IV - 15

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Gretel wandte den Kopf und drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange. Dass er ihr das gesagt hatte, bedeutete ihr mehr, als sie in Worte fassen konnte. Als würde eine tonnenschwere Last von ihren Schultern genommen werden, hatte sie das Gefühl, als könne sie für einen Moment wieder richtig durchatmen, nachdem sie heute den ganzen Tag die Luft angehalten zu haben schien.
Sie bemerkte, wie sich seine Mundwinkel aufs Neue hoben und ihr Herz machte erneut einen Sprung in ihrer Brust. Sie drehte sich in seinen Armen und genoss die Wärme ihres Sohnes in ihrem Rücken, während sie den Blick zurück in den Himmel hob. Ihre Schwiegertochter hatte Recht: Es war ein wundervoller Tag. Trotz der gedanklichen Ausflüge, die sie heute hinter sich gebracht hatte.
Oder gerade deswegen, weil dieser Tag der Beweis dafür war, dass auch Geheimnisse nicht zwangsläufig etwas an Gefühlen ändern konnten, dachte sie und tauchte nochmals in die Vergangenheit ab.

„Sehr gut! Schieben, schieben, schieben! Genau! Vergessen Sie nicht zu atmen! Gleich ist er da, noch einmal! Sie schaffen das!" Gretel schluckte trocken und starrte in Erikas schmerzverzerrte Fratze, die sie panisch anschaute.

Die Qual, die sich darauf abzeichnete, schwängerte die zum Schneiden dicke Luft noch mehr und sie hatte das Gefühl, jede Zelle in ihr schrie nach Sauerstoff, während sie den feuchten Lappen nahm. Sie tupfte Erika den Schweiß von der Stirn und hielt ihren Blick fest, als sich Dankbarkeit hineinmischte.

„Ich will, dass es aufhört", flüsterte die Frau vor ihr und für einen Moment vergaß Gretel, dass jeder Muskel in ihr vor Aufregung zitterte.

Sie hörte die Erschöpfung, die ihre Stimme zum Vibrieren brachte und griff erneut nach den Fingern der anderen Frau, die ihr Baby ans Licht der Welt bringen wollte, um sie mit ihren zu verschränken. Sie brannten bereits, weil sie in den vergangenen Stunden so oft aneinandergeknirscht hatten. Doch das war zweitrangig. Tiefe Bewunderung füllte sie für jede Frau, die da durchging. „Du machst das großartig, Erika. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr."

Nun zog die Frau vor ihr, die sich auf die Pritsche zurückgelehnt hatte, für einen Sekundenbruchteil die Augenbrauen hoch und Gretel bemerkte erst jetzt, dass sie zum vertraulicheren Du gewechselt hatte. Doch dann verdunkelten sich deren Augen wieder vor Schmerz. Sie spürte, wie sich Erikas Körper anspannte, ehe er sich aufbäumte und ein kläglicher Laut von ihren spröden Lippen drang.

Ihre Blicke verschränkten sich und hielten sich aneinander fest, so wie sie es mit ihren Händen taten, während der Arzt und die Hebammen Erika gut zuredeten. Auch Gretel brach wieder der Schweiß aus und durch ihre Finger jagte ebenfalls Schmerz in ihr Innerstes, um sich dort zur Vorfreude zu mischen. Kurz blitzte die Frage in ihren Gedanken auf, ob es Erika genauso ging, ehe diese ein weiteres Mal entkräftet zusammensackte und der Druck an ihren Fingern abrupt abflaute.

Tränen sammelten sich jetzt in Erikas Blick und Gretel wollte gerade eins der Kissen unter deren Rücken herausziehen, um es ihr bequemer zu machen, als sie hörte, wie Erika aufschluchzte. „Es tut mir so leid. Ich hätte mich nicht in Hendrik verlieben dürfen. Dann wäre das alles nicht passiert."

Die Worte standen im Raum und vertrieben auch noch den letzten kläglichen Sauerstoff im Zimmer, den die Klimaanlage bisher durch die Luft gewirbelt hatte. Fassungslos stierte Gretel in das Gesicht ihres Gegenübers. In Erikas Augen sammelten sich noch mehr Tränen, während sich ihre Brust zuzog, als die Zahnräder in ihrem Kopf endgültig ineinandergriffen. Schlaff fiel ihre Hand an ihrer Seite hinunter und sie kniff irritiert ein paar Mal die Augen zusammen.

„Hendrik." Ihr Wispern wurde untermalt vom Flackern einer der Neonröhren, die die Szenerie schon die ganze Zeit in ein surreales Licht tauchte. Wie Blitzlicht, das immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zieht und doch überlagert wird, wenn es mit der Umwelt verschmilzt.

Sie fragte sich, woher dieser Gedanke gerade kam, während sie auf die eingesunkenen Schultern der Frau vor ihr schaute und sich deren Bedauern im Raum ausbreitete. Sie spürte, wie ihre Welt zu Staub zerfiel und versuchte Luft in ihre Lunge zu pressen. Sonst würde sie umkippen.

Ihr Herz würde ansonsten jeden Moment aussetzen. Bestimmt. Es war kein Platz in ihrer Brust, damit es weiterschlagen konnte. Sie spürte die Betroffenheit der restlichen Anwesenden, die zeitgleich große Löcher in ihre Seite brannte. Doch sie konnte den Blick nicht von den Augen der anderen lösen.

Die Reue darin. Sie konnte ihr nichts entgegensetzen, jetzt, wo das Gefühl des Verrats wie ein verletzter Löwe in ihr brüllte. Sie hatte gedacht... Niemals hätte sie gemeint, dass... Ihr Fokus verschwamm immer mehr, während sie versuchte, den Sturm in ihr zu beruhigen.

Doch er schlug meterhohe Wellen, die eine Art von Schmerz in ihre Gliedmaßen aussandten, die sie zuvor noch nie gekannt hatte. Erst der schmerzerfüllte Laut, der plötzlich die unnatürliche Stille durchbrach, ließ ihren Blick wieder klar werden. „Sie müssen nur noch einmal kräftig pressen, dann ist ihr Baby da."

Gretel nickte, obwohl sie wusste, dass nicht sie gemeint war. Aber die Qual im Gesicht der Frau vor ihr ließ sie mechanisch nach deren Hand greifen. Sie spürte das Zittern der Muskeln, die Vibration, die in ihrem Innersten widerhallte. Doch so sehr die andere ihre Finger auch quetschte, sie fühlte keinen Schmerz mehr.

Taubheit war da, wo sich Sekundenbruchteile zuvor noch eine Feuerschneise von Leid hindurchgewälzt hatte. Sie hatte das Gefühl, sich selbst beobachten zu können. Wie sie an der breiten Pritsche stand, unbeweglich, den Blick in die Leere gerichtet, die sie füllte. Währenddessen sie von Geschäftigkeit umgeben war: Das Krankenhauspersonal, das mit routinierten Bewegungen und in einer eingeübten Choreografie die Sicherheit von zwei Menschen gewährleisteten. Die andere Frau, die mit letzter Kraft alles dafür tat, einem Baby half, das Licht der Welt zu erblicken. Hendriks Baby.

Ein Schrei zerriss die Hülle des Kokons und Gretel schaute auf die Frau hinunter, die zurücksackte und sofort ließ sie die Finger los, die sich weiterhin an ihre drückten. Augenblicklich trat wieder Reue dahin, wo gerade Erleichterung und Freude geleuchtet hatten, doch sie beachtete es nicht.

Ihre Aufmerksamkeit wurde auf eine Bewegung gelenkt, die direkt vor ihr endete. „Möchten Sie die Nabelschnur durchtrennen?"

„Was?" Sie konnte den Blick nicht von dem, mit hellem schmierigem Überzug bedeckten, blaulilarosafarbenen Geschöpf nehmen, das plötzlich auf dem Bauch der anderen lag. Es krümmte sich zusammen, als sei ihm kalt.

„Möchten Sie die Nabelschnur durchschneiden?" Ihr Blick ruckte hoch zu der Hebamme, die sie mit leichtem Lächeln auf den Lippen anschaute und ihr die medizinische Schere entgegenhielt. Sie hatte schon graue Haare und ihr Gesicht war faltig. Doch die leise Freude ließ die Runzeln rund um die sanften braunen Augen strahlen. Ein Wimmern drang zu ihr durch und sie nickte knapp.

Mit zittrigen Fingern griff sie nach der Schere und tat den gewünschten Schnitt. Während sie beobachtete, wie Flüssigkeit aus den frischentstandenen Enden trat und auf die weiche Unterlage darunter sickerte, wurde sie sich klar, dass sie gerade die Verbindung zwischen dem Baby und der anderen gekappt hatte. Jetzt standen beide für sich auf dieser Welt. Ob das für Hendrik und mich nun auch gilt?

Kurz darauf hat er mich das erste Mal mit den Augen seines Vaters angesehen. Die fremde Frau, die sich in diesem Moment geschworen hat, dass sie niemals zulassen würde, dass ihm etwas Böses geschieht. Mit diesen Worten tauchte Gretel endgültig zurück in die Gegenwart. Das Kind in ihrem Rücken war zu einem wunderbaren Mann herangewachsen. Er war alles, was sie sich gewünscht hatte, und war so viel mehr geworden.
Während der letzte Sternenregen über sie herniederprasselte und sie registrierte, wie wieder Bewegung in die Menschenmenge kam, als sie nach drinnen strömten, hielt Gretel ihren Blick in den Himmel gerichtet. „Kommst du, Mama?"
„Gleich, Raupe. Gib mir noch einen Moment, ja?" Sie bemerkte im Augenwinkel, wie ihr Sohn nickte und sich abwandte, um mit den anderen weiter durch die Nacht zu tanzen. Auch sie hatte jetzt Lust zu tanzen. Denn plötzlich tat es nicht mehr weh. Das Geheimnis, das sie so lange an sich selbst hatte zweifeln lassen. Das Geheimnis, das ihr das größte Geschenk ihres Lebens gemacht hatte. „Danke, Babe. Für deinen Fehler, den ich mit einem eigenen beantwortet habe, ohne dass du davon gewusst hättest. Für die Zeit mit dir – und unseren Sohn. Er ist eine Wucht. Genauso wie du eine warst."

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Gretel - Das bin ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt