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Ihr Blick schwirrte in den Garten, der nun allmählich seine Strahlkraft verlor, je mehr der Herbst einzog. Bislang hatte sie sich ganz gut gehalten, fand sie. Sie hatte ihr persönliches Refugium schon winterfest gemacht und sich irgendwie beschäftigt, seit Florian und Anna das Nest verlassen hatten. Alle paar Wochen telefonierten sie. Beim letzten Mal hatte Flo ihr begeistert von der Schule erzählt und dass er bereits Anschluss zwischen seinen Kommilitonen gefunden hatte. Außerdem schien er wieder Fußball zu spielen. Anna hatte verhaltener geklungen, während sie ein bisschen von ihrer Ausbildung erzählt hatte.

Doch Florian hatte ihr verraten, dass auch Anna nun so etwas wie eine Freundin hatte. Die offenbar ein ziemlicher Wirbelsturm zu sein schien, wenn Gretel den Worten ihres Sohnes glauben wollte. Reflexartig grinste sie beim Gedanken daran, wie Anna wohl aus der Wäsche geschaut hatte, als diese Larissa sie bei ihrem Bowlingabend erst von den Füßen gefegt und sie dann in Beschlag genommen hatte. Sie freute sich von ganzem Herzen für die beiden.

Trotzdem wusste sie heute nicht wirklich viel mit sich anzufangen. Emmy war mit ihrem neuen Freund unterwegs und alle anderen schienen sich auch allmählich auf die Adventszeit einzustellen. Und sie hing hier herum wie so oft. Sie hatte sich noch nicht ganz an die Stille gewöhnt, die so laut werden konnte, dass ihr die Ohren schmerzten. So wie heute. Sie hatte ihre Mutter früher belächelt, wenn sie ihr gestanden hatte, wie leer ihr Bauernhaus geworden war, nachdem sie mit Hendrik in die Stadt gezogen war. War sie ehrlich, musste sie zugeben, dass sie nicht nur einmal mit den Augen gerollt hatte, als ihre Mutter ihr wiederholt ihr Herz ausgeschüttet hatte. Jetzt verstehe ich es. Mehr, als mir lieb ist. Aber Mama hat damals zumindest noch Papa gehabt, der ihr Gesellschaft geleistet hat.

Ein Seufzen machte sich in ihrer Brust breit, polterte über ihre Kehle nach oben, rollte über ihre Zunge und drang aus ihrem Mund, ehe sie aufstand und ruhelos im Wohnzimmer auf und ab tigerte. Vielleicht sollte sie ihre Schränke ausmustern. Da hing weiterhin Hendriks Lederjacke. Die hatte sie als Einziges noch nicht vom Bügel gezerrt, in einen Plastiksack gesteckt und weggegeben. Sie hatte es nicht gekonnt. Der leichte Ledergeruch, der sich von der Jacke auf ihre Sachen übertrug, beruhigte sie nach wie vor. Aber vielleicht wurde es Zeit, auch dieses Relikt loszuwerden. Doch allein der Gedanke behagte ihr nicht.

Also verwarf sie ihn schnellstens. Sie setzte sich wieder in Bewegung und lief erneut auf und ab. Irgendwas musste sie dennoch tun. Sonst würde die Stimme in ihrem Kopf, die sie stetig an ihre Einsamkeit erinnern wollte, nur noch raumfordernder werden. Sie könnte auf die Piste gehen. Sich in eine Bar setzen und etwas trinken. Sich unter Fremde mischen. Je länger sie darüber nachdachte, umso verlockender wurde der Gedanke. Sie nickte bekräftigend, als sie sich endgültig entschieden hatte.

Hastig verließ sie den Raum und schlüpfte in das gegenüberliegende Bad, um sich nochmal eine erfrischende Dusche zu gönnen. Während der harte Wasserstrahl ihre verhärteten Muskeln lockerte und sie sich mit ihrem Duschgel einseifte, sprach sie sich weiterhin Mut zu. Sie war eigentlich nicht der Typ dazu, sich alleine ins Nachtleben zu stürzen. Allerdings war sie offenbar auch nicht der Typ dafür, sich mit der Stille auseinanderzusetzen, die sie umfing, erkannte sie und atmete tief den leichten Vanilleduft des Duschschaums ein, der die kleine Kabine zusehends füllte.

Der Geruch beruhigte ihre flatternden Nerven und sie schloss die Augen und seufzte, ehe sie sich wieder weiter in den Wasserstrahl stellte, um die Seife abzuspülen. Sie legte den Kopf in den Nacken und ächzte wollig auf, als das Wasser durch ihr Haar über ihren Rücken hinunterrann. Sie fühlte sich fast, als würden sich aus ihren Strähnen auch ihre quälenden Gedanken lösen. Als würde ein unfassbarer Ballast von ihr abfließen. Ein Grinsen breitete sich ungehindert auf ihrem Gesicht aus und als sie die Brause abschaltete, war ihr ganz leicht zumute. Vielleicht sollte ich doch zuhause bleiben. Ich könnte mir ein Glas Wein einschenken und mich mit dem Buch aufs Sofa verdrücken, das ich schon so lange lesen wollte.

Dennoch schüttelte sie mit dem Kopf, während sie nach dem angewärmten Handtuch griff und sich darin einwickelte. Sie würde sich nicht wieder einigeln. Denn womöglich hatte Emelie recht und sie sollte sich darauf besinnen, dass sie eine alleinstehende Frau im besten Alter war, die keine Notwendigkeit dazu hatte, sich zu verstecken.

Sie griff nach ihrer Bodylotion und cremte sich genüsslich ein, ehe sie sich einen Blick im Spiegel zuwarf. Sie war wirklich noch gut in Schuss. Klar, einzelne Fältchen zeigten sich allmählich um die Augen, aber sie konnte sie gut leiden. Ansonsten fiel ihr Haar in seidigen Strähnen um ihr Gesicht und dazwischen fehlte weiterhin jegliches Grau. Sie griff nach ihrem Fön und schaltete ihn ein. Als ihre Längen die gewünschte Leichtigkeit besaßen, lächelte sie sich nochmal im Spiegel zu, ehe sie das Bad verließ und ins Schlafzimmer schlüpfte.

Dort zog sie ein Midi-Strickkleid aus dem Schrank, von dem sie wusste, dass es ihr bis kurz übers Knie reichen würde. Dazu griff sie sich eine blickdichte Strumpfhose und ein schönes Wäscheset. Zwar war sie sich bewusst, dass die außer ihr niemand erblicken würde, trotzdem tat es ihr gut, zu wissen, dass sie diese Dessous darunter trug. Als sie fertig angezogen war, warf sie sich auch jetzt einen Blick im Spiegel zu.

Der feingestrickte Stoff schmiegte sich an ihre Kurven und unterstrich ihre Weiblichkeit, ohne zu aufdringlich zu werden. Zufrieden stellte sie fest, dass sie sich genau so wohlfühlen konnte, und verließ den Raum. Nachdem sie ihre Wimpern noch getuscht hatte, griff sie nach ihrer Handtasche und schlüpfte in ihre Stiefel. Sie merkte, wie sich ein Summen in ihrem Bauch ausbreitete, während sie ihren Parker überstreifte und einen passenden Schal um ihren Hals wickelte.

Als sie das Gefühl hatte, sich gegen das nasskalte Wetter ausreichend ausstaffiert zu haben, warf sie noch einen letzten Blick in das stille Haus hinein, ehe sie ins Freie trat. Sofort durchlief sie ein Frösteln und sie schlang die Arme um sich, um sich gegen die Kälte und den Nieselschauer zu wappnen. Obwohl das Wetter eher dazu lockte, sich im Inneren zu vergraben, fühlte sie, wie sich das Summen in ihrem Bauch mit jedem Schritt zu ihrem Auto verstärkte.

Als sie an ihrem Wagen angekommen war, fasste sie nach dem Türgriff, besann sich dann jedoch anders. Die Kälte auf ihrer Haut spüren zu können, zu merken, wie sich die sanften Wassertröpfchen auf ihrem Haar festsetzten, fühlte sich plötzlich zu gut an.

Es war nicht sehr weit in die Innenstadt, sagte sie sich und wandte sich von ihrem Auto ab. Sie verließ die Auffahrt und merkte bei jedem Setzen ihrer Füße, wie sie sich lebendiger fühlte, während die Kälte ihr in die Wangen biss und sie mit Sicherheit rötete. Wie die Luft vor ihrem Mund kondensierte und ihren Atem sichtbar machte. Grinsend lief sie die Straße entlang und fragte sich, ob sie wohl endgültig den Verstand verloren hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie lebte. Und endlich merke ich das auch wieder.

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, während sie an diesen Spaziergang in die Innenstadt dachte. An diesem Abend hatte sie sich zum ersten Mal seit langem frei gefühlt und ab da war sie wieder mehr bei sich selbst angekommen. Sie erinnerte sich nur zu gut, dass ihr Herz immer heftiger gegen ihren Brustkorb gepocht und sie sich seit Ewigkeiten achtsamer durch die Welt bewegt hatte. Wie sie plötzlich wieder mehr Lichtschimmer wahrnahm, während der Wind leicht an ihrem Parka zerrte. Es war wirklich saukalt gewesen, dachte sie und ihr Lächeln erwärmte sich noch mehr. Sie warf ihrer Mutter einen Blick zu, die weiterhin neben ihr aus dem Wagenfenster schaute, während sie die Stadt verließen und die Umgebung immer ländlicher wurde. Bald waren sie an der Walhalla angekommen, wo die Fotos entstehen würden, bevor sie sich in dem kleinen, süßen Landgasthof einfanden, wo Florians und Annas Hochzeit gebührend gefeiert werden sollte.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now