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Mit einem Seufzen wandte sie sich ab und wischte sich verstohlen über ihre Wange, weil sich doch eine Träne aus ihrem Augenwinkel gestohlen hatte. Als sie bemerkte, wie die anderen Gäste – und das Brautpaar – allmählich wieder nach drinnen gingen, schaute sie noch ein wenig auf das Geißblatt, dessen Duft diese Erinnerungen hervorgerufen hatte.
Anschließend straffte sie ihre Schultern und folgte den anderen. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, wie sich ihr Kopf wieder zu dem Tag schlich, an dem sie ihre große Liebe zu Grabe getragen hatten...

Wie es Hendrik einmal nebenbei erwähnt hatte, klang gedämpft die Melodie von Led Zeppelins „Stairway to heaven" durch die Kirche. Ein einzelner Gitarrist zupfte die Leadmelodie, während die unaufdringlichen Flötentöne von seinen beiden Begleiterinnen gespielt wurden. Gretel krampfte ihre Finger um das Taschentuch, das weiterhin keine Träne hatte auffangen müssen. Eine Gänsehaut überlief sie, als der Gitarrist mit melancholischer Stimme den Text anstimmte.

Unterbrochen wurde sein Gesang lediglich von den zahlreichen Schluchzern, die sie umgaben. Nur sie saß mit stocksteifen Rücken und undurchdringlicher Mimik auf ihrem Stuhl in der ersten Reihe. Womöglich konnte sie sich nicht bewegen, weil die Luft immer noch so dick war, dass sie kaum atmen, nur hindurchwaten konnte? Sie wusste es nicht. Erneut erschauerte sie, während das Schlagzeug einsetzte. Es hatte sie viel Überredungskunst gekostet, dass die Band sich neben dem prunkvollen Altar der katholischen Kirche positionieren und dieses Lied spielen durfte.

Es war einfach nicht üblich, dass etwas anderes gesungen und gespielt wurde als die gängigen Kirchenlieder. Sie hatte sogar die „Mein-Mann-ist-in-einem-Einsatz-als-Held-gestorben"-Karte spielen müssen. Doch sie hatte das Gefühl gehabt, sie war es Hendrik schuldig, nachdem er zu Lebzeiten so viel Gutes für seine Mitmenschen getan hatte.

Ihre Augen blieben an dem großen Foto kleben, das ihn vor ein paar Monaten zeigte: Vor dem Motorrad, das er sich an jenem Tag gekauft hatte, mit Lederjacke und in die Jeanstaschen gestopften Händen. Das Vehikel stand nun in der Garage. Abgedeckt mit einem weißen Bettlaken. Er würde nie wieder damit fahren. Diese Erkenntnis sandte Schmerz durch sie wie ein Wassertropfen, der auf die Oberfläche traf und Wellen vom Eintrittspunkt auslöste.

Schnell schluckte sie gegen den Kloß an, der sich rasant in ihrer Kehle bildete und das Atmen noch mehr erschwerte. Sie lenkte den Blick auf den aus rötlichbraunen gefertigten Sarg, dessen Deckel offenstand. Sie hatte es nicht ertragen, dorthin zu gehen und ihrem Mann nochmal ins Gesicht zu sehen. Blumenschmuck türmte sich fast um Hendriks letzte Liegestätte.

Zwischen den Anwesenden waren einige seiner Kollegen, die allesamt in Uniform erschienen waren, Verwandte, Freunde und ein paar unbekannte Gesichter, die sie den anonymen Alkoholikern zuordnete. Einer der Fremden hatte schon beim Betreten der Kirche dicke Tränen geweint und sie vermutete, dass er Hendriks Schützling gewesen war. Was Hendrik wohl gesagt hätte, wenn er wüsste, dass die Kirche fast bis auf den letzten Platz besetzt war? Hätte er sich gefreut, dass er so viele Leben berührt hat? Oder war ihm nur wichtig, dass er Florians und meins so beeinflusst hat?

Ihre Augen huschten zu Flo, dessen Zähne schon Abdrücke in seiner Unterlippe hinterlassen hatten, weil sie sich die ganze Zeit darin zu versenken schienen. Sein Gesicht war tränennass und seine Schultern bebten ebenso stark wie sein Kinn. Die Nase lief ihm und die salzigen Flüssigkeiten hatten bereits rote Stellen unter seine Augen und seine Nase gezeichnet. Weiterhin wusste sie nicht viel zu ihm zu sagen. Noch immer hatte sie nicht geweint.

Obwohl sich ihre Brust jeden Abend, wenn sie allein im Bett lag, mit Hendriks Kissen im Arm, so sehr zusammendrückte, dass sie dachte, sie würde ihm wegen Sauerstoffmangels folgen. Dann starrte sie an die Decke und sehnte sich danach, dass er ihr einen Kuss ins Haar hauchen und sie an sich ziehen würde. Dass sie sich bei ihm vor der bösen Welt verstecken könnte, die so erbarmungslos ihren Tribut forderte.

Aber ihre Augen blieben trocken. Nur der Druck auf ihrer Brust schwoll immer mehr an, legte sich auch um ihre Glieder und machte jede Bewegung zur Qual. Doch sie durfte sich nicht hängen lassen. Sie musste schlicht funktionieren. Immerhin brauchte Flo sie, der für sie beide zu trauern schien. Ihre Hand wanderte zu der ihres Sohnes und sie drückte seine kalten Finger, während sein Gesicht sich in Zeitlupe zu ihrem drehte.

Der Schmerz in seinem Blick presste die letzte Luft aus ihren Lungen und sie musste sich mühen, den Brustkorb trotzdem zu heben. Es war nicht so, als würde die Qual sie nicht ebenfalls fest mit ihren spitzen Krallen umklammern. Nur war das schwarze Loch weitaus raumfordernder und überdeckte das Brennen und Pochen in ihrem Innersten. Erneut fröstelte sie und automatisch zog sie Florian an sich, um einen Hauch von Wärme zu erhaschen. Ihr Sohn lehnte sich gegen sie und Gretel fielen die Lider zu. Sie wusste, dass Flo nicht verstand, wieso sie so kalt war. Aber ihn trotzdem zu spüren, verdrängte die Trance, in der sie sich befand.

Da Florian jetzt wieder heftiger weinte, reichte sie ihm reflexartig das verschwitzte Taschentuch. Es war kalter Schweiß, der in die Baumwollfasern eingedrungen war, doch das schien ihren Sohn nicht zu stören, der ihr einen dankbaren Blick zuwarf. Sie beantwortete ihn mit einem schiefen Lächeln. Was Flo sofort wieder die Stirn runzeln ließ. Irgendwie hatte sie den Eindruck, als könne sie zurzeit nichts richtig machen.

Schnell wandte sie die Augen ab und ließ sie aufs Neue durch die Kirche wandern, während die letzten Klänge des rockigen Songs durch die Luft schwebten und verklangen. Im Augenwinkel bemerkte sie, wie der Pfarrer sich wieder in Stellung brachte, und schaltete die Ohren auf Durchzug.

Es war nicht so, dass sie nicht gläubig wäre, doch die kirchlichen Dogmen und die Ansicht von Himmel und Hölle teilte sie nicht. Sie glaubte eher daran, dass jedes Handeln eine Konsequenz hatte. Aber wenn man verstarb, kam man ihres Erachtens nicht in ein Paradies, sondern die Energie des Liebsten weilte weiterhin bei den Lebenden. Vielleicht kann ich deswegen nicht weinen? Weil ich denke, ihn zu spüren? Oder bilde ich mir das nur ein?

Sie unterdrückte mühselig ein Schulterzucken und schaute ein paar Plätze neben sich, wo Hendriks Eltern saßen. Um ehrlich zu sein, hatte sie nicht gedacht, dass sie zu seiner Beisetzung kommen würden. Sie hatten überraschend vor Florian und ihr gestanden und hatten ihren Enkel mit großen Augen angesehen. Ob sie von seiner Existenz überhaupt gewusst hatten? Ich habe nie mit Hendrik darüber gesprochen.

Die beiden waren sichtlich gealtert. Vor allem ins Gesicht ihrer Schwiegermutter hatten sich tiefe Falten gegraben zu haben, die Frisur hatte einen schlohweißen Ton angenommen, während ihre dunkelblauen Augen etwas trüber waren als früher. Ihr Schwiegervater trug indessen sein kurzes Haar in sattem Grau, seine hellgrauen Iriden leuchteten weiterhin kalt in seinem glattrasierten Gesicht, das keine Regung zeigte.

Still und steif saß er neben seiner weinenden Frau, ohne auch nur seine Hand zu ihr herüberzustecken. Sie hatte nie verstanden, wie ihr Hendrik zu diesen beiden Menschen gehören konnte. „Ma!"

Ihr Kopf ruckte zu ihrem Sohn, der sie vorwurfsvoll und auffordernd anschaute. Verwirrt schaute sie sich um. Auch der Priester starrte sie an. Hastig erhob sie sich und ging auf den Altar los. Sie musste eine Rede für ihren Mann halten. Doch was sie sagen sollte, wusste sie nicht.

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Gretel - Das bin ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt