III - 14

9 5 12
                                    

Ein Schluchzen brach aus ihrer Kehle und sie erstickte es hastig unter ihrer Hand. Sie wusste nicht, ob die Frauen die Toilette verlassen hatten, während sie in der Kabine ihren Erinnerungen erlegen war. Aber im Grunde war es egal. Der Schmerz rollte in Wellen durch sie und sie biss sich auf die Zunge, bis sie ihr Blut schmeckte.Damals hatte ich das Gefühl, zu sterben. Genau diese Empfindung brach in diesem Moment brachial aus ihr hervor und sie brauchte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigen konnte. Nachdem es ihr gelungen war, riss sie ein bisschen Klopapier von der Rolle neben sich ab und wischte sich über die Augen, was dichte schwarze Schlieren darauf hinterließ. Entnervt stöhnte Gretel auf. Das hieß wohl, dass sie sich nochmal herrichten musste, denn recht viel länger konnte sie den Feierlichkeiten nicht fernbleiben...

Das Getrappel der Kinderbeine entfernte sich ein bisschen und Gretel schaute sich in dem buntgeschmückten Wohnzimmer ihrer Eltern um. Es würde einige Zeit in Anspruch nehmen, es wieder sauber zu bekommen. Aber Florians Freude über die Tatsache, dass er seine Freunde aus dem Kindergarten zu seiner Geburtstagsfeier einladen durfte, war genug Entschädigung für den ganzen Stress in den letzten Tagen.

Schade, dass das Wetter so schlecht geworden ist. Die Schnitzeljagd wäre draußen auf dem Hof bestimmt schöner gewesen als im Haus. Doch zum Glück konnten wir die Rätsel noch umgestalten und sie nach drinnen verlagern. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern und lächelte kaum merklich. Weiterhin spürte sie die gleiche bleierne Müdigkeit wie an dem Tag, an dem sie ausgezogen war. Noch immer klingelten ihre Ohren von den Fragen ihres Sohnes, wann sie zurück nach Hause gehen würden. Doch inzwischen waren sie weniger geworden. Kein Wunder. Immerhin sind mittlerweile schon wieder knapp drei Monate vergangen.

Ich sollte mir wahrscheinlich langsam eine Wohnung suchen. Von Hendrik keine Spur. Er hat den Kampf offenbar nicht angenommen. Ich muss mich wohl damit abfinden und Flos und mein weiteres Leben in Angriff nehmen. Ein Seufzen entwich ihr und sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, ehe sie sich vom Anblick des dunkelgrünen Ledersofas loseiste und zum Fenster trat, um in den trüben Aprilnachmittag zu schauen.

Sofort fiel ihr Blick auf einen dunkelblauen Wagen und sie runzelte die Stirn. Sie kannte das Auto nicht. Und die Mamas und Papas ihrer kleinen Gäste würden erst in zwei Stunden zurückkommen, um ihren – mit Süßkram und Torte vollgestopften – Nachwuchs entgegennehmen. Wer also saß dort in dem PKW auf dem Hof ihrer Eltern? Reflexartig kniff sie die Augen zusammen und schnappte nach Luft, als sie Hendrik erkannte.

Offenbar haderte er mit sich, ob er aussteigen sollte, zumindest schien sein Blick sich immer wieder auf seinen Schoss zu senken, ehe er den Kopf Richtung Haustür bewegte. Sofort wurden ihre Hände schwitzig und ein Prickeln lief durch sie. Augenblicklich baute sich in ihr der Drang auf, zu ihm zu eilen. Doch sie widerstand ihm. Es war so viel vorgefallen, das weiterhin in ihr arbeitete.

Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich Schritte hörte und zwang sich, die Augen abzuwenden. Ihre Mutter lächelte ihr von aus der Tür entgegen und kam auf sie zu. Sie legte Gretel ihre Hand auf dem Arm und fragte: „Schade, dass das Wetter so umgeschlagen hat."

Gretel nickte nur und ihr Blick wurde wieder angezogen von dem blauen VW im Innenhof. Sie merkte, wie ihre Mutter sich ebenfalls zum Fenster wandte und hörte ihren Ausruf des Erstaunens. „Ist das Hendrik da?"

Sie nickte und seufzte laut, während sie im Augenwinkel sah, dass ihre Mama ihr das Gesicht zuwandte. Bewusst achtete sie darauf, dass sie keine Miene verzog. Trotzdem schien ihre Mutter jedoch ihren Gefühlsaufruhr zu merken, denn sie strich ihr sanft übers Haar. „Gretchen, geh zu ihm. Wenn nicht für dich, dann für euren Sohn."

Ein Seufzen brach aus Gretel hervor und sie spürte, wie ihre Mutter ihr noch einen Kuss auf die Stirn drückte. Anschließend wandte sie sich ab und murmelte, sie würde dann Papa helfen, die Horde Flöhe weiter zu hüten. Wieder nickte Gretel und schloss die Augen. Ihr Herz pochte wie wild in ihrer Brust, wenn sie sich vorstellte, ihm gegenüberzustehen. Aber sie konnte auch die Argumentation ihrer Mutter verstehen. Also stieß sie sich seufzend vom Fensterrahmen ab und ging in den Flur, um sich ihre Jacke überzustreifen.

