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Dieser Abend hat alles verändert. Noch immer krampfte sich ihr Herz vor Rührung zusammen, wenn sie an den Mann dachte, dessen silberne Augen sie so aufrichtig angesehen hatten, als er ihr sagte, er würde sich geehrt fühlen. Nachvollziehen hatte sie diese Aussage nicht können. Immerhin war sie so zerrissen und mehr an seiner Trauerarbeit interessiert gewesen, als an der Aussicht entspannt einen Cocktail mit ihm zu trinken. Er hat es mir nicht übelgenommen. Weiterhin stockte ihr bei dieser Erkenntnis der Atem und sie musste sich wirklich zusammenreißen, mit einem Seufzen nicht die Aufmerksamkeit aller anderen auf sich zu ziehen. Vor allem nicht Emmys, die händchenhaltend und lächelnd dem Brautpaar zusah, dass sich mit Liebe in den Augen anschaute, während es sich an den Händen hielt. Ihre Freundin hatte letztlich ihr Glück gefunden und sie musste zugeben, dass sie ein bisschen neidisch war. Doch dann kamen ihr Nicks Worte wieder in den Sinn...

„Sagen sie dir auch, dass du dich zurück in den Sattel schwingen sollst?" Gretel hob den Blick von ihrem Messingbecher, wo sie die sich bildenden Wassertropfen an der Außenseite weggewischt hatte. Nochmals fiel ihr auf, dass die Lautstärke der Musik wirklich angenehm war. Obwohl sich so viele Menschen mit ihnen in der Bar befanden, waren die Stimmen deswegen auch nicht so vorherrschend, dass sie sich hätten anbrüllen mussten.

Nick schien sich weiterhin nicht am Thema ihrer Unterhaltung zu stören, dachte sie und nickte, ehe sie mit den Schultern zuckte. „Ich hasse es."

„Ja, ich habe es auch gehasst. Ich meine, welches Recht haben sie dazu, mir zu sagen, wie ich mit der Trauer umgehen soll? Aber irgendwann ist mir klargeworden, dass sie sich nur Sorgen gemacht haben. Ab da war ich nicht weiter wütend auf sie, wenn dieser Spruch gekommen ist. Ich habe ihnen trotzdem gesagt, dass ich mich zurück in den Sattel setze, wenn ich nicht mehr das Gefühl habe, Tabea zu hintergehen, falls ich auch nur eine andere Frau ansehe."

Ihr fiel auf, dass sein Blick kurz ins Leere ging, ehe sich seine grauen Augen wieder auf ihr Gesicht fokussierten und seine Lippen ein Lächeln abbildeten. Nachdenklich strich sie erneut über die Kühle des Bechers, ehe sie ihn anhob und von ihrem wohlschmeckenden Cocktail trank. Die Limette prickelte auf ihrer Zunge und sie bemerkte, dass Nick sie dabei beobachtete, wusste aber nicht, was sie dazu sagen sollte. Also nahm sie noch einen Schluck, um Zeit zu gewinnen. Sie setzte ihr Getränk zurück auf die Tischplatte und schluckte gegen die Worte in ihrem Hals an. „Hast du es geschafft?"

Er begriff offenbar, dass sie ihm damit gestand, dass sie gerade genau mit dem gleichen Dilemma kämpfte und atmete zu ihrer Überraschung erleichtert auf, als er ihre Frage bejahte. „Wie?"

„Nun ja. Ich war irgendwann der Stille in unserer Wohnung überdrüssig. Also bin ich – ähnlich wie du – einfach rausgegangen. Ich brauchte Menschen um mich. Aber welche, die mich nicht mit diesem Ausdruck in ihren Augen ansahen, den ich weiterhin nicht beschreiben kann. Bei dem ich das Gefühl hatte, ich wäre die lebendige Erinnerung eines schrecklichen Vorfalls. Ich musste Nick sein. Nicht der Mann, der seine Frau begraben hat."

Er unterstrich seine Worte mit einem Schulterzucken und sie wusste, wie er das meinte. Auch sie kannte diesen Gesichtsausdruck. Wie er es offenbar empfunden hatte, schnürte ihr dieser Blick ebenfalls immer öfter die Brust ab. Sein Seufzen lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zu ihm. Er strich mit seiner Hand durch sein Haar und schaute sie an, während er sein Lächeln beibehielt.

„Also hab ich mich bei einem Tanzkurs angemeldet. Was irgendwie ironisch ist. Denn Tabea hatte sich immer wieder gewünscht, dass wir einen machen. Aber ich tat es jedes Mal ab. Sagte ihr, dass wir dafür noch Zeit hätten, wenn wir alt und grau wären." Nun legte sie ihre Hand auf seine und drückte seine Finger sanft, was den Kummer in seinem Blick ein bisschen verpuffen ließ. „Das werfe ich mir weiterhin vor. Dass ich ihren Wunsch so weggebügelt habe. Aber ich tröste mich damit, dass sie sich für mich freuen würde, so wieder etwas Farbe in mein Leben bekommen zu haben. Es hätte ihr gefallen."

Gretel murmelte eine Bestätigung und bemerkte, wie das silbrige Glänzen in seinem Blick sich aufs Neue erwärmte, ehe sie ihre Hand wieder zurückzog. „Was machst du, um auf andere Gedanken zu kommen?"

Sie ließ sich Zeit mit ihrer Erwiderung, weil sie plötzlich Angst hatte, er würde sie belächeln, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Trotzdem schaute sie ihn an. „Ich ... na ja, ich bin gern im Garten. In der Wintersaison natürlich weniger. Ich backe gerne. Aber ... keine Ahnung. Gerade nicht. Mein Sohn ist vor kurzem ausgezogen. Für wen soll ich mich also hinstellen und einen Kuchen machen? Oh je, das klingt sogar in meinen Ohren traurig." Sie rollte mit den Augen und sah, wie sich das Lächeln in seinem Gesicht ausdehnte, ehe er mit den Schultern zuckte.

„Dann komm doch einfach mal mit in die Tanzschule. Ganz unverfänglich. Um ehrlich zu sein, würdest du mir damit einen Gefallen tun. Meine langjährige Tanzpartnerin zieht weg und deswegen bin ich ohnehin auf der Suche nach einer neuen. Es ist nämlich wahnsinnig uncool, wenn man mit der Lehrerin tanzen muss..." Sie konnte nicht anders, als über den letzten Satz zu grinsen. Vor allem, weil er ihn so locker und freimütig äußerte. Dennoch dachte sie über sein Angebot nach.

„Vielleicht mache ich das tatsächlich. Welche Richtung tanzt ihr denn?" Plötzlich schien sich ihre Anspannung wieder zu verflüchtigen, während Nicks Augen nochmal aufleuchteten. Die Begeisterung, die aus seinen Worten sprach, sprang allmählich auf sie über als er ihr alles über seine Tanzgruppe erzählte, die sich dem Standardtanz verschrieben hatte. Der leichte Stich, den sie bei der Erwähnung des langsamen Walzers spürte, schien abgemildert zu werden, nur weil er sie so anstrahlte. Was irre ist. Aber ich werde einen Teufel tun und das anzweifeln.

Nachdem er geendet hatte, grinste sie ihn an. „Du bist also ein comicsammelnder Tänzer."

„Ja, so könnte man das zusammenfassen. Obwohl ich natürlich noch mehr mache. Aber ja, das sind meine Lieblingshobbys. Und du bist eine gärtnernde Bäckerin, die vielleicht zur Tänzerin avanciert. Das klingt fast nach dem Stoff für eine wunderbare Romanze." Sein Augenzwinkern zeigte ihr, dass er sie nur aufzog, und deshalb schüttelte sie ihr Unbehagen wegen der Aussage ab und grinste noch breiter.

„Schön möglich. Zu tanzen klingt auf alle Fälle verführerischer, als alleine im Kino einen Liebesfilm anzugucken. Wobei der Film schon klasse ist." Sie freute sich, dass er darauf einstieg. Sie durfte also ihre Sicht über die Geschichte schildern und das half, auch den Rest ihrer Anspannung abzuschütteln. Sein milder Gesichtausdruck, als sie sich über die darin dargestellte Liebe ausließ, brachte irgendwas in ihrem Bauch zum Flattern. Ihre Hände begannen zu zittern, während durch sie hallte: Ja, ich bin am Leben.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now