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Dennoch lauschte sie den Worten des Geistlichen und vertiefte sich in der Betrachtung des Brautpaares. Das nur Augen füreinander hatte. Genauso sollte es auch sein, dachte sie und versuchte, die Wehmut abzuschütteln, die sie bereits seit der standesamtlichen Trauung am gestrigen Tage so nachdrücklich im Griff hatte. Gestern waren nur die Trauzeugen und die engste Familie dabei gewesen, denn heute würde die Liebe von Florian und Anna im großen Stile zelebriert werden. Und sie hatte vor, jede Sekunde davon zu genießen. Doch es fiel ihr nicht so leicht, wie sie es sich geschworen hatte. Immer lauter wurden die Erinnerungen, die sie gestern überfallen hatten. Auch die Stimme, dass sie ihr Herz nicht weiter verschließen dürfe, nahm an Nachdruck zu. Wieso dachte sie weiterhin, dass sie damit Hendrik verraten würde? Warum fiel es ihr so schwer, ihn als eine wunderschöne Begleitung ihres Lebens abzutun, die schon vor langer Zeit geendet hatte, und weshalb blutete ihr Herz vor Sehnsucht, wenn sie ihren Sohn beobachtete?

Lächelnd musterte Gretel Florian, der über das komplette Gesicht strahlte, nachdem Anna ihm bei ihrem gemeinsamen Frühstück signalisiert hatte, dass ihm das Rührei vorzüglich gelungen war. Sie hatte keine Ahnung, was es mit dem Gericht auf sich hatte, doch sie hatte gespürt, dass es etwas Großes sein musste. Anna hatte im gleichen Maß gerührt gewirkt, wie Flo nervös gewesen war und sofort hatte sich ihr Herz wieder zusammengezogen.

Sie wusste weiterhin nicht, was sich am gestrigen Tag abgespielt hatte, nachdem Flo sie panisch angerufen hatte, damit sie ihn und seine Freundin abholen kam. Aber sie hatte die beiden noch auf Florians Balkon sprechen hören, als sie leise von Emelie nach Hause gekommen und sich lautlos in ihr Schlafzimmer im Untergeschoss verzogen hatte.

Sie hatte nicht verstehen können, was sie geredet hatten. Nur der wehmütige Klang von Anna und Flos Überzeugung waren durch das weitgeöffnete Fenster zu ihr geschwebt. Währenddessen hatte sie darüber nachgedacht, wie der heutige Tag sich wohl entwickeln würde. Im letzten Jahr hatte Florian sich kaum aus dem Bett erheben können, doch heute schien ihr Sohn vergessen zu haben, dass zwei Jahre vergangen waren, seit sein Vater aus ihrem Leben gerissen worden war.

Anna tat ihm so gut, als hätte sie die Leere in der Brust ihres Sohnes auf eine Art und Weise füllen können, wie es ihr nicht gelungen war. Was leider nicht bewirkte, dass sie sich halb so gut fühlte, wie sie beim Frühstück getan hatte. Sie vermisste Hendrik schmerzlich und sie musste sich wirklich zusammenreißen, die Tränen immer wieder zurückzudrängen, die knapp unter der Oberfläche ruhten. Doch bisher gelang es ihr ganz gut, erinnerte sie sich, während sie beobachtete, wie Florian und Anna sich zurück in sein Zimmer verzogen.

Mit einem Seufzen stellte sie die Wurst und den Käse in den Kühlschrank und räumte den Geschirrspüler ein, ehe sie sich den kleinen Notizblock und einen Stift schnappte, um die Einkaufsliste aufzusetzen. Es ist besser, wenn ich mich ablenke. Wobei mich nichts davor bewahren wird, dass ich heute noch Tränen vergießen werde. Allein. Anders als geplant.

Sie riss mühselig den Blick von dem leeren Blatt Papier los, auf dem sie bisher keine einzige Besorgung notiert hatte. Stumm tadelte sie sich und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit zurück auf den sich leerenden Kühlschrank und die Vorratsschränke zu lenken. Obwohl es schon jetzt versprach, ein irre warmer Tag zu werden, freute sie sich trotzdem darauf, aus dem Haus zu kommen. Ihre Gedanken schwebten erneut davon und befassten sich damit, ob sie zu Fuß zu ihrem Ziel gehen oder lieber doch den Wagen nehmen sollte. „Margarethe! Jetzt reicht es aber!"

