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Sie spürte den Seitenblick ihrer Mutter, als sie sich wortlos aufs Neue in die Kolonne einreihte. Sofort zitterten ihre Hände noch mehr. Erneut wurde gehupt, doch auch dem enthielt sie sich. Zu vorherrschend waren gerade die Gefühle, die sie bis zu jenem Silvester sorgsam in sich verborgen hatte. Da hatten die Gesprächsversuche ihrer Mutter keinen Platz in ihrem Denken, wo sie weiterhin aufgefüllt war von den Erinnerungen an diesen Abend. Obwohl sie ihre Atemzüge im Geist zählte, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, lief ihr ein Schauer nach dem nächsten über den Rücken und das Atmen fiel ihr schwer. Sie hatte nicht gewusst, dass sie mehr mit sich herumschleppte, als auf den ersten Blick ersichtlich gewesen war. Doch an jedem Abend war alles an die Oberfläche geschwappt...

Nochmal ging ein Ruck durch sie, als sie die Worte aussprach, die sie so hartnäckig von sich geschoben hatte in den letzten Jahren. Nick runzelte kurz die Stirn und sie biss sich auf die Zunge, doch es war zu spät. „Wie konnte er!"

Sie sah, wie Nick sie wieder an sich ziehen wollte, doch sie schüttelte mit dem Kopf. Der Schmerz schien jeden Winkel ihres Seins auszufüllen und sie wusste, wenn er sie jetzt umarmte, würde sie implodieren. Dennoch zitterte sie vor Wut. „Wie konnte er sich das Recht rausnehmen, zu entscheiden, sein Leben wäre weniger wert, als das seines Kollegen! Wieso dachte er, SEIN Sohn und SEINE Frau kämen besser mit dem Verlust klar? Weil sein Sohn schon ein Teenager war? Wie konnte er uns das antun!"

Nick senkte seinen Kopf und sie schluckte, als die Scham über ihre Worte sich mit scharfen Krallen in ihr Herz schlug. Wie immer, wenn sie diesen Gedanken auch nur in Erwägung zog. „Ich will, dass es aufhört. Ich hasse mich."

Der Wunsch glomm so stark in ihr auf, dass sie dachte, Niklas müsse sich an ihr verbrennen, als er sie endgültig wieder an sie zog und ihr einen Kuss ins Haar hauchte. „Nicht doch. Hass dich nicht. Es wird aufhören."

„Wann, Nick? Verdammte Scheiße. Ich mag dich wirklich. Mehr als irgendjemanden, der mein Leben berührt hat, wenn man von ihm absieht. Warum kann ich diese Gefühle nicht einfach hinter mir lassen? Hab ich es nicht verdient, mich wieder komplett zu fühlen? Wie lang muss ich noch die Scherben kleben? Er hat mich zerbrochen, als er sich aus dem Staub gemacht hat! Als er die Entscheidung getroffen hat, das Leben seines Kollegen über seins zu stellen. Dessen Familie über seine." Sie schluchzte hart auf, als sie bemerkte, wie Nick ihr sanft über den Rücken streichelte.

So viele Worte sammelten sich in ihrem Mund und sie war nicht fähig, nur eins zu sagen, so sehr schüttelte es sie. Scham und Wut kämpften mit ihrem Selbsthass um die Herrschaft über ihr Herz, dass schnell gegen ihre Rippen schlug. „Wie kann ich ihn hassen? Wie hasst man jemanden, der sich für einen anderen geopfert hat."

„Du darfst ihm sein Handeln vorwerfen, verstehst du? So ehrenhaft er offenbar gehandelt hat, du darfst es ihm vorhalten, Gretel. Ich kannte ihn nicht. Aber es war egoistisch. Nicht bewusst, das will ich nicht behaupten, doch..."

Nick unterbrach sich, als sie mit den Schultern zuckte. Unwirsch wischte sie sich die Tränen vom Gesicht. „Er war ein Egoist, ok? So oft hab ich mich seinen Wünschen gefügt. Ich habe es geliebt. Weil sich immer alles zum Guten gewendet hat. Letztlich hat es das. Trotzdem kann ich ihm nicht verzeihen. Das nicht."

Nick murmelte eine Zustimmung und hauchte aufs Neue einen Kuss in ihr Haar, was bewirkte, dass sich alles in ihr zusätzlich verkrampfte. Sie sollte sich beruhigen. Doch sie war nicht fähig dazu. „So viel ist irgendwann ok geworden. Tut noch weh. Ist aber ok. Sein Opfer kann ich nicht verschmerzen. Wusste er nicht, dass sein Sohn so an ihm hängt, dass er in Depressionen versinken würde? Es war so unfassbar schwer, nicht zu brechen und Florian aufzurichten!"

Wie ungerecht, das auf Nicks Schultern auszutragen! Nachdem ich ihn gerade so verletzt habe! Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, biss sie sich auf die Zunge. Kein einziges Wort sollte mehr ihren Mund verlassen. Sie rutschte abrupt von seinem Schoss und als sich seine Stirn runzelte, griff sie nach ihrem Schlafanzugoberteil. Mit fahrigen Bewegungen zog sie es sich über den Kopf. „Du solltest jetzt gehen. Tut mir leid, dass ich dein Silvester verdorben habe. Nichts lag mir ferner, als dich zu verletzen."

Damit stand sie auf und wollte den Raum verlassen, doch Nicks Hand schoss vor und hielt sie fest. „Das kannst du vergessen, Gretel. Ich lasse mich nicht wegschicken."

Überrascht zuckten ihre Brauen hoch, ehe sie schluckte, weil seine grimmig zusammengezogen über seinem kalten Silberblick thronten. Sein Mund bildete eine schmale Linie und für eine Sekunde webte sich Hoffnung in ihr Gefühlschaos. Neue Tränen stiegen in ihr auf und sie verabscheute es, dass ihre Stimme so belegt klang. „Was willst du tun? Sag mir, dass es keine Bedeutung für dich hat, dass ich seinen Namen gestöhnt habe, als du mich berührt hast."

Dass er den Blick abwandte, war Antwort genug. Sie wollte ihm ihren Arm entziehen und ihre Forderung wiederholen, er solle gehen. Doch dann wanderten seine Augen wieder zu ihren. „Ja, das hat wehgetan, Gretel. Ich fühle mehr für dich, als ich sollte. Aber wenn du denkst, ich lasse mich jetzt in die Flucht treiben, hast du dich getäuscht, ok? Gerade klappt es nicht, im Moment kann es kein Wir geben, zumindest nicht auf Beziehungsebene. Das ist in Ordnung. Ich hab sowieso lieber eine gute Freundschaft als eine beschissene Partnerschaft. Ich gebe dir lieber jetzt die Zeit, die du brauchst, als ständig mit einem Geist zu konkurrieren. Du wirst drüber hinwegkommen. Über ihn. Über den Schmerz. Ich hab es nicht eilig."

Jetzt entglitten ihr die Gesichtszüge und sie schluckte. Der Kloß in ihrem Hals schien nochmal um ein Vielfaches anzuschwellen und ihr stockte automatisch der Atem, als sie bemerkte, dass er es ernst meinte. Ein warmer Schauer lief durch sie, als er sanft an ihrem Arm zog. Instinktiv folgte sie dieser Aufforderung und ließ es sich gefallen, dass er sie zurück auf ihren Schoß zog. „Ich befürchte nur, dass ich etwas mehr touchy bin als zuvor. Ist das ok? Wenn wir kuscheln?"

„Wieso willst du dir das antun?" Ihr Wispern klang brüchig, weil ihr Pulsschlag sich nun wieder vor Rührung beschleunigte.

Nick zuckte mit den Achseln und sie schlang automatisch die Arme um seine Schultern, als er seinen Kopf an ihrer barg. Der leichte Druck um ihre Taille beruhigte sie, obwohl sie das als dumm empfand. Dennoch war es so. „Weil ich die leise Ahnung habe, dass das mit uns groß werden könnte. Irgendwann. Oder auch nicht. Vielleicht soll uns das nur zeigen, an welchem Punkt wir stehen. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich das Handtuch werfe. Du bist etwas Besonderes, Gretel. Das hab ich schon im Kino gemerkt."

„Dann darf ich dich fragen, ob du bei mir bleibst? Ich will heute nicht allein sein. Ich fühl mich gerade so unvollkommen, dass ich das Gefühl habe, der kleinste Windstoß pustet mich um."

„Dann werde ich wohl heute Nacht dein Windschutz sein. Du bist jetzt nicht mehr allein." Sie nickte, bedankte sich kaum hörbar und schmiegte sich näher an ihn. Egal, was dabei rauskommt. Es ist ok.

Es blieb auch ok. Gretel setzte den Blinker und fuhr auf den Parkplatz vor dem Landgasthof, wo Florian und Anna den Saal gemietet hatten. Während sie den Wagen verließ, dachte sie daran, dass Nick sie wirklich nie unter Druck gesetzt oder seinen Unmut über die Situation an ihr ausgelassen hatte. Wenn man mal vom Streit letzte Woche absieht. Bedauern füllte sie so abrupt, dass sie sich zwingen musste, die restlichen Gäste anzulächeln, die sich bereits ein Glas Sekt geschnappt hatten und auf das Brautpaar anstießen. Auch sie angelte nach einer Sektflöte und hob es hoch, um ihrem Sohn auf die Ferne zuzuprosten. Er hatte sein Leben vor sich, war stabil. Das war mehr, als sie sich zu einer anderen Zeit ihrer Lebensbahn vorgestellt hatte...

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Gretel - Das bin ichTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon