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„Hey!" Der Ausruf ließ sie heftig zusammenzucken und sie vergoss fast ihren Wein, als Flo neben ihr auftauchte und den Arm um ihre Mitte schraubte. Schnell stellte sie das Glas zurück auf den Tisch und beeilte sich, ihn anzulächeln. „Du schleichst dich doch nicht davon, um unserem Tanz aus dem Weg zu gehen, oder?"Jetzt wurde ihr Lächeln warm und sie merkte, wie es endlich auch wieder in ihren Augen aufglomm. „Wie kommst du auf die Idee?"„Keine Ahnung. Nur so ein Gefühl. Aber du entkommst mir nicht." Gegen ihren Willen musste sie nun kichern. Ohne Gegenwehr ließ sie sich von ihrem Sohn auf die Tanzfläche führen. Sie merkte, wie Annas Blick sie streifte und erkannte, dass ihre Schwiegertochter sich nicht so leicht blenden ließ wie Florian.Doch das hatte sie noch nie. Das hielt Gretel jedoch nicht davon ab, sich tief in seine Arme zu schmiegen. Während von Ed Sheeran Celestrial durch den Saal schwebte, schloss sie die Augen, um sich seiner Führung zu überlassen. Nur zu oft hatten sie seine verletzt und irritiert angesehen in dieser Zeit. Da war sie sein Halt gewesen. Zumindest hatte sie es versucht.

Aufregung flutete sie, während sie sich nochmal im Erdgeschoss umsah. Nach unfassbaren 14 Monaten kam ihr Mann heute zurück nach Hause. Schon den ganzen Tag war sie ein einziges Nervenbündel und konnte sich trotz aller Versuche nicht beruhigen. Selbst Flo bemerkte, dass sie aufgewühlt war, denn er schaute sie immer wieder irritiert an. Doch sie konnte nichts daran ändern. Ihr Herz schlug konstant auf einer höheren Frequenz und wiederholt musste sie sich ihre schwitzigen Hände an ihrer Jeans abwischen.

Sie konnte es kaum erwarten, sich in Hendriks Arme zu werfen und ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Seinen Atem mit ihrem zu mischen. Sie schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an und strich Flo über seinen Kopf, als er sie erneut mit diesem verwirrten Blick bedachte. Jeden Moment kam sein Vater und sie waren wieder eine richtige Familie.

Dann würden die Schatten der letzten Jahre verblassen, das hatte sie sich geschworen, wenn sie an ihrem Bewusstsein nagten und ihre Euphorie trüben wollten. Sie waren gleich wieder zusammen und nichts davon würde mehr eine Bedeutung haben. Ihr Atem ging flach und die Hummeln in ihrem Bauch verengten ihre Flugbahnen, als sie hörte, wie ein Wagen vorfuhr.

Unter Flos kritischem Blick sprang sie auf die Beine und wollte in den Flur stürmen, besann sich jedoch eines besseren und nahm ihren Sohn an die Hand. Es ging schließlich nicht nur um sie. „Papa ist da, Raupe. Wollen wir ihm Hallo sagen?"

„Papa?" Ihre Brust verkrampfte sich ein bisschen, als sich die Irritation auf dem Gesicht ihres Sohnes sich noch vertiefte. Er kann sich natürlich nicht mehr an ihn erinnern. Flo war zehn Monate alt, als Hendrik gegangen ist. Da zu verlangen, dass er sich noch an seinen Vater erinnert, wäre wirklich ein Ding der Unmöglichkeit.

Obwohl ihr diese Tatsache einen Stich versetzte, ließ sie sich neben ihm auf die Knie sinken und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie strich ihrem verunsicherten Sohn nochmal durch die frischgeschnittenen Haare, ehe sie ihm einen Kuss auf seine Wange hauchte. „Ja, Raupe. Papa. Er war lange in der Arbeit, weißt du? Aber jetzt kommt er wieder nach Hause. Wollen wir ihn zusammen begrüßen?"

Sie bemerkte, wie Florians Blick kurz in den Flur huschte, ehe er sich zurück auf ihr Gesicht heftete. Dann nickte er kaum merklich, während er sich für einen Sekundenbruchteil auf die Unterlippe biss. Sie erhob sich und nahm aufs Neue seine kleinen Finger in ihre. Gerührt registrierte sie, dass sie jetzt kälter geworden waren, ein wenig zitterten und sich leicht mit Schweiß überzogen hatten.

Sie tat so, als würde sie es nicht bemerken und trat in die Diele hinaus. Florian folgte ihr zögerlich und blieb nahe ihrem Bein, während sie sich zusammenriss, nicht zur Tür zu stürzen, hinter deren Glasfenster sich schon die Umrisse ihres Mannes abzeichneten. Bevor sie am Ende des Flures ankommen konnte, schwang die Tür auf und sie erstarrte.

Sie spürte, wie Florian sich etwas hinter ihrem Bein verbarg, doch gerade konnte sie sich nicht darum kümmern. Ihr Blick bemaß jeden Millimeter seines Gesichtes, nahm das längere Haar, die tiefen Schatten unter seinen Augen, den dichten Bart auf seinen schmaleren Wangen und seinen seligen Gesichtsausdruck mit seinem Lächeln wahr.

Ihr Herz wollte offenbar nebenbei ihren Brustkorb sprengen, denn es raste wie in dem Moment, als sie zum ersten Mal wirklich mit ihm gesprochen hatte. Sie konnte nicht atmen, so sehr zwang sie sein Anblick sie in die Knie. Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen auftürmten, und ließ sie tiefer wandern. Er hatte an Muskulatur zugelegt, seine Schultern schienen nun breiter zu sein, seine Oberarme praller. Doch seine Hüften waren schmal wie eh und je.

Hitze sammelte sich in ihren Wangen und Gretel beeilte sich, zurück in sein Gesicht zu sehen. „Hi."

Mehr brachte sie beim besten Willen nicht zustande und sie sah, wie sich das Lächeln noch vertiefte. Sie bemerkte, wie sein Blick zu Florian wanderte und plötzlich sprang sein Adamsapfel kurz auf und ab. Die Belustigung in seinen Augen verglomm so schnell, dass es ihr die Fähigkeit zu atmen vollends nahm.

Sie beobachtete, wie Hendrik in die Knie sank und spürte einen Stich der Eifersucht. Obwohl sie diesen sofort abtat und sich eine Egoistin nannte, brannte es wie Feuer hinter ihrem Brustbein. „Hey, Raupe. Ich kann gar nicht glauben, wie groß du schon bist."

„Du warst 14 Monate weg, was erwartest du denn?" Die Worte waren ihrem Mund entschlüpft, bevor sie es verhindern konnte, und sie beeilte sich, seinem Blick auszuweichen. Trotzdem bemerkte sie im Augenwinkel, dass sich sein Gesicht für den Bruchteil einer Sekunde verfinsterte. Sie wurden abgelenkt, als sie die Bewegung hinter sich spürte.

„Mama?" Sie schaute Flo an, der sie mit großen Augen anstarrte und nickte, während sie aufs Neue ein Lächeln auf ihr Gesicht kleisterte. Sie ging neben ihm auf die Knie und zwang sich, ihn nicht an sich zu ziehen, obwohl alles in ihr sie dazu drängte, sein Unbehagen so zu besänftigen.

„Schon ok, Raupe. Das ist dein Papa. Willst du ihm nicht Hallo sagen?" Ihre Hand zitterte, als sie ihm eine vorwitzige Strähne aus dem Gesicht strich. Florians Kopf drehte sich zur Tür und sie sah, wie bekümmert Hendrik wirkte, als Flo ihn kurz schüttelte.

„Spielen gehen?" Dass die Stimme ihres Sohnes so fiepste, brach ihr fast das Herz. Trotzdem nickte sie und warf Hendrik einen entschuldigenden Blick zu. Ihr Mann verfolgte gerade, wie Florian sich hastig abwandte und mit sicheren Schritten zurück ins Wohnzimmer stapfte. Langsam erhob sie sich. Schweigen baute sich wie damals vor seiner Abreise zwischen ihnen auf und ihre Euphorie verflog. Traurig sah sich in dem kleinen, vollgestopften Flur um, der neben der Treppe ins Obergeschoss, dem Bogen ins Wohnzimmer und den beiden abgehenden Türen noch zwei Schuhschränke, Kleiderhaken und ein Sideboard beherbergte. Neben den zahlreichen Fotos an der Wand, die sie in Collagen dort aufgehängt hatte. Auch Hendrik hing da und anfangs hatte sie Flo das Foto immer wieder gezeigt. Irgendwann aber nicht mehr. Warum eigentlich?

Die Stille, die nur von Florians Spielgeräuschen unterbrochen wurde, drückte ihr schwer auf die Brust, sodass sie erleichtert nach Luft schnappte, als Hendrik seufzte. Sie beobachtete, wie er sich unbeholfen durch sein Haar strich und er anschließend ebenfalls aufstand. Wie zwei Fremde standen sie sich gegenüber und schauten sich einfach nur an. Erst dann löste sich Hendrik aus seiner Starre. Fast bedächtig überbrückte er die wenigen Schritte, die sie trennten und als er vor ihr hielt, zog er sie in seine Arme.

Reflexartig fielen Gretel die Augen zu und sie schmiegte sich hinein. Obwohl sein Geruch sie sofort wohltuend umhüllte und sein Herzschlag sanft unter ihrer Wange pochte, konnte sie nur daran denken, dass die Haustür noch offenstand. Was ist nur los mit mir?

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now