IV - 9

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Sie spürte, wie Hendrik sie musterte und beobachtete dann, wie er sich auf den Couchtisch setzte, nachdem er den Teller mit dem Apfel zur Seite geschoben hatte. Ihr Herz machte einen verblüfften Hüpfer in ihrer Brust. Er würde zuhören. Obwohl sie solche Scheiße gebaut hatte.

„Es tut mir so leid, dass ich dich mit deinem Vater verglichen habe. Du bist nicht wie er. Aber ich musste dir wehtun, weil du sonst nicht gegangen wärst. Es ist der zweite Versuch." Sie suchte seinen Blick und räusperte sich nervös, als er sich endlich in ihre Augen bohrte. „Ich werde es nicht schaffen, dich zum Vater zu machen. Ich kann dem Druck nicht standhalten. Es tut mir unfassbar leid."

„Oh, Liebling", sagte er nun, fiel vor ihr in die Knie und zog sie zu sich. Wenn sie sich vorher noch einigermaßen zügeln konnte, um ihre Gefühle zumindest etwas unter Kontrolle zu halten, so zerbarst nun die letzte Barriere, als sie seine Arme um ihre Schultern spürte.

All die Angst, die sie mit sich herumgeschleppt hatte und die Verzweiflung, die auf ihr lastete, explodierten nun fast in ihr, drangen gewaltsam mit jedem Schluchzen und jeder Träne aus ihr hervor. Sie merkte, dass sie ihre Nägel tief in die Stelle an seinem Hals bohrte, die sein T-Shirt nicht verbarg, doch sie konnte sich nicht bewegen.

„Ich hasse die Frau, die ich geworden bin." Sie spürte, wie er zur Bestätigung brummte und sofort senkte sich wieder Druck auf ihre Brust. Aber plötzlich drang ein Seufzen über seine Lippen und er strich ihr durch ihr Haar, während er sie sanft wiegte. Als er dann auch den Kopf gegen ihren lehnte, fiel ein bisschen Anspannung von ihr ab und sie schloss die Augen.

Doch der Moment der Entspannung weilte nur kurz. Wenig später riss sie die Augenlider auf und es dauerte, bis sie die Bedeutung seiner Worte richtig erfassen konnte. Sie lehnte sich zurück, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können, und er wiederholte: „Liebling, ich möchte, dass du die Dosis der Hormone reduzierst..."

„Dann kann ich deinen Wunsch noch weniger erfüllen!", flüsterte sie schockiert und schluckte trocken, als sie die Unnachgiebigkeit in seinem Blick wahrnahm. Sie suchte in seinem kantigen Gesicht nach einem Hinweis, dass er nur aus einer Laune heraus sprach und seine Worte aus den Verletzungen des gestrigen Tages resultierten. Doch sein Mund bildete eine schmale Linie und sein Stieren machte deutlich, dass der aufsteigende Widerstand auf fruchtlosen Boden fallen würde.

„Nicht zu dem Preis, Gretel. Nicht so, verstehst du? Ich dachte, mein Herz bleibt stehen, als ich dieses dumpfe Geräusch und anschließend dein Wimmern gehört habe. Dann liegst du besinnungslos in der Küche." Mit zittrigen Händen fuhr er über sein Gesicht und sie schluckte hart, weil er offenbar doch betroffen war. Sie wollte ihn in ihre Arme ziehen und ihm versprechen, dass so etwas nicht mehr vorkommen würde. Aber bevor sie dazu kam, seufzte er. „Ich hatte eine Scheißangst, verstehst du das? Ich will das nicht, Margarethe. Deine Haut war ganz wächsern, verdammt. Ich hab das Zuckerglas gesehen. Du magst lieber salziges Popcorn als süßes."

Sie spürte ein leichtes Flattern in ihrer Brust, weil sie die Tatsache rührte, dass seine Unnachgiebigkeit nur aussagte, wie sehr er sie brauchte. Dass seine Wortwahl daher kam, dass er nicht wusste, wie er seine Gefühle erklären sollte und er doch so deutlich war. Sie biss sich auf die Lippen, während sie den Blick abwandte, um zu verbergen, wie peinlich ihr die Szene war.

Doch Hendrik ließ ihr Unwohlsein verpuffen, als er ihr einen Kuss ins Haar hauchte und kaum vernehmlich bat: „Mach so einen Scheiß nie wieder, Liebling. Ich will dich auch nicht verlieren, verstanden? Du bist alles."