Sie trat auf die kleine Eingangsveranda, die sich über die halbe Breite des Hauses erstreckte. Neben ihr, unter dem Wohnzimmerfenster standen die hölzerne Bank und der schmale Tisch, an dem sie mit ihrem Vater Haselnüsse geknackt und Karten gespielt hatte. Schatten hatte an heißen Tagen der halbhohe Flieder gespendet, der an den Balkon über ihr gerankt war und die dicken Holzpfosten mit seinen Ästen umschlungen. Sie musste nicht hochsehen, um zu wissen, dass er auch dieses Jahr wieder die schönsten Blüten tragen würde.

Ihre Aufmerksamkeit war ohnehin auf das Auto fokussiert, dessen Scheibenwischer in einem festgesetzten Intervall den Nieselregen von den Scheiben fegte. Mit jeden Schritt schien ihr Herz einen Tacken schneller zu schlagen und als sie neben dem Auto stand, bemerkte sie, dass Hendrik gedankenverloren auf ein in - mit Luftballons bedrucktes - Geschenkpapier eingewickeltes Präsent schaute.

Augenblicklich machte sie ihr Herz einen Hüpfer und sie biss sich auf die Unterlippe, als sie ihre Rechte ballte und sie langsam hob. Gretel zuckte genauso zusammen wie Hendrik, als ihre Hand auf die kühle Scheibe traf. Sie beobachtete, wie Hendrik hektisch am Schloss herumfummelte und kurz darauf auf einen Knopf unterhalb des Glases drückte. Mit einem Surren glitt es in die Seitentür. Ihr Atem stockte, als sie ihrem Mann nach so langer Zeit ins Gesicht schaute.

Zuerst fiel ihr auf, dass sein Haar geschnitten war, er seinen Bart gestutzt hatte und seine Augen klar waren. Dann bemerkte sie trotzdem dunkle Schatten darunter. Zudem war er blass. Nicht vergleichbar mit dem Teint, den er gehabt hatte, als er so abartig nach Wodka gestunken hatte, aber bleich. Als würde er zu wenig schlafen und sich nicht gesund genug ernähren.

„Hi." Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Wispern sofort von der leichten Brise weggetragen werden, ohne, dass es auf sein Ohr getroffen wäre. Doch seine Brauen ruckten kurz schräg nach oben, während er hörbar schluckte.

„Hi." Sein warmes Stimmtimbre jagte einen Schauer über den Rücken und sie hielt automatisch ihren Atem an. So viele Gefühle wollten an die Oberfläche brechen, derweil sie ihn anschaute und sie drängte sie alle zurück.

„Was machst du hier?" Sofort schalt sie sich eine Idiotin, weil es doch mehr als offensichtlich war, weswegen er gekommen war. Es verwunderte sie trotzdem, dass Hendriks Augen feucht wurden.

„Es ist Florians Geburtstag, Gretel. Ich ... ich weiß, ich habe einen Haufen Fehler gemacht. Aber ich hatte gehofft, dass du mich zu ihm lässt. Nur ... ich hab gerade überlegt, ob ich wieder fahren soll. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt verdiene, ihn zu sehen."

„Du stinkst nicht nach Wodka." Die Feststellung war draußen, ehe sie es verhindern konnte. Obwohl sie fast körperlich spüren konnte, wie verletzt Hendrik über ihre Worte war, nickte er.

„Ja. Ich ... ich gebe mein Bestes. Aber ich muss zugeben, dass die Dämonen stark sind. Es ist ein täglicher Kampf und oft bin ich kurz davor, aufzugeben, mir ein Glas irgendwo zu beschenken und den Inhalt meine Kehle runterlaufen zu lassen. Doch dann denke ich an den Preis dafür. Er ist zu hoch." Seine Stimme zitterte und war kaum mehr als ein Raunen. Dennoch war Gretel die Entschlossenheit dahinter nicht entgangen. Mit einem kaum merklichen Nicken quittierte sie seine Worte, während sie merkte, dass ihre Augen glasig wurden.

„Du bist sein Vater, Hendrik. Daran kann nichts etwas ändern." Jetzt war er es, der nickte. Er senkte seinen Kopf und starrte wieder auf das Präsent in seinen Händen.

„Das klingt verdächtig nach einem Aber. Das ... das verstehe ich. Würdest ... würdest du ... würdest du ihm das von mir geben? Und ihm sagen, dass ich ihn lieb habe?" Sie hörte, dass seine Stimme nah daran war, zu brechen und aus einem Impuls heraus schüttelte sie heftig den Kopf.

Er musste es wahrgenommen haben, denn seine Gesicht zuckte wieder zu ihr. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Mund war leicht geöffnet, ehe er sich fing. „Komm mit. Du kannst es ihm selber geben. Es gibt gleich Torte."

Ohne seine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich ab und fragte sich, wie sie die kommenden Stunden nur ertragen sollte, ohne ihm zu sagen, wie oft sie sich in den Schlaf weinte.

*************************

Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now