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Der Schmerz hatte nachgelassen, erinnerte sich Gretel, als sie wieder in der Gegenwart ankam und erstaunt feststellte, dass ihr Sohn und seine Frau bereits ihre Ringe tauschten. Nun zupfte ein echtes Lächeln an ihren Lippen und sie beobachtete, wie sich Anna danach in Florians Arme schmiegte. Flo legte sanft seine Rechte in ihren Nacken und zog sie leicht zu sich, um ihrer Schwiegertochter einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Ihr Herz stolperte bei dieser Geste und sie drückte ihre Rechte auf die Stelle, wo es darunter pochte. Diesmal war es Freude pur, die ihren Puls beschleunigte und sie stimmte jubelnd in den Applaus ein. So schmerzhaft das Loslassen gewesen war, er hatte ihr immer wieder gezeigt, dass sie trotzdem eine feste Größe in ihrem Leben geblieben war...

Ihre Schuhe klackerten über den Laminatboden und sie drehte sich um ihre eigene Achse. Sie beobachtete ihren Sohn und seine Freundin, wie sie sich in den kahlen vier Wänden umsahen. Sie wirkten ziemlich ratlos, wie sie so stirnrunzelnd durch die zwei Zimmer-Wohnung schlichen, und Gretel musste grinsen.

Ihre Befürchtung, dass sie nun endgültig abgemeldet sein würde, hatte sich nicht bewahrheitet. Denn schon am Abend hatten Anna und Florian vor ihr gestanden und sie darum gebeten, ihnen bei der Wohnungssuche zu helfen. Und bei allem anderen. Also hatten sie für heute einige Besichtigungstermine vereinbart.

Sie hatte am Morgen gedacht, sie würde den Samstag wieder im Garten oder auf dem Sofa verbummeln. Doch stattdessen hatte Anna sie beim Frühstück lange angesehen und zugegeben, dass sie schon gehofft hatte, sie würde mit ihnen fahren. Sie hatte die leise Ahnung, dass die beiden es auch ganz gut allein geschafft hätten, sich eine der Wohnungen auszusuchen. Aber sie hatte nur zu gern den Strohhalm genommen und war mit ihnen hierhergefahren. Ein Blick in Annas Gesicht hatte ihr längst verraten, dass Flos Freundin ahnte, wie es in ihr aussah. Umso dankbarer war sie ihr, dass sie nicht darauf bestand, dass sie sich komplett zurückhielt.

„Und? Was sagt ihr?" Unentschlossenheit und eine gerunzelte Stirn leuchteten ihr wie Neonreklame entgegen und sie biss sich auf die Unterlippe, als sie sich daran erinnerte, dass Hendrik genauso ausgesehen hatte, während sie durch ihr Haus gelaufen waren. Wie damals hatte sich der Makler auch heute etwas zurückgezogen und stand an der Tür des großen Wohnzimmers, das einen Essbereich beherbergen konnte.

So wurde die Küche wettgemacht, in der nur ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen Platz haben würde. Aber die Küchenzeile war bei dieser Wohnung bereits enthalten. Was eine große finanzielle Entlastung für Anna und Flo bedeuten würde, die ihr erklärt hatten, dass sie ihr künftiges Domizil komplett allein finanzieren wollten.

Zudem lag die Wohnung nicht weit entfernt von Florians Hochschule und Annas Arbeitsplatz war auch bequem über die Öffis erreichbar. Wobei Gretel zugeben musste, dass sie glaubte, Anna würde sich ungern den Menschen in einem Bus aussetzen. Fremde waren ihr weiterhin nicht geheuer, so sehr sie auch an ihrem Selbstbewusstsein gearbeitet hatte. Doch Begeisterung sah trotzdem anders aus, wenn Gretel sich die zweifelnden Gesichter vor sich besah. „Ich kann mir leider gar nicht vorstellen, wie es hier eingerichtet aussehen würde."

Ihr Sohn zuckte entschuldigend mit seinen Schultern, während Anna den Kopf schüttelte und Gretel einen amüsierten Blick mit dem Makler wechselte. Sie konnte sich noch zu gut erinnern, dass es wohl jedem jungen Paar so ergangen war: Da leuchteten einem kahle Wände entgegen und man sollte seine Vorstellungskraft dazu nutzen, sie in Gedanken zu einem Heim zu modellieren.

Gretel wollte gerade mit ihren Erklärungen ansetzen, wo welche Möbel stehen könnten, als Anna sich Florian zuwandte und ihn anlächelte. „Es ist perfekt, weißt du, Ace? Da – an dieser Wand – könnte mein Sofa hin. So hat ein eventueller Übernachtungsgast wie deine Mutter gleichzeitig einen Raum für sich, wenn er ... hm ... sagen wir mal ... übers Wochenende kommt..."

Ihre Augen wurden kugelrund und sie schluckte hastig gegen den sich rasantbildenden Kloß in ihrem Hals an, während ihr Blick zu Anna flog. Ihre Brust zog sich ebenso zusammen und sie bemerkte, dass Florians Freundin scheinbar genau abschätzte, wie ihre Worte bei ihr ankamen. Denn Anna schaute sie an und ihre Mundwinkel zogen sich für einen Sekundenbruchteil hoch, ehe sie sich wieder Flo zuwandte. „Hier können wir einen Raumteiler platzieren und so den Wohn- vom Essbereich trennen. Da hätte auch..."

Gretel lauschte vollkommen gerührt Annas weiteren Ausführungen und beobachtete, wie sich das Gesicht ihres Sohnes bei jedem Wort mehr erhellte. Als Anna und er den Raum verließen, strahlte er längst. Flo hing seiner Freundin an den Lippen, die ihre gemeinsame Wohnung bereits mit Träumen füllte, die sie sich alle hier erfüllen wollten.

Sie fing nochmal den belustigten Blick des Maklers auf, ehe auch er aus den Raum verschwand und sie allein zurückließ. Sie konnte kaum glauben, welches Geschenk ihr Anna gerade gemacht hatte, und schluckte ein weiteres Mal. Sie hatte die Befürchtung gehabt, dass sie fortan ihren Sohn nur noch sehr selten sehen würde. Aber offenbar plante Florians Freundin etwas anderes und die Freude darüber brachte ihre Finger zum Zittern.

Jetzt gefällt mir diese Wohnung noch mehr. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und wollte den anderen gerade aus dem Zimmer folgen, als der Makler das Wohnzimmer wieder betrat. Fragend hob sie die Augenbraue hoch und er trat auf sie zu. „Frau Gruber, so wie es aussieht, sind die beiden absolut begeistert. Es gibt nur ein Problem: die Finanzierung. So wie ich es verstanden habe, wird Ihr Sohn in Vollzeit studieren und seine Freundin eine Ausbildung machen. Das hat natürlich auch eine Probezeit inne und mir wäre wohler, wenn ich dem Vermieter eine weitere Sicherheit bieten..."

„Ich unterschreibe die Bürgschaft. Aber bitte sagen Sie den beiden nichts, ok? Sie würden es niemals darauf ankommen lassen und die Miete nicht bezahlen. Doch sie möchten unbedingt alleine für ihr Leben aufkommen. Geben wir ihnen das Gefühl, ja?" Sie sah, wie die Augen des Maklers erneut zu strahlen begannen, ehe er nickte.

Sie nahm das Klemmbrett entgegen, auf dem das Formular über die Bürgschaft angeheftet war und füllte sie schnell aus, während Annas und Florians Stimme weiterhin aus dem Schlafzimmer zu ihnen drang. Kaum hatte sie ihre Unterschrift unter ihre Angaben gesetzt, wurde die hölzerne Tür zum Wohnzimmer aufgeschoben.

„Ma? Wir werden hier einziehen..." Florian strahlte übers ganze Gesicht und auch Anna wirkte ganz vergnügt, ehe ihr Sohn ernst wurde und sich zum Makler drehte. „Also... wenn wir für den Vermieter in Frage kommen..."

„Oh, da sehe ich keine Probleme", erklärte der Mittvierziger und seine Augen leuchteten auf, als auch Florian und Anna sofort wieder strahlten. Auf Gretels Gesicht breitete sich ebenfalls ein Grinsen aus.

„Dann gibt es nur noch ein paar Dinge zu klären: die Kaution..." Sie hörte, wie Anna den Mann im Anzug mit den letzten Fragen löcherte, während sie den Raum wieder verließen. Mit einem abschließenden Blick sah sich Gretel nochmals im Zimmer um, in dem ihr Sohn sein nächstes Domizil finden würde, ehe sie sich ebenfalls abwandte und hinter ihnen in den kleinen Flur trat.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now