III - 1

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Obwohl sie sich die Gedanken an eine der härtesten Zeiten ihres Lebens immer wieder verboten hatte, hatten sie Gretel weiterhin im Griff, als der aromatische Geruch des Abendessens durch die Luft des Saales zog. Schon jetzt wusste sie, dass sie kaum einen Bissen hinunterwürgen konnte.
Die Erinnerungen daran, wie Hendriks und ihre Liebe zeitweilig nah dran gewesen war, zu zerbrechen, marterten ihren Kopf und zwangen sie, ihre zitternden Hände auf ihrem Schoß zu verbergen. Zum Glück war diese Tatsache niemandem aufgefallen.
Dennoch sehnte sie sich mehr denn je danach, sich zu offenbaren. Nur war da niemand, der wirklich vollen Einblick in ihr Seelenleben gehabt hätte – dem sie erzählt hatte, wie sie sich gefühlt hatte, als ihre Ehe fast zerbrochen war...

„Hendrik, ist das dein Ernst?" Fassungslos schaute sie ihren Mann an und schob Florian einen Löffel Brei zwischen seine Lippen. Im Augenwinkel beobachtete sie, wie ihr Sohn zufrieden sein Essen wieder aus dem Mund blubberte. Doch anders als sonst musste sie dabei nicht grinsen.

„Ich kann nichts tun, Liebling. Sie schicken mich undercover. Sie brauchen ein frisches Gesicht." Sie unterdrückte ihr Schnauben, während sie bemerkte, wie Hendrik ihrem Blick auswich. Wieder gab es ihr einen Stich in die Brust, wie so oft in letzter Zeit.

„Es hängt also nicht damit zusammen, dass wir uns momentan öfter in die Wolle bekommen? Du hast nicht genug von mir, brauchst nicht plötzlich deinen Freiraum? Mein Gefühl, dass du dich zurückgezogen hast und du dich eingesperrt fühlst, trügt mich also?"

Sein Blick schwirrte zu ihrem Sohn, ehe er zu ihr wanderte. Sein Schweigen baute sich zwischen ihnen auf wie eine unüberwindbare Festung und sie schluckte trocken. Das war Antwort genug. Betroffen senkte sie ihre Augen auf die Tischplatte. Das war genau das, wovor sie immer Angst gehabt hatte. Dass Hendrik das Korsett zu eng wurde. Doch es war sein Traum gewesen. Unser gemeinsamer Traum.

Sie zuckte zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Finger legte, die auf dem Tisch ruhten. Ihr Gesicht flog zurück zu dem ihres Mannes, der sie mit einer Mischung aus Bedauern und Entschlossenheit ansah. „Ich liebe euch, Gretel."

Sie konnte nur nicken, denn gerade war sie zu beschäftigt damit, Luft in ihre Lunge zu pressen. Ihr Brustkorb schien schlagartig zu wenig Platz zu bieten, als dass sich ihre Lungenflügel vollständig entfalten konnten. Trotzdem verschlang sie ihre Fingerglieder mit seinen und erwiderte seinen Blick. Die Wärme, die von seinen Fingern ausging, brizzelte auf ihren, doch sie blieben kalt.

„Wann geht es los?" Sie zuckte zusammen, als Florian nach seinem Löffel angelte und damit auf das Tischchen in seinem Hochstuhl hämmerte. Ihr Blick flog zu ihrem Sohn, der sie aus seinen blauen Augen brabbelnd ansah. Automatisch griff sie nach dem Spucktuch und wischte ihm über den Mund, woraufhin Flo seine Lippen verzog und sie unwillig anblitzte.

Auch das entlockte ihr sonst ein Lächeln, was ihren kleinen Wonneproppen sofort dazu bewog, es ihr gleichzutun, doch heute spielte nicht mal ein Zucken um ihre Mundwinkel. Zu tief saß die Erkenntnis, dass ihr Mann sich offenbar nicht in ihrem Leben wohlfühlen konnte.

„Es wird nicht so lange dauern, Gretel." Sein Flüstern hob einen weiteren Mauerstein auf den Wall, der bereits zwischen ihnen stand. Denn sie wusste, dass er das nicht wirklich abwägen konnte.

Es würde dauern, so lange es dauerte. Entweder würde er den Fall erfolgreich vorantreiben oder er wurde schlimmstenfalls enttarnt. Welche Folgen das haben konnte, schickte ihr beim bloßen Gedanken einen Schauer über den Rücken. Schnell lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder in die Gegenwart. Das Risiko, dass ihm etwas geschah, war nie abzustreiten – ob er nun undercover war oder seinen normalen Dienst antrat, versuchte sie sich dabei zu beruhigen.

Gretel zwang ein Lächeln auf ihre Lippen und konzentrierte sich auf den kleinen Mann, der seine Stirn runzelte und ihr direkt in die Augen sah. Das ließ ihr Lächeln tatsächlich einen Tacken wärmer werden. Sie war nicht allein, sie musste sich um ihr Kind kümmern. Und vielleicht, ja vielleicht, kann ich Hendrik dann wieder in die Augen sehen, ohne daran zu denken, was zwischen uns steht.

