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Sie wollte dieses Mädchen an ihre Brust ziehen und ihr sagen, dass alles ok war. Denn während Florian wie immer mit gesundem Appetit sein Essen inhalierte, stocherte Anna nur darin herum. Sie warf ihnen wiederholt Blicke zu, die wohl abschätzen sollten, wie sie auf die Tatsache reagierten, dass sie etwas aß. Zumindest vermutete sie das, nach allem, was ihr Florian in den letzten Tagen so erzählt hatte.

„Möchtest du noch eine Frühlingsrolle, Anna?" Ihr Sohn schaute ihren Gast an und das Mädchen beeilte sich, den Bissen herunterzuschlucken, an dem sie bestimmt schon eine halbe Minute kaute.

„Nein, danke. Ähm. Ich bin so gut wie satt." Reflexartig runzelte Gretel die Stirn, beeilte sich jedoch, sie wieder zu glätten, als der Blick des Mädchens zu ihr huschte. Das so gut wie nichts gegessen hatte. Doch darauf wollte sie nicht eingehen. Stattdessen verneinte sie ebenfalls, als Florian die gleiche Frage an sie richtete.

Sie beobachtete, wie er sich das Teilchen auf seinen Teller manövrierte und verkniff sich das Lächeln. Wenn Anna sich bei einem keine Sorgen machen musste, wie viel sie zu sich nahm, dann war das ihr Sohn. Aber das schien das Mädchen noch nicht begriffen zu haben. Was dich nichts angeht, Gretel.

Sie fragte stattdessen, wie sein Tag war, und wie gewohnt, antwortete ihr Flo ausweichend und völlig ungeniert mit vollem Mund. Sie musste grinsen, als Annas Augen dabei kugelrund wurden, sie ihren Blick aber schnell auf ihren Teller sinken ließ. „Wie war deiner?"

„Es war ok. Die neue Kollegin macht sich ganz gut und ansonsten – du weißt ja, immer der gleiche Chaotenhaufen."

„Mit dir dabei ist das ja nur normal." Spielerisch schlug sie nach ihrem Sohn, musste aber grinsen. Genauso wie Anna, die es rasch verbarg, indem sie nach ihrem Glas angelte und einen Schluck trank. Mit einem Stöhnen schob Gretel ihren Teller von sich und seufzte zufrieden.

Nur kurz später folgte ihr Gast ihrem Beispiel und Flo schaute seine Projektpartnerin misstrauisch an. „Ist das alles?"

„Was?" Sie bemerkte, wie Anna blass wurde, und trat Florian unter dem Tisch. Gretel merkte, wie er sich kurz auf die Lippen biss, ehe er sich fing.

„Äh, na ja. Ich wollte wissen, ob du das nicht mehr isst. Dann... öhm ... nehm ich es noch." Gretel wandte ihr Gesicht ab und rollte mit den Augen. Da Anna ihm jetzt wortlos den Teller zuschob, nahm er sich notgedrungen ihren Rest.

„Es war sehr lecker, Frau Gru... äh ... Gretel. Aber ich war nicht sonderlich hungrig." Sie nickte ihrem Gast lächelnd zu und fragte sich, ob sie irgendwas dazu sagen konnte außer ihr „Kein Problem." Doch Anna schien nicht mehr zu erwarten. Es rührte Gretel, dass sie sich so unauffällig wie möglich umsah, während Florian jetzt schon deutlich langsamer die Reste von Annas Teller aß. Sie verkniff sich ihr Grinsen. Offenbar war ihr Sohn satt, wollte sich aber keine Blöße geben. Als das Mädchen bemerkte, dass sie es beobachtete, wurde es rot und senkte den Blick hastig wieder auf die Tischplatte.

„Flo hat erzählt, du bist erst vor ein paar Monaten in die Stadt gezogen. Gefällt es dir hier?" Nun huschten Annas Augen zu ihrem Gesicht und sie biss sich auf die Unterlippe, während sie kaum merklich nickte. Dann schien sie es sich anders zu überlegen.

„Es ist ok hier." Gretel glaubte ihr kein einziges Wort, ließ es aber dabei bewenden. Offenbar brauchte Anna ein wenig, ehe sie sich öffnete und wenn sie daran dachte, was ihr am heutigen Tag passiert war, konnte sie das durchaus nachvollziehen.

„Ma, musst du Anna verhören?" Florian schob mit einem Seufzen den Teller von sich und schaute sie mit einem milden Vorwurf an. Sein Gast indessen riss die Augen erschrocken auf und schüttelte mit dem Kopf. Was sie noch mehr berührte.

„Es tut mir leid. Ich wollte dich keineswegs aushorchen, Anna." Wieder tat ihre Besucherin es ab, schien jedoch trotzdem etwas beruhigter zu sein. Wie nebenbei fiel Gretel auf, dass sie nun am Saum ihrer Ärmel herumzupfte. Auch Florian bemerkte es offenbar und er warf ihr einen hilflosen Blick zu.

Er wusste offensichtlich ebenfalls nicht, was er machen könnte, um Annas Unbehagen zu mildern. Aber war es Unwohlsein? Irgendwas im Gesicht ihres Gegenübers ließ sie an der Annahme zweifeln. Denn immer wieder mischte sich Unglauben und so etwas Ähnliches wie Ehrfurcht in ihre Unruhe. Was hieß das?

„Boah, echt. Wenn ich noch einen Bissen esse, brech ich." Sie hob eine Augenbraue, nachdem Florians Flüstern im Raum verklungen war und bemerkte, dass nun an Annas Mundwinkeln ein Lächeln zupfte. Das ihre hellblauen Augen wunderschön zum Leuchten brachte. Sie verstand Flo jedenfalls, dass er einen Narren an dem schüchternen Mädchen gefressen zu haben schien.

„Dann schlage ich vor, du lässt den Rest stehen. Sei nicht traurig. Du hast dich wacker geschlagen. Und die kläglichen Überbleibsel können wir ja morgen aufwärmen." Gretel grinste breit, als Florian den Kopf schieflegte und schnaubte, was ihren Gast endgültig zum Lächeln brachte.

„Du bist so witzig, Ma." Sie schaute ihrem Sohn in die dunkelblauen Augen und kicherte los, ehe sie die Hand auf seinen Unterarm legte und ihm zuzwinkerte.

„Ich weiß. Von irgendwem musst du deinen komischen Humor ja haben." Obwohl ihr sofort die Zunge schwer wurde, behielt Gretel ihr Lächeln bei. Doch ihr Unwohlsein verflog augenblicklich, als Florian daraufhin mit den Augen rollte und murmelte, das wäre wohl wahr. „Nun gut. Dann sollten wir abräumen, oder?"

Gretel beobachtete, wie Anna sofort auf die Füße sprang und schaute ihr verdutzt zu, wie ihr Gast die Teller aufeinanderstapelte. Sie wechselte einen Blick mit ihrem Sohn, der die Lippen schürzte und wie nebenbei mit den Schultern zuckte, als wüsste er nicht, wieso seine Projektpartnerin so reagierte. Doch seine Augen erzählten ihr eine andere Geschichte. Sie sah ihm nur zu deutlich an, dass die Zahnräder in seinem Kopf sich drehten und er zu einem Schluss kam.

Ehe Anna in die Küche eilen konnte, erhob sich auch Flo und nahm ihrem Gast die Teller aus der Hand. Dabei streiften seine Finger Annas und Gretel bemerkte, wie das Mädchen ihre Hand ruckartig zurückzog, während Florians zu zittern begannen. Hastig biss sie sich auf die Lippen, um nicht wieder zu grinsen. Nur Projektpartner waren die zwei definitiv nicht. Das verrieten nicht nur die jeweiligen Reaktionen, sondern auch die leise Röte, die sich auf den Gesichtern der beiden Teenager ausbreitete. Doch das werden sie schon noch herausfinden. Da bin ich mir spätestens jetzt ziemlich sicher.

Während sie hörte, dass Florian mit wackliger Stimme sagte, er würde das machen, zog sich ihr Herz ein bisschen zusammen, denn ihre Gedanken wanderten zu dem Moment, an dem sie so gefühlt hatte wie die beiden. Und dann erinnerte sie sich, wie lange es schon her war, dass sie diese verwirrenden Emotionen angenommen und mit ihrer großen Liebe ihren gemeinsamen Weg gegangen war. Augenblicklich runzelte sie die Stirn. Bin ich wirklich auf meinen Sohn neidisch?

Oh ja! Und wie ich neidisch war! Gretel schüttelte unwillkürlich mit dem Kopf, als sie wieder in der Gegenwart auftauchte. Damals hatte sie schon bemerkt, wie groß diese Liebe werden würde und wie zur Bestätigung standen die zwei ehemals linkischen Teenager nun vor ihr und strahlten sich an. Erneut verpasste ihr Herz einen Schlag, als der Priester zu seiner Predigt ansetzte, die von der Liebe handelte. Die ihm zufolge ein Zeichen von Gottes Anwesenheit auf der Erde waren. Sie sah das etwas pragmatischer. Um genau zu sein, war Liebe nicht mehr als ein Cocktail von Hormonen, der ausgeschüttet wurde, sobald man von den Menschen umgeben war, die diesen Schuss auslösten. Trotzdem musste sie einräumen, dass dieser Hormon-Cocktail eins der besten Dinge war, die man erleben konnte. Wie zuvor verengte sich ihre Brust ein bisschen und Sehnsucht mischte sich zwischen die Freude, diesem Moment beiwohnen zu können. So sehr sie sich für ihren Sohn und Anna freute, es verdeutlichte ihr doch auch zeitgleich, dass sie nicht komplett war. Heute nicht und in den letzten Jahren ebenfalls nicht.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now