IV - 13

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„Danke, dass Sie sich nochmal mit mir treffen." Gretel nickte und setzte ein Lächeln auf, während sie die Frau vor sich betrachtete, deren Babykugel sich unübersehbar vorwölbte. „Hendrik hat mir gesagt, dass sie wütend waren, weil ich ihn gebeten hab, dass Sie ihn Florian nennen."

„Ach, hat er das? Es scheint ihm erstaunlich leichtzufallen, mein Gefühlsleben vor Ihnen auszubreiten." Hastig biss sich Gretel auf die Unterlippe. Erika hatte ihren Unmut deswegen nicht verdient, schaute sie aber jetzt verunsichert an, während sie die ersten Frühlingssonnenstrahlen genossen, als sie an der Donau entlangflanierten. Oder besser watschelten. Zumindest eine von ihnen, dachte Gretel automatisch und schalt sich als Ekel.

„Ja, das machen viele Typen. Manche kommen tatsächlich, um auch zu reden. Also ... äh ... davor oder hm ... danach. Eher Letzteres." Gretel zog reflexartig die Augenbrauen hoch und sie merkte, wie Erika erst rot und dann blass wurde. „Also, Hendrik nicht. Da ist nicht ... er ist kein Kunde."

Sie nickte instinktiv, während sie pfeifend ausatmete und sich fragte, wieso sich automatisch ihre Nackenhärchen aufgestellt hatten. Wieder erschien das Bild in ihren Gedanken, wie Hendrik nach den Fingern der Frau neben ihr griff, und mit dem Daumen über deren Handrücken strich. Hastig schob sie es von sich. Er war nicht mehr der Mann von früher. Doch der bittere Geschmack auf ihrer Zunge wollte nicht so schnell vergehen.

Da Erika nun schwieg, ließ sie den Blick über die Begrünung des Parks schweifen. Einzelne Schneeglöckchen hatten sich bereits am Fuße einiger Linden aus der Erde gekämpft. Der Frühling erblühte, er war nun immer deutlicher spürbar. Sie sah sogar schon vereinzelte Triebe an den Birken und Narzissen, die ebenfalls ihre Köpfe aus dem Boden schoben. Bald würden die Osterglocken folgen.

Doch noch blies ziemlich kalter Wind, dachte sie und zog den Übergangsmantel enger um ihre zierliche Gestalt. Ein Seitenblick auf Erika zeigte ihr, dass bei dieser der Bauch ein Schließen der offenbar schon mitgenommenen Jeansjacke verhinderte. Reflexartig fragte sie sich, ob sie fror, und hielt Ausschau nach einem Café, wo sie sich etwas aufwärmen konnten.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich lieber auf einer der in regelmäßigen Abständen stehenden Bänke niedergelassen und auf die Donau gesehen, um ihre Gedanken beim Klang der Geräusche hier zu klären. Doch ein Windstoß erinnerte sie daran, dass ihre Begleiterin das sicherlich nicht als so angenehm empfinden würde wie sie. Sie wandte sich Erika wieder zu, als sie seufzte.

Erneut huschte Unsicherheit über ihre Züge. „Mein Großvater heißt Florian. Er weiß nicht, was ich tu. Weil na ja, wer geht schon zu seinem Opa und sagt, dass man sich für Kohle ficken lässt?! Die Eier hab ich nicht."

Automatisch nickte sie, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, überhaupt Geld für Körperlichkeiten zu nehmen. Allein bei dem Gedanken wollte es sie schütteln, was sie in letzter Sekunde verhindern konnte. „Also hab ich den Kontakt abgebroch'n, je mehr ich ins Milieu gerutscht bin. Ich ... er ... ich bin bei ihm aufgewachsen. Ich hab studieren woll'n. Ihn stolz mach'n, weil er sich sein Leben krummgebuckelt hat und trotzdem kaum sein Haus halt'n konnte, weil das Drecksding baufällig war. Weil er sich lieber um mich gekümmert hat, statt um's Haus. Ständig hat's woanders gefehlt."

Ein Seufzen drang aus Erikas Mund, ehe sie nachlässig mit den Schultern zuckte und sich kurz eine Strähne aus dem Gesicht wischte, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. „Erst war's Fun, für den ich noch bezahlt wurd'. 'Ne Sache, die man seinem Opa nicht erzählt. Aber er brauchte immer mehr Geld und ich hatte immer mehr Kunden. Also kam ich immer weniger zu Besuch. Aber ich denk' oft an ihn."

Nun blieb ihre Begleiterin stehen, drehte sich zu einem der größten Flüsse Europas und schaute übers Wasser hinaus. Gretel beobachtete, wie Erikas Hände das Geländer umfassten und ihre Knöchel weiß hervortraten. „Jetzt steck' ich da fest. Und bekomm 'n Kind, das mir nicht gehört, in meiner Situation, von 'nem Mann, in den ich mich verguckt hab, der aber nich' frei is' im Herz'n."

„Oh", entwischte Gretel automatisch und sie bemerkte, wie Erikas Gesicht zu ihr herumflog und der verklärte, nachdenkliche Ausdruck darauf aufklarte.

„Ja. Oh. In einer perfekten Welt würd' ich ihn behalt'n. Aber so? Das is' nich' das, was ein Kind braucht. Ich weiß, dass er's bei Ihnen guthaben wird. Ist so wie bei mir. Mein Großvater hat sich alle Mühe gegeb'n, dass ich nie bedauert hab, dass meine Eltern nich' für mich da war'n. Sie werd'n das Gleiche für mein Baby tun. Das wünsch' ich mir für ihn."

Gretel schluckte trocken und sie konnte den Blick nicht vom traurigen Lächeln ihres Gegenübers abwenden. Erst jetzt verstand sie, dass auch Erika unter der Situation litt. Sie hatte es geahnt, aber nur zu gerne von sich geschoben. Sich in ihrer eigenen Misere zu suhlen, war um so vieles einfacher gewesen, als den Blick auf ihre Umwelt zu richten und wahrzunehmen, dass auch andere mit sich kämpften. Betroffen senkte Gretel die Augen und starrte auf die Kräusel, die das Wasser in einer Stromschnelle bildete.

„Florian. Er wird Florian heißen." Ihr Flüstern wurde von einer kleinen Böe fortgetragen, doch sie hörte, wie Erika aufschluchzte. Sie richtete sich etwas auf und schaute in die Ferne. Dorthin, wo die Sonne sich auf der Oberfläche spiegelte und fühlte, wie der Wind mit einer der Strähnen um ihr Gesicht spielte, während auch ihr Tränen in die Augen traten.

Automatisch griff sie nach der Hand der anderen Frau und spürte, wie ihre Finger zitterten. Sie nahm wahr, wie immer mehr Schluchzer aus Erikas Mund drangen. Plötzlich fiel etwas von dem Druck von ihrer Brust, als die biologische Mutter ihres Kindes ein Danke flüsterte, das ebenso wie ihre Worte von der Brise weggeweht wurde.

„Alles wird gut, wissen Sie, Erika? Das ist immer so. Das ist ein Naturgesetz, egal, wie dunkel es manchmal zu sein scheint." Sie drehte sich zu der Frau, die ihr Kind unter dem Herzen trug und sah, wie sie mit der freien Hand über ihre Wange strich. „Ich werde gut für Florian sorgen. Mit allem, was ich habe und was ich ihm schenken kann."

Ich habe gesehen, wie sie diese Tatsache getröstet hat, entsann sie sich und sah, wie erneut eine Rakete ihre Farben über ihnen ausschüttete.
Wie dankbar sie Erika heute für ihre Weitsicht war, konnte sie nicht in Worte fassen. Ab diesem Augenblick hatte sie den kleinen Menschen in deren Bauch als zu sich gehörig gesehen, dachte sie und zuckte zusammen, weil sich abrupt Wärme auf ihre Schulter legte.
Ihr Blick flog zum Ursprung dieser Empfindung und sie schaute in die kornblumenblauen Augen ihres Sohnes, um dessen Lippen ein verschmitztes, jungenhaftes Lächeln spielte. Sofort setzte ihr Herz einen Schlag aus und sie merkte, wie sie sein Schmunzeln erwiderte.

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Gretel - Das bin ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt