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Sie konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie der junge Mann in ihr Leben getreten war, dachte Gretel, während sie einen Dank murmelte, als auch vor ihr eins der Brotzeitbretter platziert wurde. Richtig hungrig war sie nicht, das musste sie zugeben. Doch das Geräucherte roch himmlisch und die anderen Wurst- und Käsesorten auf dem Teller sahen einfach delikat aus. Vielleicht würde die Mahlzeit auch ein bisschen der Flauheit vertreiben, die sie heute durch ihren Tag begleitete? Oder lag es wirklich daran, dass sie von ihren Erinnerungen wie von Geistern heimgesucht wurde? Sie unterdrückte ein Seufzen und griff nach einer Scheibe Brot. Das sah ebenfalls schmackhaft aus mit seiner reschen Kruste und dem weichen, nachgiebigen, duftenden Innenleben. Es schmeckte auch gut, stellte sie fest, nachdem sie ihre Brotscheibe belegt und abgebissen hatte. Ein bisschen Unwohlsein verflog tatsächlich, während sie aß. Doch die Erinnerungen blieben hartnäckig...

Sie fröstelte unter ihrer dünnen Jacke und schlang die Arme um sich, um sich trotz des herbstlichen Nieselwetters etwas wärmen zu können. Doch das Zittern ließ nicht nach, während sie versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihr geschah: Flo und 21 andere Jungs liefen gerade auf dem Platz ein, wo sie wohl künftig öfter stehen und ihn anfeuern würde. Zumindest dachte sie das, wenn sie selbst auf die Entfernung hin ihren Sohn beobachtete, der einfach nur strahlte.

Schade, dass Hendrik sein erstes Training verpasst. Ein Seufzen drang über ihre Lippen und sie vertiefte sich wieder darin, den Ballübungen zu folgen, die die Jungs auf dem aufgeweichten Grund absolvierten. Sie mussten Flo Fußballschuhe kaufen. Damit er nicht bei Regenwetter auf dem nassen Boden ausrutschen würde. Oder zumindest nicht so oft.

Sie hob die eiskalten Hände vor ihren Mund und pustete dagegen, während sie diese aneinanderrieb. Es war wirklich saukalt. Das hieß demnach auch, dass sie für sich selbst eine ultrawarme Jacke kaufen musste.

„Darf man die wunderschöne Frau am Spielfeldrand wärmen?" Sie fuhr herum und starrte Hendrik an, der sich offenbar angeschlichen hatte. Sofort erhellte ein Lächeln ihr Gesicht und sie entdeckte die Thermoskanne in seiner Rechten. Warum habe ich nicht daran gedacht?

„Aber nur, weil du mein Mann bist." Sie erfreute sich an dem Lächeln, das er ihr schenkte und beobachtete, wie er den Reißverschluss seiner Jacke aufzog, als er die Thermoskanne neben einen Pfosten der Randbegrenzung gestellt hatte. Kaum war seine gefütterte Lederjacke offen, zog er sie an sich und Gretel seufzte, als seine Wärme und sein Geruch sie einhüllten, nachdem sie ihre Arme um seine Mitte geschlungen hatte. „Was machst du hier?"

„Ich hab beschlossen, dass mir das erste Fußballtraining meines Sohnes wichtiger ist als ein Kollege, der nach seinem langen Dienst in Pension geht. Ich bin einfach etwas früher gegangen. Ich habe es trotzdem nicht ganz pünktlich geschafft." Sein Bedauern klang seicht durch seine Worte und Gretel schüttelte kaum merklich den Kopf. Er war schließlich da und das war es, was zählte.

„Ich verzeihe dir. Immerhin hast du offenbar was Heißes zum Aufwärmen mitgebracht." Sie hörte, wie er leise lachte und wunderte sich, dass dabei weiterhin Schmetterlinge in ihrem Bauch aufstoben. Sie war diesem Mann auch nach so vielen Jahren noch mit Haut und Haaren verfallen. Sie strich ihm impulsiv über seine grauen Schläfen, ehe sie sich zu ihm beugte, um ihn zu küssen.

Ihre Lippen erstickten das zustimmende Murmeln, das über seine drang und sie schloss die Augen. Bis jetzt hatte Hendrik sein Versprechen wahr gemacht, dass er ihr vor knapp sechs Jahren bei ihrer Gelübde-Erneuerung gegeben hatte. Er trug sie und ihren Sohn auf den Händen und sie wünschte sich, dass das nie aufhörte. Wieso sollte es aufhören? Er ist hier, du liegst in seinen Armen und sein Aroma prickelt auf deiner Zunge.

Leise seufzend löste sie sich mühselig von ihm, ehe sie ihm in die blauen Augen schaute, die sie amüsiert anfunkelten. „Auch eine Art, heiß zu werden ... also, äh ... sich aufzuwärmen, meine ich..."

„Idiot. Aber ja. Das hilft ebenfalls gegen das Wetter." Erneut seufzte sie und wollte sich gerade nochmal in seine Arme kuscheln, als sie erschrocken zur Seite sprang, weil ein Ball auf die Holzstrebe neben ihnen krachte und von ihm abprallte. „Huh."

Während sie sah, dass Flo betreten zu ihnen schaute und nickte, weil der Trainer wohl etwas zu ihm sagte, bemerkte sie wie nebenbei, dass Hendrik sich zwischen sie und den Holzbalken geschoben hatte. Augenblicklich summte es in ihrem Bauch noch mehr. Ihr Mann drehte sich wieder zu ihr, ließ sie kurz los und strich sich durch sein Haar. „Fuck, unser Sohn hat einen ganz schönen Bums drauf."

„Ja, das kann man wohl sagen. Bin ich erschrocken. Mein Herz pocht immer noch wild." Ein zittriges Kichern entwischte ihr und als Hendrik ihr Gesicht umfasste, fielen ihr die Augenlider in Erwartung eines Kusses zu. Ihr Mann enttäuschte sie nicht und strich nochmal mit seinem Mund über ihren, ehe er sich zurücklehnte.

„Ich bin wirklich froh, dass ich es geschafft habe hierzusein." Sein Murmeln klang nachdenklich und abrupt zog sich ihre Brust zusammen. Sie hob fragend eine Augenbraue und merkte, wie sich die Lederjacke an ihren Seiten ein bisschen lüpfte, als er mit seinen Schultern zuckte. „Der Fall ... er nimmt mich momentan sehr in Beschlag."

Sie nickte nur. Sie wusste, dass er gerade wieder an etwas Großem dran war. Auch da hatte sie recht behalten. Seine Undercover-Erfahrung und der zwangsläufige Einblick dabei hatten ihn zu einem besseren Polizisten gemacht. Die Opfer gingen ihm noch näher als zuvor. Doch das bedeutete zwangsweise auch, dass er nicht immer die Arbeit abschütteln konnte, wenn er bei seiner Familie zuhause ankam. „Willst du mir davon erzählen, während wir uns an dem Inhalt der Thermoskanne wärmen und warten, dass Florian mit dem Training fertig ist?"

Ein Seufzen brach aus ihm heraus und sie merkte, wie sie ein Schauer überlief. Wenn er sie so resignierend anschaute, durfte er nicht über die Ermittlungen sprechen. Schon schüttelte er den Kopf und presste die Lippen zusammen. Dann strich er ihr über die Wange. „Würde ich. Wenn ich dürfte. Du kennst das ja."

Gretel machte einen zustimmenden Laut und er fügte an: „Außerdem habe ich für heute Feierabend. Und das Wochenende frei. Heißt, dass hier nicht der Polizist, sondern der Ehemann und Vater gefragt ist. Und als solcher möchte ich die kommenden sechsundfünfzigeinhalb Stunden genießen."

„Ok. Wie du möchtest. Ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass mir das gefallen würde." Sie gab sich Mühe, ihn nicht merken zu lassen, dass sie sich Sorgen machte, wie er den weiteren Verlauf des Falls wegstecken würde und bemerkte, dass er es trotzdem registrierte.

Seine Lippen fanden nochmal zu ihren, ehe er murmelte: „Es geht mir gut, Liebling. Ok? Wenn ich merke, der Druck wird zu stark, gehe ich zu einem Meeting. Da darf ich zwar auch nicht über den Fall sprechen, befinde mich aber in guter Gesellschaft, was die Abstinenz angeht."

„Ok." Sie lehnte sich gegen seine Handfläche, die weiterhin an ihrer Wange ruhte und bemerkte, wie ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zog. „Was hast du denn jetzt Feines in deiner Thermoskanne?"

„Kaffee. So wie du ihn magst. Er ist ganz genießbar dafür, dass er vom Revier kommt..." Nun grinste sie ihn wieder an und löste sich etwas von ihm. Sie bemerkte, wie sie sofort aufs Neue zu frösteln anfing, als er ihr seine Wärme entzog, um sich nach der Kanne zu bücken. Hendrik goss etwas von dem dampfenden Gebräu in den integrierten Becher und reichte ihn ihr mit einem sanften Lächeln. Dankbar nahm sie ihn entgegen und trank einen Schluck. Reflexartig verzog sie das Gesicht und hörte, wie Hendrik leise lachte.

„Das nennst du genießbar?", röchelte Gretel und er zuckte mit den Schultern, ehe er sich auf die unterste Stufe der Tribüne niederließ.

„Vielleicht sind meine Magenwände auch schon verätzt und ich schmecke gar nicht mehr, wie eklig der Präsidium-Kaffee ist." Sie nickte und merkte, wie er die Arme nach ihr ausstreckte und ließ sich von ihm auf seinen Schoß ziehen. Mit einem Seufzen umklammerte sie den warmen Becher und kuschelte sich mit dem Rücken an Hendriks wärmende Brust. Sie spürte, wie er sein Kinn auf ihrer Schulter ablegte und mit ihr gemeinsam wieder das langsam endende Training verfolgte.

„Du bist perfekt, Babe." Nun schien er den Kopf zu schütteln, zumindest hörte sie, wie sein Kinn über ihre Jacke schrappte.

„Nein, Liebling. Ihr seid perfekt", entschied er und sie lehnte sich noch ein bisschen zurück. Darauf musste sie nichts antworten. Still warteten sie, bis Flo vom Platz rannte. Neben ihm lief ein Junge mit dunklem Haar und grünen Augen her. Während Hendrik und sie langsam aufstanden und ihre steifen Glieder streckten, kamen die beiden vor ihnen zum Stehen. „War das nicht cool, Papa? Das ist Erik. Er will Stürmer werden. Wie ich."

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Gretel - Das bin ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt