Prolog

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Ihr Herz pochte wie irre in ihrer Brust und sie kämpfte mit den Tränen, während die ersten Gitarrentöne von der Empore durch die festlich geschmückte Kirche erklangen. Reflexartig wandte sich Gretel wie die anderen ausstaffierten Gäste um und erblickte Anna, wie sie am Arm ihres Vaters nervös durch die geöffnete Kirchentür trat.

Ein Lächeln zupfte an Gretels Mundwinkeln, als sie ihre Schwiegertochter in dem cremefarbenen Kleid anschaute. Das hatte sie mit ihr und der restlichen Entourage in dem kleinen Brautladen am Fuße der Burg Trausnitz und damit in Annas Heimatort gekauft. Weiterhin brachte die Coursagenrobe mit dem leicht ausgestellten Rock Anna zum Leuchten, obwohl sie zugeben musste, dass dieses Strahlen noch nicht im Gesicht der Braut angekommen war.

Doch dann erstarrte Anna einen Moment und Gretel ahnte, dass sie ihren Mann am Altar stehend entdeckt hatte. Sofort schien sämtliche Aufregung von ihr abzufallen und sie konnte trotz der Entfernung sehen, wie die hellblauen Augen ihrer Schwiegertochter aufblitzten.

Jonah - der Sohn von Annas bester Freundin Larissa – trat mit gewichtiger Miene vor sie und begann, die hellen Orchideen auf den Boden zu streuen. Auch Anna setzte sich mit ihrem lächelnden Vater langsam in Bewegung und schritt mit dem üppigen Lilien- und Orchideenbouquet in der freien Hand den Gang entlang.

Jetzt setzte der Gitarrist mit seinem Gesang ein und Gretel hob automatisch die Hand an ihre Brust, als er mit sanfter Stimme erklärte, er würde bleiben, bis seine Welt die Augen schließe. Zusätzlich zur Gitarre setzte nun auch noch ein E-Piano ein und Gretel hatte schwer mit sich zu kämpfen, nicht in Tränen auszubrechen. Sie konnte jede Silbe und jeden Ton fühlen. Sah es gespiegelt im Gesicht ihrer Schwiegertochter, die nun wieder aufgeregt zu werden schien, je näher sie zu Florian trat.

Die Frühsommersonne könnte gewiss nicht heller strahlen als Anna in diesem Moment und Gretel erinnerte sich sofort an den Tag, an dem sie an Annas Stelle gewesen und den Mittelgang auf ihren Hendrik zugegangen war. Wie sich ein Flattern in ihrem Bauch ausgebreitet hatte, als sie seinen erstaunten Blick auf sich gespürt hatte. So wie alle anderen. Doch die zählten nicht wirklich. Nur der Mann am Ende des Ganges hatte Bedeutung.

Jetzt entkam ihr doch eine Träne und Gretel tupfte sie mit dem zerknüllten Taschentuch von ihrer Wange, während ihr Blick langsam durch die ebenfalls mit Blumenschmuck behängten Kirchenbänke zu ihrem Sohn wanderte. Ihr Herz begann zu rasen, als sie bei ihm den gleichen Gesichtsausdruck wahrnahm wie bei seinem Vater damals.

Wie erwachsen ihr Sohn doch in den letzten Jahren geworden war und wie er – in das bunte Licht der Buntglasfenster über dem Altarraum getaucht – mit den Lichtreflexen um die Wette strahlte. Nur sein Wippen auf den Fußballen und seine zittrigen Hände verrieten seine Anspannung.

Gretel dachte an Hendriks Worte, der ihr eines Tages gestanden hatte, es wäre eine fast außerkörperliche Erfahrung gewesen, wie sie zu ihm geschwebt war. Wie heftig sein Herz unter seinen Rippen gepocht hatte. Wie schwer es ihm gefallen war, überhaupt zu atmen, während sie sich versprochen hatten, zusammen durch alle guten – und schlechten – Zeiten des Lebens zu gehen. Und die haben wir gehabt. Von beidem reichlich.

Plötzlich fröstelte sie, als sich Sehnsucht in die Freude mischte, die sie am heutigen Tag beherrschte. Sie wünschte sich für ihren Sohn und seine Frau das Gleiche: Dass sie fest zueinanderstehen konnten, in jeder Lebenslage. Vielleicht würden sie es auch besser machen als Hendrik und sie, wo vieles einfach totgeschwiegen worden war – oder es nie dazu kommen konnte, dass sie sich darüber austauschten, was zwischen ihnen stand.

Schnell schob sie den Gedanken von sich. Sie wollte sich nicht weiter damit quälen, was nicht gewesen war, sondern darin schwelgen, welche Liebe sie mit Hendrik verbunden hatte. Keines ihrer Geheimnisse hatte schließlich die Gefühle schmälern können, die sie füreinander gehabt hatten. Außerdem ist es Zeit, loszulassen. Er ist schon so lange weg.

Das milderte jedoch nicht die Wehmut, ihn heute nicht bei sich zu haben, wo ihr Sohn den Bund der Ehe eingehen und Anna ihn zum glücklichsten Mann der Welt machen würde. Die beiden hatten ebenfalls schon viele Schattenseiten aneinander und im Leben kennengelernt und trotzdem wirkten sie in diesem Moment, wo Annas Vater Florian ihre Hand übergab, als hätten sie diese Liebe nur gestärkt.

Ein Seufzen erklomm ihren Hals und wollte über ihre Zunge rollen, doch Gretel unterdrückte den Impuls. So war die Liebe: unendlich, geduldig, fordernd, bezaubernd, wankelmütig, herrisch und manchmal schmerzhaft. Sie kannte kein Gefühl, das sich mit seiner Schönheit an ihr messen könnte. Und sie hatte sie kennenlernen dürfen in all ihrer Pracht und mit all ihren Facetten.

Dafür war sie Hendrik dankbar, egal, was zwischen ihnen unausgesprochen geblieben war. Sie liebte ihn weiterhin und sie hatte die Befürchtung, dass er sie auch für immer begleiten würde. Dennoch fragte sie sich immer öfter, ob sie ihr Herz nicht wieder verschenken sollte. Aber gibt es eine zweite Liebe im Leben? Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder so lieben kann, wie ich es bei Hendrik getan habe.

Vielleicht musste sie das nicht. Hieß es nicht immer, dass jede Liebe anders war? Jetzt seufzte Gretel doch und bemerkte den Seitenblick ihrer Mutter. Ihre Augen huschten zu der Frau, die ihren Mann auch geliebt hatte, bis sie ihn zu Grabe getragen hatte. In ihrem Blick erkannte sie die gleiche Sehnsucht und Gretel griff nach den Fingern ihrer Mama, die ganz rau waren von der harten Arbeit auf dem Bauernhof, der ihrer Familie gehört hatte.

Doch nun wurde der Hof von Fremden bewirtschaftet, ihre Mutter hatte sich ein kleines Häuschen am Stadtrand gekauft, wo sie in liebevoller Hingabe den kleinen Garten pflegte, der zu ihrem Grundstück zählte. Die Liebe zu den Blumen habe ich von ihr. Wie auch das Vorbild, wie eine Beziehung funktionieren sollte.

Trotzdem hatte sie oft genug nicht funktioniert, erinnerte sich Gretel, als der Song endete und der Priester aufstand, um das Brautpaar sowie alle anderen Gäste zu begrüßen...

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Gretel - Das bin ichOn viuen les histories. Descobreix ara