Ihr Flüstern lastete schwer im Raum und schien wie Sirup in der Luft zu kleben, während sie sich endgültig dazu durchrang, die Einkäufe zu planen, die sie heute hinter sich bringen musste. Doch leicht war es nicht. Immer wieder driftete ihr Kopf zu der Frage, ob sie Florian daran erinnern sollte, was für ein Tag war. Aber hat er nicht ein bisschen Leichtigkeit verdient? Oder ist es ein Affront gegen Hendrik und Flo macht mir im Nachhinein vielleicht Vorwürfe dafür, dass ich es ihm nicht ins Bewusstsein gerufen habe?

Seufzend riss sie den Zettel vom Block und las sich nochmal durch, was sie notiert hatte. Ihre Brust schnürte sich mit jeder Minute mehr zu und sie gab es auf, sich weiter den Kopf zu zerbrechen. Den Rest würde sie schlicht einkaufen, wenn es ihr im Laden in die Augen fiel. Sie konnte sich ja doch nicht konzentrieren. Also schrieb sie nur noch eine Notiz für Florian auf den Block, dass sie nun unterwegs war, und trat aus der Küche.

Barfüßig durchquerte sie den Wohnraum und trat durch den breiten Bogen in den Flur, wo ihre Augen gewohnheitsmäßig an dem großen Bild hängenblieb, von dem aus sie ihr Mann anstrahlte. Augenblicklich verkrampfte ihre Brust noch mehr und sie beeilte sich, sich wieder vom Anblick seines fröhlichen Konterfeis zu lösen und in ihre Sandalen zu schlüpfen.

Mit den Fingern strich sie sich nochmal durch ihr Haar, während sie sich einen nachlässigen Blick im Spiegel zuwarf. Danach angelte sie nach der Handtasche, ehe sie vom Schlüsselbrett ihre Schlüssel fischte. Kaum hatte sie die Haustür geöffnet, war ihr, als pralle sie gegen die heiße Luft, die sich bereits schon wieder zwischen den kleinen Einfamilienhäusern staute, die sich um die geschwungene Straße reihten.

Gretel prustete ihre Wangen auf und trat ins Freie. Vielleicht sollte sie sich heute Nachmittag ins Freibad verziehen. Aber die Aussicht, dort alleine in der Sonne zu braten, war nicht sonderlich verlockend und Emelie hatte bereits eine Verabredung. Und für alle anderen hatte sie irgendwie keinen Nerv heute. Also würde sie sich wohl eher in ihrem Garten vergraben, nachdem die Bruthitze nachgelassen hatte und mit ihren Gedanken und einem Glas Wein auf der Terrasse versacken.

Reflexartig zuckte sie mit den Schultern und entriegelte ihren Wagen. So würde zumindest der Fahrtwind für ein bisschen Erleichterung sorgen, dachte sie und schob sich hinters Lenkrad, ehe sie den Motor startete und ihre Handtasche auf den Beifahrersitz gleiten ließ. Mit einem prüfenden Blick in den Rückspiegel setzte sie rückwärts aus der Einfahrt und lenkte den Wagen aus der Siedlung heraus, die schon so lange ihre Heimat war. Ein sanftes Lächeln zupfte an ihren Lippen, als sie Hendrik und sich vor der Tür des Hauses stehen sah, das sie anschließend renoviert hatten. Das Lächeln wurde wehmütig, als sie sich daran erinnerte, wie oft sie sich zwischen Farbtöpfen und Kartons geliebt hatten. Wie sie am Abend ihres Einzuges völlig erschöpft Arm im Arm auf dem Sofa eingeschlafen waren, ehe sie am nächsten Morgen in der Dusche übereinander hergefallen waren.

Hendriks Begehren hat sich stets mit meinem messen können. Wehmut zerfetzte ihr nun schier die Rippen, während sie ihr Auto auf den großen Parkplatz lenkte, der an eine hohe Mauer grenzte. Sie parkte im Schatten eines altehrwürdigenden Ahorns und verließ den Wagen, nachdem sie nach ihrer Handtasche gegriffen hatte. Schleppenden Schrittes betrat sie den Friedhof durch das gusseiserne Tor, das die Welt der Lebenden von dem der Verblichenen trennte.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now