IV - 12

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Sie erinnerte sich ganz genau daran, dass es ein bisschen dauerte, bis Hendrik sie beruhigt hatte. Es war ihr einfach peinlich gewesen, dass diese Fremde wusste, was in ihr vorging. Eine Frau, die das Glück hatte, zu spüren, wie ein kleiner Mensch in ihr heranwuchs. Die das Kind nicht haben konnte. Doch letztlich hatte sie dem Flehen in Hendriks Augen nachgegeben und ihm gesagt, dass sie das machen und Erikas Baby großziehen würden.
Plötzlich explodierte ein wahrer Sternenregen über ihrem Kopf und ein Seufzen drang reflexartig von ihren Lippen. Am Ende des Gartens hatten die Pyrotechniker unbemerkt ihr Geschenk in Brand gesetzt. Dort prangten nun die Namen des Brautpaares und flackerten hell gegen die Dunkelheit an. Sofort verschwamm ihr Blick und sie fragte sich, wieso sie der Anblick so mitnahm. Sie kam nicht dahinter. Schnell holte sie ein Taschentuch aus ihrer Tasche und tupfte sich über die Augen.

„Liebling, ich bin zuhause und es gibt Neuigkeiten!", hörte sie und trat aus der Küche, in der sie gerade gewerkelt hatte, in dem Moment, als Henrik durch den Torbogen gegenüber des Raumes kam.

Er leuchtete förmlich und sofort machte ihr Herz einen Hüpfer in ihrer Brust, während sich auch ihre Mundwinkel nach oben zogen. Sie erstarrte automatisch in ihrer Bewegung, als ihr wieder einmal aufging, wie viel Glück sie hatte. Trotz all ihrer Fehlerhaftigkeit war er weiterhin an ihrer Seite. Hastig schob sie den Gedanken erneut fort.

Ab und an wallte er in ihr auf und jedes Mal erinnerte sie sich daran, dass dieser wundervolle Mensch jeden Abend zu ihr nach Hause kam, um mit ihr sein Leben zu bestreiten. Sie hatte ihn gezähmt, wenn man so wollte. Hatte den Mann vor sich dazu gebracht, zu seinen geheimsten Träumen zu stehen, indem sie ihm nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Momenten angeboten hatte.

Automatisch schlossen sich ihre Augen, als Hendrik bei ihr angekommen war und ihr einen nachlässigen Kuss auf die Lippen drückte. Irritiert von der Kürze dieser Berührung, öffnete sie die Augenlider zögerlich und bemerkte, dass er sich schon wieder abgewandt hatte und Kurs aufs Sofa nahm.

„Ich habe letzte Nacht Erika besucht und sie hat mir neue Bilder unseres Sohnes mitgegeben. Ich kann dir sagen, dass sie jetzt ziemlich rund ist. Der Arzt sagt, sie solle sich langsam mehr schonen. Wir müssen ihr ein bisschen unter die Arme greifen – finanziell, meine ich. Damit sie kürzer treten kann. Willst du die Bilder sehen?"

Stirnrunzelnd folgte sie ihm zum Sofa und beobachtete, wie er sich darauf fallenließ und die Füße auf dem Couchtisch platzierte. Er wirkte völlig aufgekratzt und wieder fühlte sie diesen Stich, der sie innerlich erzittern ließ. Trotzdem setzte sie sich neben ihn und legte ihre Füße auf seinen Schoß. „Na klar will ich die Bilder sehen."

Sein Strahlen vertiefte sich noch und er streckte ihr die Ultraschallfotos entgegen, die er wohl schon aus seiner Gesäßtasche geholt hatte. Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Eifersucht zog sich ihre Brust zusammen, als sie den kleinen Mann darauf anschaute, der bald zu ihrer Familie gehören würde. „Ist er nicht wunderschön?"

Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie diese Worte hauchen sollte, doch sie zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht und nickte. „Als ich Erika besucht hab, hat sich die ganze Zeit ihr Bauch bewegt, als würde er da drin Fußball spielen, das war so freaky. Ich durfte die Hand auf die Kugel legen und er hat danach getreten. Kannst du dir das vorstellen?! Das war so unglaublich. Unser Sohn."

Wieder machte Gretel einen zustimmenden Laut und versuchte, zu ignorieren, dass sich ihre Brust noch mehr zusammenzog. Doch das Gefühl der Ausgeschlossenheit drückte ihr die Luft aus der Lunge, während ihre Augen auf dem Bild kleben blieben. Sie betrachtete die kleine Stupsnase und die Lippen, die eine Faust umschlossen, und wollte genauso bezaubert sein wie Hendrik, der weiterhin davon redete, wie toll sein Besuch bei der Frau war, die ihr Baby austrug.

„Ich habe ihr fünfhundert gegeben nach meiner Schicht."

„Fünfhundert?" Noch immer haderte sie damit, dass sie nicht die Begeisterung aufbringen konnte, die sie empfinden sollte beim Anblick der hellabgegrenzten kleinen Fingerchen, die sich in dem Dunkel abbildeten.

„Euro, Gretel. Ich habe dir doch erzählt, dass wir Erika jetzt finanziell unterstützen müssen, damit sie gut durch die letzten Wochen kommt. Wo bist du gerade?" Seine Stimme klang leicht schmollend, weil sie seinen Ausführungen nur mit halben Ohr gelauscht hatte, und sie hob den Kopf.

Sein Unmut schlug ihr wie eine Faust ins Gesicht und sie riss sich augenblicklich zusammen. Sie hatte zugestimmt und ihre Eifersucht war einfach nur kindisch. „Ja, ich denke, das Geld wird ihr erstmal helfen."

Er nickte knapp und sie setzte ein Lächeln auf. Es waren nur noch wenige Wochen, bis sie Mutter wurde. Oder so etwas Ähnliches. Das Baby hatte nicht verdient, dass sie im Stillen seiner Mutter neidete, nicht selbst an ihrer Stelle zu sein. Also würde sie jetzt intensiver daran arbeiten, auch zu empfinden, was sie vorspielte, beschloss sie und schaute wieder auf das Bild in ihren Fingern.

Hendriks Lächeln nahm sie wie einen Lichtschein am Rande ihres Sichtfeldes wahr und sie spürte, wie er seine Hände auf ihre Füße legte und anfing, sanft ihre Zehen und Fußballen zu massieren. Ein bisschen Anspannung in ihrer Brust verflüchtigte sich wie hochprozentiger Alkohol und ein Seufzen wollte über ihre Lippen dringen. „Florian soll es schließlich an nichts fehlen. Und Erika auch nicht."

Jäh ruckte ihr Kopf hoch und sie riss die Augen auf. „Florian?!"

„Oh, ach ja. Ich habe Erika versprochen, dass wir ihn so nennen. Das war ihr einziger Wunsch und ich konnte ihn ihr nicht abschlagen. Du hast doch nichts dagegen?" Seine Hände erstarrten, als er ihr ins Gesicht schaute und sie versuchte, gelassen zu bleiben. Diese Frau schenkte ihnen ihr Baby. Ok, sie kauften es, so wie es aussah.

„Natürlich nicht. Wieso sollte ich als seine Adoptivmutter auch in die Namensfindung eingebunden werden?" Reflexartig entzog sie ihm ihre Beine und sprang vom Sofa. „Ist doch logisch, dass sie das macht, oder? Genauso wie sie all die anderen Dinge erleben darf, die mir verwehrt werden. Warum sollte ich da den Wunsch hegen, dem Kind, das ich aufziehen werde, eine Identität zu geben?"

„Komm schon, Gretel, ist das dein Ernst? Ein Name ist keine Identität!" Sie wollte ihm ins Gesicht schlagen, so zornig machte sie diese Aussage. Und so hilflos.

„Nein, natürlich nicht, Hubert! Weißt du was? Macht doch was ihr wollt! Ich spiele ja offenbar nur noch eine untergeordnete Rolle!" Unfähig, seinem fassungslosen Blick standzuhalten, machte sie auf dem Absatz kehrt und strebte auf die Terrassentür zu. Sie musste sich abreagieren, bevor sie irgendwas nach ihm warf. Wie konnte er nur? Registrierte er nicht, wie sehr die Tatsache weiterhin schmerzte, lediglich die Ziehmutter zu werden? War er so verbohrt in seiner Glückseligkeit?

„Margarethe!" Sie schüttelte reflexartig den Kopf und schob mit zittrigen Fingern die Tür zwischen ihm und ihrem Refugium auf, das sie immer beruhigen konnte. Auch ihre Knie bebten. Es war ein Wunder, dass ihre Beine sie tragen konnten. Die Enttäuschung pulsierte weiterhin bei jedem Herzschlag in ihr, als sie sich bückte, um ihre Gartengerätschaften aufzunehmen. Sie lief zum kleinen Gewächshaus, während schon Tränen über ihre Wangen rollten. Als sie sich in die Knie fallen ließ, um den kleinen Zucchinitrieb auszudünnen, brach sie endgültig zusammen.

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Gretel - Das bin ichHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin