfte feste an.
Es dauerte etwas, bis ein dürrer Mann mit schulterlangen Haaren aufmachte und ihn musterte. Er trug eine alte Jeans und ein durchgeschwitztes weißes Shirt.
„Renner! ... Schon lang nicht mehr gesehen!" sagte er und schnalzte mit der Zunge. „Siehst scheiße aus."
„Quatsch nicht... du weißt was ich will...!" sagte er.
Der Mann schaute kurz über den Flur. „Komm rein...!" sagte er dann und ging mit Jeremy zurück in die Wohnung. Die Wohnung sah genauso aus, wie der Rest des Hauses. Runtergekommen und verwahrlost. Auf einem alten Holztisch lagen mehrere Pizzapackungen und leere Flaschen und auf der alten Couch lag eine zerrissene graue Decke. Die Farbe blätterte von den Wänden und es stank nach Urin, Erbrochenem und Schweiß.
„Okay... was willst du..." sagte der Mann und musterte Jeremy erneut.
Jeremy schaute zu ihm.
„Schnee... aber einiges..." antwortete er dann.
Der Mann grinste. „Hast wohl was zu vergessen?!"
„Mein ganzes Leben."
„Das ist viel...." Er ging zu einem alten Schrank und schob dort eine Schublade auf. Dann griff er rein und zog mehrere Tütchen mit weißem Pulver raus. Damit ging er zu Jeremy.
„2000!" sagte er dann und sah Jeremy ernst an.
Wortlos griff Jeremy in seine Hosentasche und drückte dem Mann ein Bündel Dollarscheine in die Hand. Der Manns ah ihn kurz an, zählte das Geld und gab im dann die Tütchen.
„Macht immer wieder Spaß mit dir Geschäfte zu machen, Renner."
Jeremy schaute ihn aus müden Augen an. Dann schob er die Tütchen in die Hosentasche, drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung.
Draußen stieg er sofort wieder in sein Auto und gab Gas. Mit quietschenden Reifen fuhr er los und sein Weg führte zurück in die Berge Hollywoods zu seinem Anwesen. Das Tor stand noch immer offen, aber er ignorierte es. Sollten sie ihm doch alles klauen. Was hatte er eigentlich noch zu verlieren.
Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Dass Paul weg war, merkte er gar nicht.
Er zog eins der Tüten aus der Tasche, riss es auf und entleerte den Inhalt auf den Glastisch. Mit einer seiner Kreditkarten schob er den Inhalt zu einer Linie zusammen und zog sich anschließend das Pulver durch die Nase.
Er verzog kurz das Gesicht. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Die Wirkung der Drogen ließ nicht lange auf sich warten. Er stöhnte leise und war bald schon gefangen in dem Rausch, der ihn alles vergessen ließ.

Spirit of the Hawk - The main attractionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt