IV - 8

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„Da ist sie wieder", hörte sie und schlug die Augenlider auf.

Als Erstes nahm sie Hendriks Augen wahr, die sie besorgt musterten. Sein Gesicht war etwas verschwommen, doch sie spürte, wie ihr Herz einen Tacken schneller schlug, weil er wirklich da war. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Aber wieso lag sie auf dem nackten Küchenboden?

„Tut Ihnen was weh?"

Sie lenkte den Blick vom Gesicht ihres Mannes fort und fixierte das eines Fremden. Erst jetzt nahm sie wahr, dass in ihrem Arm eine Infusionsnadel steckte und der, der sie angesprochen hatte, die Weste des BRK trug. Bayrisches Rotes Kreuz. Da fiel es ihr wieder ein. Sie hatte essen wollen.

„Frau Gruber, tut Ihnen etwas weh?"

„Ich ... ich weiß nicht..."

Ihre Stimme klang kratzig, stellte sie fest und schloss kurz die Augen, um sich darauf zu konzentrieren, ob sie irgendwo Schmerzen hatte. Ihr Kopf dröhnte, als hätte sie einen über den Durst getrunken. Ihre Schulter hatte sie sich wohl beim Auftreffen auf den Boden geprellt. Aber sonst? Sie war müde. Sehr müde.

„Frau Gruber, nicht einschlafen. Erst müssen Sie uns ein paar Fragen beantworten, verstanden?"

„Ja. Natürlich. Ich bin müde."

Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen, aber es fiel ihr schwer. Trotzdem ließ sie den Blick zu Hendrik wandern, der still neben ihr kauerte und sie anschaute. War er besorgt? Sein Gesicht ließ gerade keine Rückschlüsse darauf zu, wie er sich fühlte. Sie wollte die Hand nach seiner ausstrecken, aber als sie den Arm in seine Richtung schob, musste sie zischend Luft holen.

„Frau Gruber, was tut weh?"

Sie wollte nicht mit dem Sanitäter sprechen. Lieber wollte sie, dass ihr Mann etwas zu ihr sagte. Irgendeine Regung zeigte. Sie hatte es verbockt. Er war nur da, um sich seine Sachen zu holen oder so. Er würde nicht bleiben. Sie hatte ihn zu sehr verletzt.

„Frau Gruber!"

„Meine Schulter. Ich ... ich glaub, sie ist geprellt. Mein Kopf dröhnt."

„Verstehe. Was ist passiert? Sind sie schon öfter bewusstlos geworden?"

„Nein. Ich ... mir war schwindlig. Mir ist oft schwummrig von den Hormonspritzen. Aber ich bin noch nie umgekippt. Ich ... ich hab nicht gegessen ... auch zu wenig getrunken. Ich wollte Zucker löffeln, weil ich ... mir war so komisch. Mein Herz hat so schnell geklopft und mir war kalt, aber ich hab geschwitzt. Ich hab das Glas nicht aufbekommen. Ich hab es nicht mehr geschafft, zum Kühlschrank zu kommen, ich wollte Saft trinken. Es tut mir leid."

Sie hatte automatisch mit Hendrik gesprochen und bemerkte, wie er die Stirn runzelte. Doch er schwieg weiter. Er sollte sie in seine Arme ziehen und ihr sagen, dass alles gut wurde. So, wie er es immer getan hatte, wenn sie in den letzten Wochen in Tränen ausgebrochen war. Aber er wirkte so unnahbar, dass sie erneut Angst ausfüllte.

„Wie geht es Ihnen jetzt? Ist Ihnen noch schwindlig?"

„Nein, ich fühl mich ok. Ich bin nur müde."

„Ihr Zuckerspiegel war sehr niedrig. Zum Glück hat Ihr Mann sofort reagiert und Ihnen Cola eingeflößt. Haben Sie öfter Probleme mit ihrem Zuckerspiegel?"

„Nein. Sonst nicht. Ich ... ich hab nur nicht gegessen. Danke für deine Hilfe."

Sie konnte nur ihn weiteransehen. Im Augenwinkel bemerkte sie, dass der Sani die Stirn runzelte, doch es war ihr egal. Sie hörte, wie er sich danach mit jemandem unterhielt und beriet, ob sie sie mitnehmen sollten und plötzlich nahm sie den zweiten Sanitäter wahr, der schräg hinter ihr stand und zwei Infusionslösungen in die Höhe hielt.

NaCl 0,9% und G-5, las sie und vernahm: „Wird das Kopfdröhnen besser?"

„Ja. Ist leichter geworden."

„Wie sieht es mit der Schulter aus? Beweglich ist sie, wie hoch sind die Schmerzen auf einer Skala bis zehn?"

„Solange ich sie ruhighalte bei vier."

„Achten Sie bitte darauf, regelmäßig zu essen und ausreichend zu schlafen..."

„Ich sorge persönlich dafür", sagte nun Hendrik und ihre Augen flogen zu ihm.

Er schaute sie nicht an, aber er hatte gesagt, er würde dafür sorgen. Blieb er? Obwohl sie ihm all die Abscheulichkeiten an den Kopf geworfen hatte? Ihre Gedanken überschlugen sich und sie suchte seinen Blick, doch Hendrik starrte nur zu Boden, während sie am Rande mitbekam, wie die Sanitäter beschlossen, sie nicht ins Klinikum zu bringen. Wenn der Schmerz in ihrer Schulter sich verstärke, solle sie zum Hausarzt gehen.

Sie entfernten ihr noch die Infusionsnadel, ehe sie zusammenpackten und verschwanden, nachdem sie beobachtet hatten, wie Hendrik sie still zum Sofa führte. Er hatte sie immer noch nicht angesehen.

Jetzt lag sie da und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie schämte sich so unfassbar für die Dinge, die sie ihm an den Kopf geknallt hatte. In diesem Moment rumorte er in der Küche und sie suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, diesen spürbaren Panzer durchdringen zu können, der ihn umgab. Sie wollte nicht ohne ihn sein. Ein Leben ohne ihn war einfach unvorstellbar für sie.

„Hier. Ein Apfel, der hat viel Fruchtzucker. Du solltest ihn essen", sagte er mit kühler Stimme und sie schluckte, als er sie damit aus ihren Gedanken riss.

Sie betrachtete den Teller mit den Apfelspalten und nickte, doch als sie merkte, dass er sich abwenden wollte, flüsterte sie: „Es tut mir so leid, Hendrik."

Im Augenwinkel nahm sie wahr, wie er in der Bewegung erstarrte, ehe er sich fing und sich bedächtig wieder zu ihr drehte. Sie wollte nicht heulen. Aber trotzdem türmten sich Tränen in ihren Augen, während der Kloß in ihrem Hals so prall wurde, dass sie dachte, jeden Moment daran zu ersticken. Dass Hendrik sie abwartend anstarrte, half auch nicht unbedingt, das in Worte zu fassen, was sie quälte.

„Ich hab solche Angst. So unfassbare Panik. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich hatte mir alles so schön ausgemalt, als du gefragt hast, ob ich mir vorstellen könnte, Kinder zu bekommen. Vorher hab ich das nie angeschnitten wegen ... der Vereinbarung. Ich dachte, jetzt geht auch der letzte Traum von der Zukunft in Erfüllung. Alle anderen hattest du doch schon zu Realität gemacht, ohne, dass ich sie ausgesprochen hatte. Ich weiß nicht wie, aber offenbar hab ich das in dir geweckt, was ich mir erhofft hab: Die Hochzeit, das Haus ... Kinder. Mit dir, mit dem Mann, den ich so liebe, dass es wehtut."

Nun verlor sie den Kampf gegen die Tränen und sie brach in Schluchzen aus, während sie erklärte: „Ich bin dafür verantwortlich, dass du diese Träume hast und jetzt? Jetzt kann ich nicht liefern. Dabei wollte ich dir jeden Wunsch erfüllen. Ich hab solche Angst, dass es mir nicht gelingt. Ich weiß, dass du nichts Böses mit dem Strampler wolltest. Ich weiß es. Aber ich kann nur darüber nachdenken, was wohl passiert, wenn du irgendwann kapierst, dass du mir jeden Wunsch erfüllt hast und ich so einen existentiellen Traum nicht erfüllen kann. Ich werde dich verlieren. Also hab ich all diese Abscheulichkeiten zu dir gesagt. Du solltest es leicht haben, ich wollte es schnell machen ... Wie man ein Pflaster abreißt."

Noch heute konnte sie sich an den ungläubigen Ausdruck in seinen Augen erinnern, ohne sich groß anzustrengen, erkannte Gretel und erhob sich von ihrem Platz, um nochmal ins Freie zu treten. Plötzlich war ihr, als würde die Glückseligkeit in diesem Raum sie förmlich ersticken.
Also verschwand sie so unauffällig wie möglich aus dem Saal und marschierte den Flur entlang. Vorbei an den Bildern, die den Landgasthof im Verlauf der Zeit zeigten. Automatisch dachte sie daran, wie ironisch diese Bekenntnisse der Zeit waren, im Hinblick darauf, dass sie heute ebenfalls im Strudel der Vergangenheit gefangen zu sein schien.
Sie stieß die schwere Holztür des Hintereinganges auf und seufzte, als sie die kühlergewordene Luft genauso empfing wie die einsetzende Dunkelheit, die inzwischen die Dämmerung abgelöst hatte. Sie hörte, wie die Kieselsteine unter ihren Schuhen knirschten, während sie tiefer in den Garten hineintrat. Mit jedem Schritt schien es, als würde sie erneut Hendrik näher kommen, der sie aus der Gegenwart abholte...


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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now