III - 13

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Ein Schauer überlief Gretel, als sie den Blick allmählich vom Spiegel löste. Automatisch schlang sie die Arme um sich und nahm die sich nähernden Schritte wahr. Sie war noch nicht bereit, sich den vielen Menschen zu stellen, die das Glück ihres Sohnes mit ihm und seiner Frau feierten. Nicht jetzt, wo sie in jener Zeit festsaß, wo Hendrik sie mehr als einmal tief verletzt hatte, ohne es selbst zu bemerken.
Deswegen eilte sie schnell in eine der leeren Kabinen und verriegelte sie. Zitternd ließ sie sich auf die geschlossene Toilette sinken und vergrub ihr Gesicht hinter ihren Händen. Die Trauer in ihrem Innersten verdichtete sich zu einem Kloß in ihrem Hals und sie konnte nicht verhindern, dass sie die Erinnerung an den folgenden Morgen überfiel...

Sie hörte, wie Hendrik ins Wohnzimmer schlurfte, ihr einen Morgengruß zuwarf und hielt den Atem an. Gleich würde er feststellen, dass sie in einem Wutanfall alle seine Wasserflaschen in den Ausguss gekippt hatte, nachdem ihr Blick in der gestrigen Nacht darauf gefallen war. Wie vermutet, hatte dabei der verhasste Wodka-Geruch die Küche gefüllt und sie war in Tränen ausgebrochen.

„Liebling, wieso hab ich kein Wasser mehr da?" Sie schluckte automatisch und straffte die Schultern, während ihr das Herz hörbar im Hals klopfte. Sie musste etwas erwidern, doch sie schien ihre Zunge verschluckt zu haben. Kein Wort drang über ihre Lippen, unterdessen sie bemerkte, dass er näherkam. Plötzlich erstarben die Schritte auf dem Holzboden und sie merkte, wie sie zu zittern begann. „Was sollen die Taschen, Margarethe?"

Sie registrierte die Panik in seiner Stimme, ohne sich umwenden und ihn ansehen zu müssen. Sofort stiegen Tränen in ihr auf und sie schloss die Augen. „Margarethe! Rede mit mir!"

Sie wollte es. Aber sie konnte nicht. Sie konnte nur nach draußen in den Garten stieren, den sie nicht mehr blühen sehen würde. Den sie mit bestem Wissen und Gewissen gepflegt hatte. Sie bemerkte, was für eine hervorragende Metapher er für ihre Ehe war, wenn man von ihrem Fehltritt mit Sebi mal absah. Ihre Rippen mussten jeden Moment brechen, so schwer wog die Last auf ihnen, als Hendriks Körper ihr die Sicht auf ihren geschätzten Rückzugsort versperrte und er nach ihren Händen griff.

Entfernt bemerkte sie, dass sie genauso kalt waren und zitterten wie ihre. Das schien die Starre zu lösen und sie konnte den Kopf heben und in das geliebte Gesicht schauen, das sie immer vergöttert hatte. Sein Adamsapfel sprang auf und ab und sein leicht geöffneter Mund zusammen mit den hochgezogenen Brauen verrieten, dass sie recht gehabt hatte: Er hatte Angst. Außerdem atmete er flach und abgehakt. Wie sie. „Margarethe?"

Noch immer konnte sie seine Frage nicht beantworten, sondern starrte den Mann an, der die Erfüllung aller ihrer Jugendträume gewesen war. „Liebling. Was sollen die Taschen?"

„Ich gehe, Hendrik." Automatisch schüttelte er den Kopf, während er sie nicht aus den Augen ließ und sein Adamsapfel noch schneller über seiner Kehle sprang. Sie merkte, dass er etwas sagen wollte, doch sie war nicht fertig. „Ich kann dir nicht weiter zusehen, wie du den Mann zerstörst, den ich so liebe. Zusehen, wie du den Vater unseres Sohnes zugrunde richtest."

Der Druck auf ihre Finger verstärkte sich und sie entzog Hendrik schwerfällig ihre Hände, während sie beobachtete, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten und er nach Luft schnappte. „Es tut mir leid... Ich..."

„Nein. Mir tut es leid. Ich habe es versucht, Hendrik. Ich wollte stark sein und uns durch diese Krise schiffen, doch ich kann es nicht. Ich bin zu schwach. Ich kann dich nicht weiter mittragen, wenn ich unserem Sohn eine gute Mutter sein will. Ich zerspringe. Du machst mich genauso kaputt, wie du dich kaputt machst." Sie unterbrach sich und erschauerte, als er aufschluchzte und die Tränen kamen. Sie hatte mit ihnen gerechnet. Doch das verhinderte nicht, dass der Schmerz wie ein Tornado durch sie tobte und alles mit sich riss, an das sie je geglaubt hatte.

