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Gretel blieb an Ort und Stelle stehen, als sich ihre Brust schmerzhaft zusammenzog und ihr die Luft abschnürte. Sie fragte sich, ob sie anders reagiert hätte, hätte sie gewusst, dass es das letzte Mal gewesen war, ihre große Liebe lächeln zu sehen. Noch immer belastete sie die Ungewissheit, ob es nur das eine Geheimnis war oder ob er mehr vor ihr verborgen hatte, von dem sie nichts geahnt hatte. Weiterhin marterte es sie, dass sie sofort mit Misstrauen reagiert hatte, obwohl er ihr nie das Gefühl gegeben hatte, an ihm zweifeln zu müssen. Sie schloss die Augen und gab dem Schmerz nach, der nun durch sie jagte...

Sie versuchte, Florian zu folgen, der von seinem spektakulären Tor im Training erzählte und ihre Gefühle beiseitezuschieben, dass später noch ein unangenehmes Gespräch auf sie wartete. Denn Florian wollte nur noch einen Happen mit ihnen essen und sich dann mit Erik und der Clique treffen. Das hieß, dass Hendrik ihr reinen Wein einschenken würde.

Weiterhin fragte sie sich, ob sie ihn nach dem heutigen Tag genauso wie damals, als sie sein Geheimnis entdeckt hatte, aus einer anderen Perspektive anschauen würde. Sie nickte automatisch, als Flo sich erkundigte, ob sie ihn zum nächsten Spiel begleiten würde und merkte, wie er die Augen zusammenkniff und sie musterte. „Ist alles ok, Ma?"

„Aber klar, Raupe. Es klingt echt spektakulär, wie du das Tor geschossen hast." Unwillen legte sich auf das Gesicht ihres Sohnes, auf dessen Oberlippe sich langsam ein Flaum bildete.

„Du sollst mich doch nicht mehr Raupe nennen. Ich bin 16 geworden. Vor immerhin fast drei Monaten." Jetzt konnte sie nicht verhindern, dass sich doch ein Lächeln auf ihre Züge schlich und sie nickte, ehe sie eine Entschuldigung murmelte. Wie schnell doch die Zeit verflogen war. Sie beobachtete, wie sich Florians Gesicht zufrieden wieder aufhellte und wie er herumfuhr, als es an der Tür klingelte.

„Oh, Mann. Wann lernt Papa, dass er die Einkaufstüten auch absetzen kann, um sich aufzuschließen?" Sie zuckte nur mit den Schultern und merkte, wie sich ihre Brust wieder etwas zusammenzog, während Flo in den Flur hinauslief. Sie wusste gar nicht, wie sie ihrem Mann gegenübertreten sollte. Seufzend stand sie auf und wollte Florians Glas in die Küche stellen und sich schon mal aufs Kochen einstellen, als sie Flo schreien hörte. „Mam! Mam! Nein! Mama!"

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, während sie in den Flur hinaushechtete und in der Tür die beiden Uniformierten stehen sah, die ihrem Blick auswichen. Sofort wurde sämtlicher Sauerstoff aus ihren Lungen gepresst und sie schnappte nach Luft, während ganz langsam eine Erkenntnis zu ihr durchrang. „Es tut mir sehr leid, Frau Gruber..."

Sie schüttelte den Kopf und bemerkte, wie Flos Beine unter ihm nachgaben. Schneller, als sie es für möglich gehalten hätte, überquerte sie die Distanz zu ihm und ging neben ihm in die Knie. Sie bekam keine Luft, während sie ihren Sohn an ihre Brust drückte und sein Schluchzen glühende Messerklingen in ihren verkrampften Brustkorb schlug. „Mama, sag, dass Papa gleich klingelt. Mama!"

Sie konnte nichts sagen. Kein Ton brach über ihre Lippen, während sich Tränen in ihren Augen sammelten. Sie ließ sich auf ihren Po plumpsen, zog ihren Sohn auf seinen Schoß und barg sein Gesicht an ihrem rasenden Herzen. Sofort merkte sie, wie das Top unter ihm sich mit seinen Tränen vollsog und sie versuchte, die Starre abzuschütteln, die in ihr hochkroch. Sie hatte für Florian da zu sein.

Hilflos wanderten ihre Augen zu Hendriks Kollegen, die ihre Mützen in ihren Händen drehten und wirkten, als wäre ihnen genauso mies zumute wie den Menschen, denen sie diese lebensverändernde Nachricht überbracht hatten. Sie hörte, wie sich der Ältere von ihnen räusperte. Wie nebenbei fiel ihr auf, dass er schütteres Haar in der Farbe eines schmutzigen Straßenköters hatte und seine grauen Augen ihren Blick suchten. „Er ... Hendrik ... er hat ... er musste mit seinem jüngeren Kollegen zu einem Tatverdächtigen. Er ... also, der Tatverdächtige ... war nicht als gefährlich eingestuft. Es ging um ein ... er war nur ein blöder Computernerd."

Sie starrte den Mann an und versuchte, irgendwie Luft zu holen, um nicht den Verstand zu verlieren. Unterdessen drang seine brüchige, aufgewühlte Stimme zu ihr, als er ihr erklärte, dass der Tatverdächtige sofort das Feuer eröffnet hatte, kaum dass die beiden Polizisten an dessen Tür geklopft und sich als Beamten ausgewiesen hatten. Sie merkte, wie ihr Kinn zu zittern begann und schmiegte ihren Kopf an den ihres Sohnes, der weiterhin haltlos schluchzte. 

Jeder Laut gellte in ihren Ohren und Gretel war fast überrascht, dass sie die Worte des Uniformierten vor sich noch verstand. „Ihr Mann ... Hendrik ist ein Held. Er war ein Held. Er hat seinen Partner zur Seite gestoßen, der in ein paar Monaten Vater werden wird. Der Tatverdächtige konnte entkommen, während der Kollege sich um die Erstversorgung gekümmert und nachalarmiert hat. Doch er konnte nichts mehr für Hendrik tun."

Jetzt entkam ihr doch ein Schluchzen und sie nickte nur. Das hatte sie von ihrem Mann erwartet, der seit seinem Kampf gegen den Alkoholismus seine Familie über alles gestellt hatte. Deswegen war es auf irgendeine Art und Weise nur logisch, dass er es nicht zulassen konnte, dass ein Kind ohne seinen Vater aufwachsen wurde. Auch, wenn es bedeutete, dass sein Sohn künftig ohne ihn auskommen musste. Sie strich ihrem wimmernden Jungen durch sein verschwitzten Haarschopf und bedankte sich bei den Uniformierten dafür, dass sie ihnen die Nachricht überbracht hatten.

„Frau Gruber, wenn wir irgendwas tun können..." Ihre Augen flogen zum Jüngeren der beiden, der sie mit rauer Stimme ansprach und sie mit rotgeäderten Augäpfeln in seinem Babyface anschaute. Plötzlich runzelte sie die Stirn, weil ihr auffiel, dass er seine schwere Lederjacke trug, obwohl draußen eine Bullenhitze herrschte.

Ihr Blick glitt an ihm hinunter und sie sah das Blut, das sich in seinen bebenden Nagelbetten verkrustet hatte. Trocken schluckte sie und sie schüttelte nur den Kopf, während sie eine Gänsehaut überlief. Es gab nichts dazu zu sagen. Obwohl sie dem Polizisten gerne dafür gedankt hätte, dass er Hendriks Familie die Ehre erwies, sie von seinem Tod persönlich in Kenntnis zu setzen. Sie spürte, wie Hendriks Partner sie mit hängenden Schultern musterte, als würde er gerne noch mehr sagen, doch er schwieg.

Wieder schien die Welt stillzustehen. Lediglich Florian zeigte ihr, dass sie es nicht tat. Denn er weinte weiterhin an ihrer Brust. Kurz wallte der Gedanke in ihr auf, ob er mitbekommen hatte, was die Polizisten ihnen erzählt hatten. Doch im gleichen Moment stellte sie fest, dass es unwichtig war. Er war weg, daran änderte sich auch nichts, nur weil sie jetzt wussten, warum. Mühsam riss sie ihren Blick von den blutigen Nagelbetten los und merkte, wie er ins Leere ging.

Doch ein erneutes Räuspern verhinderte, dass sie in die selige Ungläubigkeit abgleiten konnte. Ihre Augen flogen zu der Quelle des Geräusches und sie hörte, wie sich der Ältere der beiden verabschiedete. Wieder blieb sie stumm. Ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen und wollte schlicht ihren Dienst nicht tun. Da die Uniformierten jedoch auf ein Zeichen zu warten schienen, dass sie gehen konnten, nickte sie kaum merklich.

Ich hab nie gemerkt, wie viel Kraft es kostet, den Kopf zu senken und wieder aufzurichten. Sie beobachtete, wie Hendriks Partner die zitternde Hand nach der Türklinke ausstreckte, dann jedoch seine Augen auf seine Finger fielen. Als würde er plötzlich begreifen, dass an ihnen noch das Blut des Mannes klebte, dessen Todesnachricht er gerade verkündet hatte, ließ er seine Hand fallen, ohne den Griff berührt zu haben. Stattdessen warf er ihr nochmal einen bedauernden Blick zu und wandte sich mit hängenden Schultern um. Allmählich verschwanden die zwei Polizisten aus ihrem Blickfeld und sie stieß mit dem Fuß die Tür ins Schloss.

Während sie merkte, dass ihr Sohn mittlerweile nur noch trocken schluchzte, weil er offenbar keine Tränen mehr hatte, starrte sie auf das Bild, das ihr gegenüber an der Wand hing. Es zeigte Hendrik, Florian und sie am Tag ihres zweiten Gelübdes.

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Gretel - Das bin ichМесто, где живут истории. Откройте их для себя