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Die Sommerferien neigten sich dem Ende zu und noch immer hatte sich ihre Anspannung nicht entladen. Stattdessen nahm sie zusehends zu. Florian hatte sein Zimmer kaum mehr verlassen und wenn sie es betreten hatte, war ihr ein unfassbarer Mief entgegengeschlagen. Flo lag tagtäglich inmitten des Chaos in seinem Bett und starrte an die Wand.

Früher hatten dort seine Zeichnungen gehangen, wo jetzt nur noch kahles Weiß zu sehen war. Jedes Mal, wenn sie es bemerkte, zog sich ihre Brust noch mehr zusammen. Wie oft war Florian schon seit der Grundschule mit seinen Bildern zu ihnen gekommen und hatte sie ihnen mit stolzleuchtendem Gesicht gezeigt. Jetzt musste sie bereits darum kämpfen, dass er überhaupt mal unter die Dusche stieg.

„Florian, komm schon. Bitte, steh auf." Sein leerer Blick streifte Gretel und sie schluckte wie so oft anhand der unfassbaren Traurigkeit, die sich um seine hängenden Mundwinkel geschlungen hatte und seine Augen matt machte. Ohne sie auch nur wirklich anzusehen, drehte er ihr den Rücken zu. Für ein paar Sekunden gab sie der Hilflosigkeit nach, die wie Felsbrocken auf ihren Schultern lastete und schloss die Augen.

Doch dann schüttelte sie den Kopf, richtete sich auf und griff nach der Bettdecke, um sie ihrem Sohn wegzuziehen. „Es reicht mir jetzt, Flo! Ich weiß, du bist untröstlich, aber er wird nicht wieder zurückkommen, verstehst du? Ich wünschte von ganzem Herzen, es wäre anders, aber ich kann es nicht ändern!"

Ein kurzes Knurren drang zu ihr und sie wollte erleichtert nach Luft schnappen, weil zumindest das zu Florian durchgedrungen zu sein schien. Mit neuem Mut fasste sie nach dem Fuß, der über die Bettkante hing und zerrte so lange an ihm, bis Flo sich aufrichtete und sie anfunkelte. „Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen! Weißt du, nicht jeder kann so tun, als wäre alles ok. Als würde es einem am Arsch vorbeigehen, dass das große Vorbild gestorben ist, das man jeden Tag vermisst. Nicht jeder ist eine beschissene Eisprinzessin."

Einen Moment starrte sie ihn an und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Denn er hatte recht. Obwohl sie sich bemühte, diese Leere in sich abzuschütteln. Aus dieser Trance aufzuwachen, mit der sie alle Dinge des Alltags erledigte. Wenn Flo sie nicht in Anspruch nähme, vielleicht würde sie dann ebenfalls irgendwo liegen und die Wände anstarren und hoffen, sie könnte mit purer Gedankenkraft den Teil ihrer Familie zurückzaubern, der sie nicht mehr umgab. Aber er würde sie nie wieder in den Arm nehmen, sie würde nicht nochmal sein Gewicht auf ihr ruhen spüren und sich an seiner Wärme laben.

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als der Schmerz sie unvermittelt traf und sie fast aufgrund der Empfindung taumelte. Ein Schluchzen stieg ihre Kehle hinauf, doch es blieb ihr im Hals stecken. Es gesellte sich zu all den anderen, die sich dort bereits zu einem festen Knäuel gebildet hatten. Aber all das nahm ihr Sohn nicht wahr. Er stierte sie weiterhin feindselig an und sie machte einen Schritt vor, um sich neben ihn fallen zu lassen und ihn in ihre Arme zu ziehen. Denn zwischen all der Wut sammelten sich bereits neue Tränen in seinen Augen.

Sie sah, wie die Anspannung in seinem Körper nachließ und er wieder in sich zusammensackte. „Ich dachte, du hättest ihn geliebt. So wie ich. Aber du machst einfach weiter."

Seine Worte schnitten in ihr Herz und sie versuchte weiterhin zu atmen, während der Druck in ihrer Brust sich zu verdoppeln schien. Das Gewicht auf ihren Rippen drohte sie jeden Moment zu erdrücken. Schnell konzentrierte sie sich auf ihren Sohn, dessen Schultern nun bebten und über dessen Gesicht die kleinen Salzwassertröpfchen rollten, die sie selbst nicht vergießen konnte.

Jetzt kam doch Bewegung in sie und sie zog ihn an sich. Als er sich gegen sie stemmte, umklammerte sie ihn fester. Mit allem, was sie geben konnte, setzte sie seiner Verzweiflung etwas entgegen, während sich die Taubheit erneut in ihr ausbreitete. Sie war nur noch müde. Könnte Monate schlafen, ohne wirklich Ruhe zu finden. Sein Schluchzen gellte in ihrem Ohren wie immer und sie wunderte sich fast, dass aus den Hörmuscheln nicht schon längst Blut floss. Sie verstand ihn. Erkannte, warum er sich so allein fühlte.

Eine ihr nicht mehr unbekannte Unzulänglichkeit machte sich in ihr breit, während Florian sich weiterhin gegen ihre Umarmung wehrte. Seine Finger hinterließen brennende Male auf ihrer Brust und sie schloss die Augen. „Ich vermisse ihn auch, Raupe. So sehr. Aber ich muss weitermachen. Irgendwie. Ich muss."

Gretel hatte keine Ahnung, ob Flo sie verstanden hatte. Doch plötzlich erschlafften seine Arme und er sank so heftig gegen ihren Körper, dass sie fast umgekippt wäre. Im letzten Moment fing sie sich ab und schmiegte ihren Kopf gegen seinen, während ihr Blick sich aus der großen Balkontür verirrte. Aus dem angekippten Fensterrahmen drang Vogelgezwitscher zu ihr und versprach ein Idyll, das nichts mit der Realität zu tun hatte, in der sie versank. Rechnungen wollten bezahlt, Essen musste gekocht, Wäsche gewaschen und Einkäufe erledigt werden. Ihren Job musste sie auch erledigen. In Vollzeit. Denn die Witwenrente ging für den Hauskredit drauf.

Plötzlich sehnte sie sich danach, die Hände in der Erde zu vergraben und neue Blumenzwiebeln fürs nächste Jahr einzubuddeln. Die Welt drehte sich erbarmungslos weiter, egal, wie es in ihr aussah. Und sie würde weiterhin ihr Bestes geben, um den Garten in Schuss zu halten und zum Blühen zu bringen. Schon alleine, um ein Zeichen zu setzen. Sie würde die Leere in sich mit floraler Schönheit und den Erinnerungen an den Mann füllen, der ihr dieses Kleinod zu Füßen gelegt hatte.

Dazu musste sie sich nur noch einmal zusammenreißen. Automatisch baute sich Emelies Gesicht vor ihr auf, wie diese sie besorgt musterte. Ihr das Geständnis abringen wollte, dass sie sich zwischen den ganzen Alltagspflichten versteckte, um nicht anerkennen zu müssen, dass ihre Welt sich verdunkelt hatte, seit Hendrik sie nicht mehr jeden Morgen begrüßte.

Sein Shirt riecht auch nicht weiter nach ihm. Er ist weg. Ich kann ihn nicht mehr spüren. Der hellblaue Himmel schien sie zusammen mit der Sonne zu verspotten, als sie sich fragte, ob sie nicht genau das gewollt hatte. Ob sie sich nicht danach gesehnt hatte, die Melancholie abzustreifen zu können, weil Hendrik nicht weiterhin allgegenwärtig war. Die Wahrheit war, dass sein Verlust spürbarer wurde, je mehr ihr Mann verschwand.

„Er fehlt mir so, Mam." Sie nickte, als sie sich wieder bewusst wurde, dass sich die Fingerspitzen ihres Sohnes in ihre Schultern bohrten, während er mit von Schluchzern zerfetzt diese paar Worte nuschelte.

„Er ist noch da. In unseren Herzen. Irgendwo. Da lebt er." Ihr Flüstern schickte eine Gänsehaut über ihren Rücken, als es in ihrem Kopf schrie, wieso sie Flo belog. Sie glaubte nicht mehr daran, dass er da war. Dafür breitete sich jetzt die Leere in ihr zu stark aus. Dennoch spürte sie, wie Florian nickte.

Plötzlich bemerkte sie den kleinen Schmetterling, der vor der Balkontüre seine Kreise zog. Stirnrunzelnd schaute sie ihm zu und konnte den Blick nicht von ihm lösen. Als er sich auf das metallene Geländer setzte, um in der Sonne mit seinen dunkelblauen Flügeln zu zittern, brach der Knoten in ihrem Hals überraschenderweise auf – und sie fing zu weinen an. Denn die Flügel wiesen das gleiche Blau auf wie die Augen, die sie nie wieder ansehen würden.

Sie merkte, wie sich erneut Druck auf ihre Brust senkte, als sie zurück in der Gegenwart ankam und sie sich zusammenriss, nicht wieder in Tränen auszubrechen. Damals hatte sie fast das verloren, was sie ausgemacht hatte: Ihr Licht. Ohne Florian an ihrer Seite, der Verpflichtung, sich um ihn zu kümmern, wäre sie wahrscheinlich im Dunkel versunken.
Aber so hilfreich diese Tatsache gewesen war, so hatte es sie zeitgleich schlicht zerrissen. Da jetzt doch ein Schluchzen aus ihrer Kehle poltern wollte, schlich sie um die Ecke und hockte sich einen Moment in den Schatten. Gleich konnte sie sich der Freude wieder stellen. Aber gerade war sie vom Echo ihrer Trauer zu abgelenkt, um sich mit ihrem Sohn und seiner wundervollen Frau zu freuen.

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Gretel - Das bin ichDonde viven las historias. Descúbrelo ahora