„Liebling, nicht. Ich krieg das in den..." Sie schüttelte in Zeitlupe den Kopf und Hendrik erstarrte und stierte sie an. Sie bemerkte, wie sein unteres Augenlid zu zucken begann.

„Spar es dir, Hendrik. Wir beide wissen, dass die Krankheit gerade stärker ist als du. Und ich wünschte, ich könnte dich heilen. Doch das liegt nicht in meiner Macht. Das musst du selbst. Scheiße, ich liebe dich so sehr, ich habe das Gefühl, zusammenzubrechen bei dem Gedanken zu gehen. Aber jetzt bist du am Zug. Jetzt musst du kämpfen. Falls du weiterhin von uns als Familie träumst..."

Jedes Wort ätzte sich durch ihre Kehle und schmeckte gallenbitter, obwohl sie wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab. Sie musste an Flo denken.

Als würden Bleigewichte an ihr hängen, schob sie sich über die Kante des Sofas und wandte sich ab. Auch in ihren Augen brannten Tränen und ihre Stimme war nah dran zu kippen. Schwerfällig ging sie auf die beiden schweren Reisetaschen zu und umrundete sie. Hendrik war ebenfalls aufgesprungen und schien erstarrt zu sein, weil er offenbar bemerkte, wie ernst es ihr war. Nochmal nahm sie sich die Zeit, ihren Mann zu betrachten, ehe sie sich ächzend bückte und die Taschen anhob. Den Rest hatte sie schon in ihr Auto gepackt.

Jetzt machte er einen Hechtsprung auf sie zu und griff nach den Henkeln. Als er sie erwischte, zerrte er mit einem Ausdruck der Verzweiflung an ihnen. Gretel beugte sich wieder vor, nachdem sie automatisch zurückgewichen war, und sah ihm fester in die Augen, als sie es von sich erwartet hätte. „Nein, Hendrik. Hör auf. Bring mich nicht dazu, den letzten Rest Respekt vor dir zu verlieren. Er hat genug gelitten in den vergangenen Wochen."

Erneut erstarrte er und sie bemerkte, wie der Zug auf die Taschengriffe nachließ, bevor sie ihm entglitten und seine Hände an den Seiten seines Körpers herabfielen. Wieder brach sich ein Schluchzen an seinen Lippen, ehe er langsam nickte.

Es zerquetschte ihr Herz in ihrer Brust, als er sie reuig anschaute. „Wohin geht ihr?"

„Wir sind vorerst bei meinen Eltern. Dann mal sehen." Seine bebenden Schultern brachten sie fast um den Verstand, als er sich zusammenriss und eine Zustimmung murmelte. Mit immenser Anstrengung wandte sie sich ab und ging hinaus in den Flur, während sein Blick in ihren Rücken schnitt und sein wieder anschwellendes Weinen ihr Gehör marterte. Es war ihr noch nie so schwergefallen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie wunderte sich fast, dass ihre Finger nicht von der Klinke abglitten, so verschwitzt waren sie. Doch sie taten, was sie sollten und drückten sie hinunter, sodass die Tür aufsprang. Als sie über die Schwelle trat, brach ihr Herz in abertausende Splitter. Sie würde es kleben müssen, um ihrem Sohn die Sicherheit geben zu können, die er jetzt brauchen würde.

Ihre Füße schleiften über den Boden, als sie auf ihr Auto zuging und es aufschloss. Sie warf die beiden Taschen auf die Rücksitzbank, weil der Kofferraum schon voll war, und drückte kraftlos gegen die Tür, um sie zu schließen. Sie war so unendlich müde. Sie würde bestimmt Tage schlafen können. Doch das ging nicht. Da war ein kleiner Mann, der sie brauchte.

Als sie die Fahrertür öffnen wollte, verpasste sie den Griff und schloss die Augen. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie sich davon erholt hatte? Mit letzter Kraft zog sie am Griff und ließ sich hinters Steuer ihres Ford Focus gleiten. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und ließ ihr Auto an. Bevor sie den Rückwärtsgang einlegte, huschte ihr Blick nochmal zu dem Eingang des Hauses, das all ihre Hoffnungen verdeutlicht hatte.

Sie sah Hendrik darin stehen und bemerkte, wie sein Handrücken immer wieder über sein Gesicht wischte, als könne er nicht aufhören weinen. Sie verstand ihn. Es ging ihr ebenso, als sie den Gang endgültig einlegte, sich umsah und langsam aus der Einfahrt rollte. Erst als ihr Mann zusammen mit dem Haus immer kleiner wurde, gestattete sie sich, loszulassen und ebenfalls in Tränen auszubrechen.

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Gretel - Das bin ichTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon