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Obwohl seit Hendriks Tod schon acht Monate ins Land gegangen waren, haderte Gretel weiterhin mit sich. Doch vor allem mit Flo. Nein, das ist falsch. Ich hadere mit mir, weil ich nicht weiß, was ich Flos Trauer entgegensetzen soll. Ich bin nicht Hendrik und kann diese Leere nie füllen.

Sie schaute von der Arbeit auf, unter die sie ihre Unterschrift gesetzt hatte und bemerkte, dass ihr Sohn bereits sein Kinn vorgeschoben hatte. Andererseits wippte er auf seinen Fußballen auf und ab und konnte ihrem Blick nicht standhalten. Ein Seufzen stieg in ihrer Kehle auf, doch sie schluckte es. Wieder fielen ihre Augen auf die Fünf, die groß und fett in leuchtendem Rot auf dem Blatt prangte.

„Gib schon deinen Senf dazu. Ich bin nicht bescheuert, ich weiß, dass dir das gegen den Strich geht." Sein patziger Ton ließ ihr Gesicht zurück zu ihm schnellen und sie schüttelte müde den Kopf. Es brachte ohnehin nichts, ihn mit Vorwürfen zu überschütten.

„Was soll ich dazu sagen? Offenbar sperrst du dich im Moment gegen jegliche Hilfe, die ich dir angeboten habe. Ich bezahle einen Nachhilfelehrer, den du versetzt, um mit deinen Freunden um die Häuser zu ziehen, du betrinkst dich, Fußball scheint in deiner Beliebtheitsskala genauso gesunken zu sein wie das Zeichnen..." Erneut wich er ihrem Blick aus und biss sich auf die Unterlippe. Einzig ein nachlässiges Schulterzucken vermittelte ihr, dass er sie gehört hatte. Müde schob sie ihm die Deutsch-Arbeit zu und stützte ihren Kopf in den Händen ab.

Sie wollte nur noch schlafen. Die ewigen Kämpfe mit Florian forderten allmählich ihren Tribut und sie war nicht stabil genug, um ihnen standzuhalten. Letztens hatte sie sogar Gras zwischen seinen Socken gefunden, als sie die dreckige Wäsche in seinem Zimmer eingesammelt und entdeckt hatte, dass die Schublade zu seiner Kommode offenstand.

„Sag mir, wie ich dir helfen kann, Flo. Denn ich weiß es nicht. Ich bin mit meinem Latein am Ende." Jetzt huschten seine Augen zu ihrem Gesicht und er rollte mit ihnen. Wann hatten sie den Draht zueinander so derart verloren, dass sie zwar miteinander redeten, aber nichts kam beim anderen an?

„Ich will einfach meine Mutter zurück. Du bist ein Scheißroboter. Nicht mehr. Jedes Trösten, jede Umarmung, alles ist fake. Tu mir einen Gefallen und gib mich wieder zur Adoption frei. Denn alles ist besser als dein Gehabe." Mit diesen Worten griff er nach dem Blatt vor ihr, wandte sich ab und wollte aus dem Wohnbereich stürmen, als sie die Lippen vorschob und nickte. Auch dieser Vorwurf versackte bei den anderen dieser Art, die er ihr immer wieder machte.

Sie hatte einfach keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren. Dennoch schloss sie die Augen und flüsterte: „Du bist nicht fair."

Sie hörte, wie das Papier raschelte und als sie die Augenlider öffnete, merkte sie, dass er zu ihr herumgefahren war. „Fair? DU redest von fair?! Du tust so, als hätte es ihn nie gegeben!"

Sie wusste nicht, woher plötzlich der Energiestoß kam, aber sie sprang auf die Beine. „Es reicht jetzt, Florian! Ich habe verstanden, dass ich mich nicht so verhalte, wie ich es offenbar sollte. Aber ich tue, was ich kann ok? Ich versuche, diese kaputte Familie irgendwie zusammenzuhalten, die Lücke, die dein Vater hinterlassen hat, so gut es mir möglich ist, auszufüllen. Aber ich bin nicht er, ok? Ich bin ich und ich weiß auch gerade nicht, wie ich weitermachen soll. Doch es sind Rechnungen zu bezahlen, ich habe ein Job, ein Kind, das seinen Vater vermisst und den ganzen anderen Scheiß, der mir an den Hacken klebt. Denkst du nicht, mir wäre nicht danach, völlig auszuflippen, weil der Mann, den ich seit meiner Jugend geliebt habe, so unvermittelt aus unserem Leben gerissen wurde? Glaubst du wirklich, es interessiert mich nicht?"

Sie bemerkte wie nebenbei, dass Florian sie anstarrte, als hätte sie völlig den Verstand verloren. Und so weit war er mit der Vermutung gar nicht entfernt. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr in diesem Moment sämtliche Kontrolle über ihre Emotionen entgleiten. Tränen sammelten sich in ihren Augen und ein Schluchzen drang über ihre Lippen, als die erste über ihr Gesicht lief.

Doch all die Trauer, die sie sich bis jetzt verboten hatte, brach nun aus jedem Winkel ihres Innersten an die Oberfläche. Sie konnte kaum mehr sprechen, so sehr schüttelte es sie, während sich ihre Sicht immer mehr verschleierte. „Es ist meine Pflicht, alles am Laufen zu halten. Ich muss für alles da sein. Aber manchmal möchte ich mich einfach nur am Boden einrollen und dort liegen bleiben, bis dieser dumpfe Schmerz vergangen ist, dass dein Vater nie wieder durch die Tür kommt. Doch ich kann nicht. Denn ich muss dafür sorgen, dass du dich nicht aufgibst. Du bist so viel wichtiger als ich in dem Moment. Aber das siehst du nicht. Du siehst MICH nicht."

Plötzlich legten sich Arme um sie und sie ließ ihren Kopf auf die schmalen Schultern sinken. „Es ist auch gar nicht deine Aufgabe, mich zu sehen. Aber es ist unfair, dass du mir vorwirfst, ich hätte deinen Vater nie geliebt und würde nicht mein Bestes geben. Ich würde dir gerne so viel mehr geben. Ich würde ihn für uns zurückholen, wenn ich könnte. Aber ich kann es nicht, Flo. Ich kann es einfach nicht. Ich will einfach nur noch aus diesem Traum aufwachen und feststellen, dass mein Hirn mir einen üblen Streich gespielt hat. Doch auch das geht nicht. Weil er weg ist. Oh Gott, er ist weg."

„Schon ok, Ma." Sein tränenersticktes Flüstern beantwortete sie automatisch mit einem Kopfschütteln. Es war nicht ok. Und manchmal hasste sie Hendrik dafür, dass er sich entschieden hatte, dem Leben seines Kollegen den Vorrang vor seinem zu geben. Doch im gleichen Moment erkannte sie, dass ihr Mann schlicht so gewesen war und daran niemals irgendwas etwas geändert hätte.

„Ich vermisse ihn so sehr, Raupe." Kaum waren die Worte aus ihrem Mund geschlüpft, merkte sie, wie Florians Wärme sich ganz allmählich einen Weg zu der Stelle bahnte, wo ein Eispanzer ihre Wunden umschloss. Dort angekommen, legte sich seine Nähe wie Balsam auf die darunter eiternden Blessuren.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, bevor es abrupt zu rasen begann. Mit jedem gewaltvollen Pochen in ihrem Brustkorb schien es den Panzer um ihre Gefühle mehr zu beschädigen. Bis er zerbarst. Die Worte, die sich jetzt in ihrem Hals sammelten, drängelten und schubsten sich gegenseitig, weil sie es nicht mehr erwarten konnten, endlich wieder ans Tageslicht zu treten. So fühlte es sich zumindest an, während sie schluchzend in den Armen ihres Kindes lag und versuchte, die kaum verständlichen Buchstaben in eine logische Abfolge zu bringen. Doch es ging nicht mehr.

Stattdessen spürte sie, wie Florian ihr durch ihr Haar strich und über ihren Rücken, indessen sich nun ihre Nägel in seine zarte Haut krallten. Zu lange hatte sie alles verborgen. Zu wenig zugelassen, was sie schon vor acht Monaten aus der Fassung gebracht hatte. „Wir bekommen das hin, Mama. Zusammen, ok? Ich verstehe es jetzt."

Als diese Worte ihres Kindes in ihr Bewusstsein sickerten, ließ sie sich dankbar gegen ihn sinken. Sie war stark. Aber gerade brauchte sie seine Hilfe.

„Ma, ist alles ok?" Ihr Blick ruckte hoch und sie nickte schnell, obwohl sein Stirnrunzeln ihr schon verriet, dass er ihr nicht glaubte. Sie beeilte sich, sich wieder aufzurichten, und zuckte mit den Schultern.
„Ich bin ok, Raupe. Es ist ein wunderschöner Tag." Sie schaute in Florians Gesicht und ließ zu, dass er sie in seine Arme zog. Mit einem Seufzen schmiegte sie ihren Kopf an seine breiten Schultern und merkte, wie sie sich sofort getröstet fühlte.
„Aber Papa fehlt dir?" Mit geschlossenen Lidern murmelte sie eine Zustimmung und hörte, wie ihr Sohn erklärte, es ginge ihm ebenso. Sie lehnte sich etwas zurück und lächelte genauso traurig wie Flo. Da war sie wieder, die Verbindung, die sie an diesem Tag geknüpft und die sie nie verloren hatten. Sie hatte sich verändert, das ja. Doch an jenem Tag waren sie mehr geworden als Mutter und Kind. Sie wurden zu Verbündeten.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now