Als ihr Blick zurück zu ihrem Mann huschte, bemerkte sie plötzlich, wie müde er aussah. Augenblicklich zog sich ihre Brust wieder ein Stück zusammen und sie seufzte. „Du musst mir versprechen, dass du auf dich achtgibst."

Hendrik nickte und biss sich auf seine Unterlippe, ehe er ihre Finger leicht drückte. Trotzdem zuckte eine Schulter hilflos in die Höhe, während er sie anschaute. Wie sie seine Augen liebte. Wie sie ihn vergötterte. Gleich, was passiert war. „Immer. Das weißt du, oder?"

Reflexartig stimmte sie zu. Dennoch blieb der bittere, pelzige Geschmack auf ihrer Zunge kleben. Sie hätte gerne noch mehr dazu gesagt. Viele Fragen brannten in ihrer Kehle. Doch sie befürchtete, dass er ihr nicht die Antworten liefern konnte oder durfte, nach denen es sie verlangte. Sie ahnte, dass Hendrik wusste, was in ihr vorging. Aber auch er schwieg aufs Neue. „Denkst du, wir können wieder richtig miteinander reden, wenn du zurück bist?"

„Reden wir nicht gerade?" Reflexartig rollte sie mit den Augen und blitzte ihn danach an. Die Wärme seiner Hand brannte sich plötzlich in ihre und sie zog ihre Finger automatisch unter seinen hervor. „Es tut mir leid. Ich weiß natürlich, was du meinst."

„Also? Werden wir danach weiterhin so tun, als wären wir in Ordnung oder denkst du, wir bekommen es dann wieder auf die Reihe?" Obwohl sie die Worte so ruhig wie möglich äußerte, pochte ihr Herz wie wild gegen ihre Brust, während sie auf Hendriks Antwort wartete.

„Wir kommen in Ordnung. Ich verspreche es." Ihre Augen hefteten sich auf sein Gesicht und suchten nach einem Anhaltspunkt, der seine Erklärung bestätigte. In seinem Blick spiegelte sich Entschlossenheit, die sich auch in die grimmigen Linien um seinen Mund gegraben hatte, was ihren Puls in die Höhe schnellen ließ. Doch sie erkannte an seinen hochgezogenen Schultern genauso, dass er es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Er hoffte. Wie sie.

Sie schluckte hart gegen das Bedauern an, das sie überfiel und nickte kaum wahrnehmbar. Wahrscheinlich war Hoffnung gar keine so schlechte Ausgangslage. Es war jedenfalls mehr, als einfach aufzugeben. Vielleicht sollte ich ihn selbst darauf ansprechen?

Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, baute sich in ihr aufs Neue Widerstand auf. Sie kannte diese Gefühlsregung bereits. War sie eben stolz und verbissen. Aber sie wünschte sich, dass er sich ihr offenbarte. Dass er ihr alles erklärte, ohne, dass sie ihn danach fragte. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit Florian zu, der herzhaft – und geräuschvoll – gähnte und hob ihn aus seinem Hochstuhl.

Ob Hendrik merkt, wie meine Hände zittern? Wenn er es registrierte, ließ er es sich nicht anmerken. Sie schob sich Florian auf ihre Hüfte und atmete tief ein, als ihr Sohn sich an sie schmiegte und sie aus halbgeschlossenen Augen anblinzelte. „Ich muss ihn ins Bett bringen."

„Ich muss auch nochmals aufs Revier. Die letzten Ungereimtheiten klären." Sie beobachtete, wie er sich auf dem Tisch abstützte, um sich schwerfällig von seinem Stuhl zu erheben. Fiel es ihm vielleicht doch schwer, Florian und sie zurückzulassen und für eine unbestimmte Dauer zu einem anderen Menschen zu werden?

Sie wüsste es gerne. Aber irgendwie war ihr die Fähigkeit abhandengekommen, nach seinen Gefühlen zu fragen. Vor einem Jahr hatte sie ihn nur angesehen und gewusst, wie er dachte. „Ich liebe dich, Gretel. Und dich auch, kleine Raupe."

Sie spürte, wie Hendrik ihr einen Kuss auf die Wange hauchte, ehe er Flo einen Kuss auf seinen blonden Lockenkopf gab. Ihr Sohn lächelte seinen Vater augenblicklich an und sie hob eine Hand an sein Gesicht. „Wir lieben dich auch."

Hendrik nickte. Danach schaute er sie noch einen Moment an und sie dachte, dass er etwas loswerden wollte. Aber anschließend senkte er den Kopf, stopfte seine Finger in die Hosentaschen und wandte sich ab. Als die Haustür ins Schloss fiel, löste sie sich endlich aus ihrer Starre. „Na komm, Raupe. Du hast schon ganz müde Augen."

Das leise Seufzen aus seinem Mund ließ ihr Herz stolpern. Sie hoffte, dass ihr Sohn nicht begriff, wie schlecht es um die Ehe ihrer Eltern stand, dachte sie und stieg die Treppe nach oben, um ihn ins Bett zu bringen.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now