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Wie an diesem Abend waberte das Gesicht verschwommen in ihren Gedanken auf und wie seitdem schob sie es wieder rigoros zur Seite. Es hatte nie Bedeutung gehabt und das würde es auch niemals. Wieso also sollte sie anerkennen, dass sich weiterhin ihr Herz verkrampfte, wenn sie daran dachte, wie die Augen darin leuchten konnten? Dazu bestand überhaupt keine Veranlassung, beruhigte sie sich und stieg hinters Steuer ihres Wagens. Gretel wartete, bis ihre Mutter sich ebenfalls angeschnallt hatte und startete anschließend den Motor, um sich in die Wagenkolonne hinter dem Brautauto einzureihen. Sie wusste, dass sie jetzt alle laut hupend zur Fotolocation fahren würden. Sie warf ihrer Mutter ein schiefes Lächeln zu und drehte sowohl die Klimaanlage als auch das Radio lauter. Sofort drang die Stimme des OneRepublic-Sängers voller durch den Innenraum und ihre Finger trommelten auf das Lenkrad. „I, I did it all, I owned every second that this world could give..."
Sie merkte, wie sich ein Lächeln auf ihr Gesicht schlich und grölte: „I saw so many places, the things that I did, with every broken bone, I swear I lived..." während sie diese Zeilen sang, hupte sie immer wieder laut – um das Leben und die Liebe gebührend zu feiern...

Schon den ganzen Tag war sie unruhig und kämpfte wiederholt mit den Tränen. Die Zeit zwischen dem Abschlussball und Flos Auszug heute schien nur so verflogen zu sein. Sie hatte nicht das Gefühl, als hätte sie genug Momente mit ihrem Sohn gesammelt, um nun allein durch ihr Leben zu tingeln. Mit wem kann ich mich jetzt jeden Freitag aufs Sofa kuscheln und die widersinnigsten Schnulzen angucken, wenn nicht mit Florian und Anna?

Trotzdem spürte sie die Aufregung der zwei jungen Erwachsenen, die sich merklich darauf freuten, den nächsten Schritt in ihr Leben als eigenständige Personen zu machen. Was sie auch immer wieder lächeln ließ. Sie hatte ganz vergessen, wie sich das anfühlte. Ihr Eintritt in die Selbstständigkeit war so lange her und heute schwangen die Erinnerungen daran unmittelbar unter der Oberfläche. Es erwartete die zwei eine aufregende Zeit und sie wusste instinktiv, dass sie diese auch mit Bravour bestehen würden.

Dennoch wurde ihr mit ihr mit jedem Karton flauer, der in den angemieteten Sprinter geladen wurde. Emmy hatte ihr gesagt, sie solle sich daran entsinnen, dass dies genauso ein Schritt in ihre eigene Eigenständigkeit war. Dass sie die Mutterrolle ein Stück mehr abstreifen könne und wieder ganz zu Gretel werden konnte. Das Problem ist nur, dass ich mich gar nicht daran erinnern kann, wer die Frau ist, die sich Gretel nennt.

Florians komplette Fußballmannschaft half und die Masse an Menschen machte sie heute ebenfalls nervös, obwohl sie es eigentlich genießen sollte. Immerhin bedeuteten viele Personen einiges an Ablenkung. Doch so ganz ging dieses Konzept nicht auf. Stattdessen hielt sie immer wieder inne. Sie schaute auf die Fotos im Flur, während das Wissen durch sie hallte, dass von den drei Familienmitgliedern auf den Bildern nur noch eins übrig war, das durch dieses Haus wandern würde. Hör jetzt auf, verdammt! Florian ist nicht tot, ok? Er zieht nur aus! Du kannst ihn besuchen, genauso wie er weiß, dass er jederzeit zurückkommen kann! Also bekomm dich endlich in den Griff!

Angestrengt wandte sie ihr Gesicht von der Bildergalerie an der Flurwand ab und gab ihren Füßen den Befehl, wieder in die Küche zurückzukehren, wo Anna bereits dabei war, belegte Brote für die Helfer zu machen. Sobald der letzte Karton verstaut worden war, würden alle sich nochmal stärken, ehe sie nach Stuttgart aufbrachen. Erneut rieselte ein Zittern durch sie, als sie begriff, dass dieser Moment nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Immerhin waren so viele Helfer da, dass sich Florians Zimmer schnell leerte. Zurückbleiben würden nur seine Möbel. Und ich.

Sie schüttelte hastig den Kopf und trat durch die Tür. Sie stellte sich neben Anna, deren Gesicht sich zu ihr drehte. Flos Freundin musterte sie, ehe sie sich wieder auf die Brotscheibe vor sich konzentrierte und noch eine zusätzliche Scheibe Schinken drauflegte. „Du kannst uns jederzeit besuchen, das weißt du, oder?"

Gretel nickte und griff nach der Butter und einem Messer, um danach nach einem anderen Stück Bauernbrot zu angeln. „Klar. Ihr seid ja nicht aus der Welt."

„Genau. Knapp drei Stunden. Das ist so gut wie nichts. Kommt immer auf die Relation an." Anna hob ihren Kopf nun erneut und schaute sie an, sodass auch Gretels Blick zu ihr wanderte. Ein Seufzen drang über ihre Lippen, ehe sie wieder ein Lächeln aufsetzte und mit den Schultern zuckte.

„Ich weiß. Ich freue mich wahnsinnig für euch." Nun murmelte Anna eine Zustimmung, ehe sie das fertiggestellte Schnittchen auf die bereits gefüllte Platte balancierte. Es war Gretel peinlich, dass ihre Gefühle für die junge Frau vor ihr anscheinend so ersichtlich waren. Doch Florians Liebste nahm sich nun ihr Schneidbrett, das scharfe Messer und begann, die bereitgelegte Zwiebel abzuziehen, die sie für einen ihrer phänomenalen Brotaufstriche brauchte.

Während sich der scharfe Geruch des Gemüses in der Küche ausbreitete und Anna Tränen in die Augen schossen, wandte sie sich wieder ihrem belegten Brot zu. „Ich glaube dir sofort, dass du dich über Flos und meinen Neustart freust. Heißt aber nicht, dass du nicht auch traurig sein darfst. Dein Leben wird sich jetzt ändern. Ich kann mir vorstellen, dass das ziemlich in dir arbeitet. In mir würde es arbeiten."

„Sollte es aber nicht." Ihre Stimme klang harsch und Anna tat ihren Einwand mit einem Schulterzucken ab. Wie so oft baute sich in Gretel Bewunderung für die junge Frau neben ihr auf: Sie hatte viel einstecken müssen und hatte sich dennoch ihr Mitgefühl für andere bewahrt. Genau deswegen ist sie die Frau, die meine Raupe braucht. Sie begreift, wovor er gerne die Augen verschließt. Und er sieht sie, wie sie sich nicht sehen kann. Sie ergänzen sich.

„Mag sein. Aber ich denke, es ist einfach menschlich. Um ehrlich zu sein, ich hab die Hosen gestrichen voll. Wenn das nämlich nicht klappt, hab ich keinen Platz, wohin ich zurückkann. Alles auf Risiko. Das ist es, was Flo mit mir macht. Ein Abenteuer jagt das nächste." Da Anna sie angrinste, während ihr vom Zwiebelsaft die Augen tränten, lächelte auch Gretel. „Ich liebe es. Ihn. Ich denke, ich sage es ihm zu wenig. Aber mein Leben hat sich im letzten Jahr ziemlich verändert. Zum Guten. Er hat mich Hoffnung gelehrt. Die hat er von dir."

Jetzt drängten auch ihre Tränen an die Oberfläche und sie zog Anna an ihre Brust. Sie merkte, wie sich Anspannung aus dem Körper in ihrem Armen verflüchtigte und lehnte den Kopf an die Locken, die über ihre Wange kitzelten. „Danke."

Mehr brachte sie beim besten Willen nicht raus. Sie spürte, wie Annas Haar sich an ihr Gesicht klebte, weil die einzelnen Strähnen feucht wurden, und ihr Herz pochte wie wild gegen ihren Rippenbogen, als Florians Freundin nur nickte. Während sich auch Annas Arme um ihre Mitte schlangen, merkte Gretel plötzlich, wie ihr etwas leichter wurde. Ihrem Sohn würde es gutgehen. Und ihr genauso. Dafür würde sie sorgen.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now