IV - 3

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Da nun Musik gespielt wurde, wo nicht notwendigerweise ein Tanzpartner benötigt wurde, mischte sich Gretel unter die anderen Gäste. Wie immer half es ihr, ihre Emotionen etwas unter Kontrolle zu bringen. Während sie die Hüften genauso zum Takt bewegte wie ihre Füße, sah sie im Augenwinkel, wie Florians Blick sie streifte. Als er sie entdeckte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, ehe er sich wieder seiner Frau zuwandte.Das würde sie sich wünschen. Das sie sich jetzt zwischen den anderen tanzenden Körpern manifestieren und sich dem wummernden Bass hingeben konnte. Doch dann blieb ihr Blick an einer von Annas Freundinnen hängen: Ela. Die hatte ihre Hand auf die Spitze ihrer Babykugel gelegt und lächelte ihrem Freund zu. Sofort versank sie aufs Neue in der Vergangenheit, wo Hendrik ihr geschenkt hatte, was sie so nötig gebraucht hatte: Hoffnung.

Es war totenstill im Haus und sie fragte sich, ob Hendrik vielleicht doch das Weite gesucht hatte. Immerhin hatte er dieses Wochenende frei und sonst blieben sie bis in die Puppen liegen. Meistens weckte einer den anderen, weil die Sehnsucht nacheinander zu groß war, um noch länger zu warten. Aber der gestrige Tag hatte das offenbar verändert. Sie tappte die Treppe nach unten, nachdem sie ihre Morgentoilette erledigt hatte, und entdeckte ihn im Wohnzimmer.

Er saß im Schneidersitz auf dem Sofa und starrte andächtig auf den Laptop auf seinem Schoß. Sofort wallte Liebe in ihr auf. Sie hatte nie jemanden so geliebt wie ihn. Schon sein konzentrierter Ausdruck, der sich auf seinem Profil zeigte, brachte ihr Herz wild zum Pochen. Gretel näherte sich ihm langsam und wusste nicht, wie sie sich richtig verhalten sollte. Sie hatten natürlich in der Vergangenheit auch schon gestritten. Aber nie hatte sie diese Kluft gespürt, die sie zu trennen versuchte.

Sie rutschte neben ihm aufs Sofa und seine Augen hafteten sich sofort auf ihr Gesicht und suchten offenbar nach Spuren, wie sie sich fühlte. Besorgnis leuchtete auf seinen Gesichtszügen auf und sie unterdrückte den Impuls über seine Bartstoppel zu streicheln, die sie eigentlich mochte, die er aber sonst täglich wegrasierte. Außer an seinen freien Tagen, da durften sie sprießen.

„Was machst du?", fragte sie und Hendrik zuckte mit den Schultern.

„Recherchieren, welche Ursachen weibliche Unfruchtbarkeit hat und was man tun kann, um sie zu umgehen."

Sofort wurde ihr das Herz wieder schwerer und sie nickte schluckend, ehe er anfügte: „Aber es gibt so viele Ursachen dafür und darum sind die ‚Behandlungsmöglichkeiten' unterschiedlich. In einigen Fällen können sie den Grund sogar nicht feststellen. Willst du mir sagen, was der Arzt gestern erklärt hat und wieso du überhaupt dort warst? Du hast mir nicht gesagt, dass du an deiner Fähigkeit zweifelst, Kinder bekommen zu können."

„Ich hatte den Verdacht auch nicht so wirklich. Ich wollte nur ... Ich war eigentlich wegen etwas anderem beim Gynäkologen und dann ... Ich fang besser von vorne an."

Alles in ihr schrie, dass sie nicht darüber reden wollte. Aber er war ihr Mann und es ging auch um seinen Traum, Kinder zu haben. Also war sie es ihm schuldig. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sich ihre Brust wieder zuzog, als sie an das Gespräch mit dem Frauenarzt dachte. Sie schluckte gegen den Kloß an, denn sie hatte keine Wahl. Irgendwann musste sie doch Rede und Antwort stehen.

„Ich bin hin, weil ich etwas verwundert war, weil ich meine Periode nicht so regelmäßig bekomme und sie manchmal praktisch kaum existent ist, während ein anderes Mal ... Ich hatte immer Probleme damit. Ich dachte als Jugendliche, das wäre normal, weil na ja, immerhin braucht der Zyklus etwas, um sich einzustellen. Aber weil ich immer Probleme damit hatte - Schmerzen, Migräne, Übelkeit - bin ich damals zu meinem Arzt und der verschrieb mir die Pille. Sie würde das Hormonungleichgewicht schon regeln, war die Aussage."

Ihre Stimme war verdammt kippelig und offenbar merkte Hendrik, dass sie nicht gerne darüber sprach, denn er stellte den Laptop auf den Couchtisch und streckte still den Arm aus. Sie flog förmlich hinein und ließ es sich nur zu gern gefallen, dass sich seine Arme um sie schlossen und sein Geruch sie einhüllte. Sie wollte nicht heulen, aber der Schock saß weiterhin tief.

„Du weißt ja, dass ich die Pille immer durchgenommen habe, so wie mein Arzt mir das zu der Zeit geraten hatte. Als ich sie dann abgesetzt hab, weil wir beschlossen haben, die Familienplanung in Angriff zu nehmen, hat mir mein Gynäkologe gesagt, es dauert ein paar Monate, bis sich der Zyklus wieder einspielt. Doch es hat sich nichts eingespielt. Ich wollte nur wissen, warum. Darum bin ich zum Arzt. Aber der ist stutzig geworden..."

Sie unterbrach sich, weil sie merkte, wie sie erneut zu zittern anfing, als sich die Erinnerung an die Panik in ihr breitmachte, die sie bei der Besorgnis auf dem Gesicht des Mediziners geflutet hatte. Hendrik schwieg und sie war ganz froh darüber, denn so musste sie ihn nicht ansehen und nicht das Mitleid in seinen Augen wahrnehmen, das sich vermutlich darin spiegelte. Das wäre mehr, als sie gerade ertragen könnte.

„Er hat Untersuchungen gemacht, Blut, Sonografie und so. Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit, dass ich auf biologischem Wege schwanger werde, geht gen null..."

Jetzt brach sie trotzdem wieder in Tränen aus und mühte sich, zu erklären: „Mein Hormonspiegel, der dafür wichtig wäre, ist schon unzureichend. Das ist aber nicht das Problem, das könnte man behandeln. Doch ich hab auch ... Ich ... Die Beweglichkeit meiner Eileiter ist eingeschränkt, das verhindert praktisch, dass eine Eizelle ihren Weg findet. Darum ist mein Zyklus so komisch. Da kann man nichts machen. Auf natürlichem Wege ist es nahezu ausgeschlossen, dass ich schwanger werde."

„Oh, Liebling", raunte Hendrik nur und sie barg schluchzend das Gesicht an seiner Brust.

Sie hörte sein Herz hart gegen seine Rippen pochen und wünschte sich, sie könnte die verdammte Hilflosigkeit abstreifen, die sie empfand. Genauso wie Wut, Trauer und Verzweiflung. Das war ansonsten nicht ihre Art. Sie war ein positiver Mensch, aber sie hatte sich so sehr gewünscht, Hendriks Baby unter dem Herzen zu tragen und in sich zu fühlen, wie es heranwuchs.

„Man könnte es mit Hormontherapie und künstlicher Befruchtung... Ich ... Es hat viele Nebenwirkungen, ist ein massiver Eingriff in ... Ich weiß nicht. Die Chance ist trotzdem nicht sehr hoch. Und es hat viele Nebenwirkungen, Hormontherapie, Entnahme und Einsetzen der Eizellen, Schwangerschaft. Ich weiß nicht ... Wenn ich daran denke, dass unser Kind - sofern es klappt - in einem Reagenzglas ... Ich fühl mich nicht ... ich hab keine Ahnung."

„Ok, Liebling, das müssen wir nicht jetzt entscheiden, ok? Dafür ist es vielleicht zu früh. Das ist ok. Es ändert nichts daran, dass ich dich liebe, in Ordnung?"

„Ich hasse mich. Wirklich. Seit gestern verabscheue ich mich ... ich hab unseren Traum zerstört ... ich..."

„Nein, stopp. Ich will das nicht hören, klar? Überhaupt will ich nicht, dass du so über dich denkst, verstanden?"

„Aber..."

„Gretel, hey, schau mich an", bat er und als sie den Blick hob, um in seine Augen zu sehen, flüsterte er: „Ich liebe dich. Daran kann nichts etwas ändern. Egal, ob wir Kinder haben werden oder nicht. Du bist meine zweite Hälfte, ok?"

Sie spürte, wie er ihr nochmals Tränen vom Gesicht wischte und nickte, ehe er ihr sanft seine Lippen auf ihre drückte. Sie wollte, dass er es ihr zeigte. Brauchte es, zu spüren, dass er sie nicht mit anderen Augen sah, so wie sie das tat. Also zog sie seinen Kopf zu sich und vertiefte den Kuss. Sie spürte seine Verwunderung, die jedoch sofort von Nachgeben abgelöst wurde. Nun zog Hendrik sie näher und legte seine Hände auf ihre Hüften. Das war es, was sie brauchte: Kein Mitleid, sondern das Wissen, dass er sie weiter begehrte...

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now