Zweifelnd sah sie ihn an und riss sich zusammen, beim Thema zu bleiben, statt in seinen Augen zu versinken. „Aber ich bin zu einem Scheusal geworden..."

Ein knappes Nicken seinerseits schnürte ihre Brust wieder zu wie einen Rollbraten, während er wenig später mit den Schultern zuckte. „Ja, einfach warst du nicht. Aber, wenn du jetzt kürzer trittst, ändert sich das. Es ist auch nicht allein deine Schuld. Ich dachte, wenn du siehst, dass ich weiß, was du auf dich nimmst und dir zeige, dass ich überzeugt bin, dass es sich lohnt, dann ... Aber ich wollte dich nicht noch mehr unter Druck setzen, davon machst du dir doch schon genug. Die Dosis wird reduziert, Gretel. Das ist die einzige Bedingung, die ich stelle, oder wir brechen das ab."

„Aber ... aber, wenn ... Ich möchte unseren Traum erfüllen." Ihr Widerspruch kam bereits spröde aus ihrem Mund, wie Holz, das zu lange den Wettereinflüssen ausgeliefert war. Im Grunde wollte sie nur, dass Hendrik glücklich war. Sie sehnte sich nach einem Kind. Doch noch mehr wollte sie, dass er sie mit diesem staunenden Glück ansah, wie er es immer wieder tat und was ihr jedes Mal durch Mark und Bein ging, weil seine Augen dann so schön strahlten. Und sie der Grund dafür war. Und ihr Nachwuchs.

„Ja, das weiß ich. Doch der war immer ein Leben mit dir. Ich will meine Gretel zurück."

Nun kehrte etwas Ruhe in ihr ein, als sein Blick sie streichelte, als würden seine Fingerspitzen über ihre Wangen streichen. Augenblicklich machte sich ihre Erschöpfung bemerkbar, während die Gefühlsflut abebbte.

„Ich liebe dich übrigens auch. Ich bin hier, weil ich dich umstimmen wollte. Irgendwie hab ich gehofft, dass du all die Dinge, die du zu mir gesagt hast, nicht ernst gemeint hast."

„Ich bin an jedem Wort fast erstickt." Offenbar merkte Hendrik nun, wie erschöpft sie war, denn er schob sie von sich und legte sich neben sie, nur, um sie sofort wieder in seine Arme zu ziehen. Sein Atem strich durch ihr Haar, während sein Herzschlag inmitten des Hebens und Senkens seines Brustkorbes zu einem Schlaflied für sie wurde.

„Was hältst du von einem Schnulz-Serienmarathon? Wenn du all die Nebenwirkungen ertragen kannst, kann ich mir auch so einen Sch... so Zeug mit dir ansehen." Sie hörte seine halbernste Belustigung in seiner Stimme und versuchte, die Augen noch ein bisschen aufzuhalten.

„Ich werde nicht mehr lang wach sein." Ihr Nuscheln bewirkte, dass sich eine Vibration in seinem Körper ausbreitete. Sie wusste, dass er damit kämpfte, nicht zu lachen, weil er erleichtert darüber war.

„Umso besser für mich. Hauptsache, du bleibst genau da in meinem Arm liegen, ok?"

„Das mach ich gern, Baby", flüsterte sie noch und merkte, wie ihr die Augen zufielen.

Ich habe tatsächlich die Dosis reduziert. Mit diesem Gedanken tauchte sie wieder in die Gegenwart auf. Ein Vogel zirpte ein einsames Lied und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, während sie noch ein Stückchen tiefer zwischen die blühenden Blüten trat. Sie hatte recht behalten. Es tat gerade gut, sich ihren Spukgespenstern zu überlassen. Obwohl sie natürlich weiterhin wusste, dass sie nicht so egoistisch sein und sich im Getümmel aufhalten sollte.
Trotzdem tröstete sie die leichte Brise, die der Wind in sich trug und sie schloss die Augen, während sie den Kopf in den Nacken fallenließ. Damals hatte sie gedacht, sie hätten die Talsohle bezwungen, erinnerte sie sich und ein mildes Lächeln zupfte an ihren Lippen. Wie naiv sie doch gewesen war. Wie wenig Ahnung sie vom Leben und der Liebe gehabt hatte.
Heute wusste sie es besser: Keines von beiden ließ sich lenken, sondern beide hatten ihren eigenen Kopf. Trotzdem musste sie anerkennen, dass alles, was passiert war, ihren Charakter geschliffen hatte. Und schleift, erinnerte sie sich und seufzte, ehe sie nochmal tief durchatmete.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now