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Als wir zurückgegangen sind und uns bei der anderen Mutter bedankt hatten, war Erika weg. Seufzend kam Gretel zurück in der Gegenwart an und stellte erstaunt fest, dass alle zu klatschen begannen. Anna war von ihrem Stuhl aufgesprungen und küsste Florian inbrünstig. Sie schluckte hart und erkannte, dass sie tatsächlich seine Rede verpasst hatte. Die ein Erfolg sein musste, so wie die Anwesenden johlten.
„Wenn das mal nicht der beste Übergang zum Hochzeitstanz ist!" Die Stimme des DJs irritierte sie kurz, doch dann bemerkte sie, dass es allmählich Zeit wurde, der Feier einzuheizen. Und natürlich gebührte dem Brautpaar dazu der erste Tanz. Sie beobachtete, wie Flos Arm sich fester um Annas Taille legte. Ihre Schwiegertochter war indessen etwas blasser um die Nase, was sie zum Grinsen brachte.
Obwohl Anna wirklich wahnsinnig an Selbstvertrauen gewonnen hatte, wusste sie, dass sie Angst hatte, die Schritte zu vergessen und Flo und sich zu blamieren. Gretel war sich sicher, dass diese Befürchtung nicht eintreffen würde. Stattdessen stand sie wie die restlichen Gäste auf und schob sich in den Kreis, den die anderen um die Tanzfläche gebildet hatten. Während erneut Phil Collins Stimme durch den Raum hallte, erinnerte sie sich daran, wie sehr sie es stets genoss, sich einem Song hinzugeben und einfach zu tanzen.

Gretel schloss die Augen und ließ sich von der Musik gefangen nehmen. Hendrik war nun schon seit über einem Jahr weg und sie hatte schlicht mal eine Auszeit gebraucht. Immerhin wusste sie jetzt, dass es ihm gutging. Sie hatte im Präsidium angerufen und sich danach erkundigt.

Ein ziemlich rüder Kollege von ihm hatte ihr dann erklärt, dass sie als erste informiert werden würde, wenn sie andere Information hätten. Das hatte sie nicht sonderlich beruhigt, obwohl sie wusste, dass es die Wahrheit war. Dennoch hätte sie sich mehr Feingefühl gewünscht. Hör auf zu grübeln! Du hast heute die Gelegenheit, mal nicht nur Mutter zu sein, sondern einfach eine junge Frau, die mit ihren Mädels feiern geht! Also lass es!

Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie sich fragte, wie es Florian wohl gerade bei ihren Eltern ging. Sie hatten sich schon oft beschwert, dass sie ihnen Flo zu selten brachte. Demnach vermutete sie, dass sie ihren Enkel von vorne bis hinten verwöhnt hatten und er längst selig in seinem Bettchen schlief. „Du hast ein bezauberndes Lächeln!"

Gretel schaute verwirrt in dunkelbraune Augen, die in einem markanten Gesicht mit Dreitagebart saßen. Eine lange gerade Nase lag über einem Mund mit schmalen Lippen und sie wollte sich für das Kompliment bedanken, dann aber klar machen, dass sie vergeben war, als sich der Mann weiter vorbeugte. Ein Hauch von „Route 66" strömte in ihre Nase und ein Energiestoß jagte durch sie. „Ich hab dich schon eine Weile beobachtet. Willst du tanzen?"

„Äh, ich ... also ..." Noch immer hing sie bei dem Gedanken, dass das Parfüm bei Hendrik besser roch, und schaute den Fremden mit großen Augen an. Bevor sie es verhindern konnte, nickte sie. Obwohl sie eine Gänsehaut überlief, als der Mann begann, sich mit ihr zu den Trommelklängen von Safri-Duos „Played-Alive" zu bewegen, schwieg sie, als er sie näher zog und ihr Po über seine Hüften strich. Was ist schon dabei? Wir tanzen nur. Mehr nicht.

Trotzdem fing sie Emmys Verwirrung auf, die sie mit hochgezogener Braue anschaute. Schnell nahm sie einen Schluck aus ihrem Drink und drehte sich weg. Das brauchte sie jetzt wirklich nicht. Überhaupt ... War es nicht Emelie, die immer betonte, ihre Fixierung auf Hendrik wäre fast krankhaft? Mein Mann ist wer-weiß-wo. Nur, weil ich mit einem Anderen tanze, heißt das gar nichts.

Sie ließ es sich gefallen, dass der Fremde den Arm um ihre Taille legte und stellte sich noch auf die Zehenspitzen, um näher an sein Ohr zu kommen. „Wie heißt du?"

„Sebi. Du?"

„Margarethe. Aber Freunde nennen mich Gretel." Sie lehnte sich zurück und bemerkte, wie er lächelte. Er schien irgendwas zu sagen, doch sie verstand ihn nicht, da jetzt der neueste Song von Scooter durch den Raum hallte. Die Lichter der Lichtanlage brachen sich über ihnen und legte einen grünlichen Schimmer auf sein dunkles Haar. Sie platzierte die Hand auf die Schulter, die nicht den Drink hielt und zog ihn zu sich. „Was?"

„Ich sagte: Dann hoffe ich, dass es ok ist, wenn ich dich auch Gretel nenne. Du bewegst dich super. Aber das hörst du bestimmt öfter." Reflexartig schüttelte sie den Kopf und grinste, als Sebi sich nun zurücklehnte und sie mit hochgezogener Braue musterte.

Schnell lehnte sie sich wieder vor und ließ ihren Arm zu seinem Hals gleiten. „Um ehrlich zu sein, hab ich nicht so oft Gelegenheit, tanzen zu gehen." Ein knappes Nicken deutete ihr an, dass Sebi verstanden hatte. Sie wehrte sich nicht, als er sie etwas näher zog.

„Das ist aber schade. Das Leben ist zu kurz, um es nicht zu genießen." Sie stimmte automatisch zu und wollte sich gerade wieder den drückenden Bässen hingeben, als sie plötzlich angetippt wurde. Gretel fuhr herum und blickte in Emmys Gesicht, die nicht sonderlich begeistert aussah.

„Ich muss mal! Kommst du mit?" Nun doch schuldbewusst, nickte Gretel und warf Sebi ein entschuldigendes Lächeln zu, während Emelie schon ihr Handgelenk umfasst hatte und sie von ihm wegzog. Sie erkannte noch, wie er schief lächelte und mit der Schulter zuckte, ehe sie dann ihre Aufmerksamkeit nach vorne wandte, wo Emmy sie zielgerichtet durch die anderen tanzenden Körper manövrierte.

Kaum hatten sie die Tanzfläche der Mainstage verlassen, drehte sich ihre Freundin zu ihr um, nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf einem der Stehtische ab. Gretel schluckte sofort. Emelie war nicht nur nicht begeistert. Sie war wütend. Doch bevor sich Gretel rechtfertigen konnte, wandte sich Emmy wieder ab und führte sie zu den Toiletten.

Kaum hatte ihre Freundin die Tür aufgestoßen, wirbelte sie zu ihr herum. „Was soll der Scheiß, Gretel?"

„Was? Ich habe nur mit einem Mann getanzt, ist das verboten?" Eigensinnig schob Gretel ihr Kinn vor und funkelte Emelie an, die sie taxierte, ehe sie seufzte und mit den Schultern zuckte.

„Nein, das ist nicht verboten. Ich wollte nur wissen, ob du dir im Klaren bist, dass der nicht nur tanzen will." Für einen Sekundenbruchteil entglitt Gretel ihre Mimik, ehe sich ihr Trotz wieder meldete. Sie stemmte die Arme in die Hüften und fixierte ihre Freundin.

„Und du denkst, nur weil mir ein Mann Avancen macht, springe ich darauf an, wie ein notgeiler Teenager, oder was?" Es war ihr egal, dass sich die Fremde am Waschbecken zu ihnen umwandte und sie mit unverhohlenem Interesse beobachtete. Wie konnte Emmy ihr so etwas unterstellen?

„Ich weiß nur, dass du verdammt lange keinen Sex mehr hattest, dein Mann irgendwo steckt und keiner weiß, wann er mal wieder zuhause ist. Du bist eine junge Frau in der Mitte ihrer Zwanziger und da könnte man schon mal schwach werden..." Fassungslos schaute sie ihre Freundin an, die ihre Arme vor der Brust verschränkt hatte.

„Vielen Dank auch. Erst erzählst du mir, dass ich mich nicht so auf Hendrik fixieren soll. Du überredest mich, dass ich heute mit dir ausgehe, um mal mehr zu sein als ein beschissenes Muttertier, und jetzt tanze ich einmal mit einem anderen Mann und du unterstellst mir, ich würde ihn gleich vögeln wollen... Echt, super. Weißt du was? Fick dich, Emelie."

Sie fing noch deren erstaunten Gesichtsausdruck auf, genauso wie die weitaufgerissenen Augen mitsamt dem leicht hämischverzogenen Mund ihrer Zuhörerin, bevor sie aus dem kleinen Raum rauschte. Der sogar so etwas ähnliches wie sauber gewesen war, fiel ihr auf, als sie den dunklen, nur spärlich beleuchteten Gang zurück zur Mainstage lief. Sie konnte kaum glauben, dass ihre beste Freundin ihr sowas unterstellte.

An einer der fünf Bars angekommen, hob sie ihre zittrige Hand, um sich einen neuen Drink zu bestellen. Sie tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den klebrigen Boden und wollte sich eigentlich wieder in den wummernden Beats verlieren. Doch der bittere Geschmack auf ihrer Zunge verlangte danach, dass sie ihn mit irgendwas Alkoholischen hinunterspülte. Endlich nahm die Barkeeperin sie wahr und kam zu Gretel herüber. Sie beugte sich über den Tresen und bestellte sich Wodka-O, den sie auf Ex kippte, nachdem sie der Angestellten ihre Stempelkarte zugeschoben hatte.

„Mach gleich noch einen!", schrie sie und bemerkte, wie die Barkeeperin nickte.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now