II - 13

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„Ma? Bist du da?" Gretel hob den Kopf von den Steuerunterlagen vor sich und rief eine Zustimmung in den Flur. Kurz darauf betrat er den Wohnraum und sie bemerkte das dunkelhaarige Mädchen an Florians Hand, das die Schultern gestrafft hatte, obwohl ein wenig Vorsicht in ihren grauen Augen zu sehen war.

„Ma, das ist Saskia. Meine Freundin." Gretel beeilte sich, aufzustehen, und musterte die Schönheit – wie sie hoffte – unauffällig, ehe sie auf die Zwei zutrat und dem Mädchen die Hand entgegenstreckte. Sie gab sich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie am liebsten die Hand wieder zurückziehen wollte, weil die Finger des Mädchens so schwitzig waren.

„Hallo Saskia. Ich bin Gretel. Freut mich." Sie merkte, dass Florians Freundin nur nickte und dann eine Augenbraue hob, während sie sich Gretels Sohn zuwandte. Der stand betont cool vor ihr und wollte sich offenbar nicht anmerken lassen, wie nervös er in Anbetracht der Tatsache war, dass er ihr zum ersten Mal ein Mädchen vorstellte.

Ein paar Sekunden standen sie einfach nur da, ehe sie sich räusperte und fragte: „Was macht ihr?"

„Oh, äh, nur ... äh, Hausaufgaben." Hastig biss sich Gretel auf die Zunge, um zu verhindern, loszulachen. Dass sie alles andere als ihre Schularbeiten im Sinn hatten, war nur zu offensichtlich. Doch sie rang sich ein Kopfnicken ab. „Magst du was trinken, Saskia?"

Florians Freundin schüttelte nur den Kopf und Gretel fragte sich, ob sie ihre Zunge verschluckt hatte. Aber dann schob Saskia ihre Finger wieder in Florians Hand zurück und erkundigte sich mit leiser Stimme: „Wollen wir dann, Schatz?"

„Jap. Bis später, Ma." Sie erwiderte den Abschied und rollte amüsiert mit den Augen, als sie die Schritte auf der Treppe hörte. Kurz darauf vernahm sie, wie Flos Zimmertür ins Schloss klickte und wandte sich wieder den Steuerunterlagen zu.

Allerdings konnte sie sich jetzt nicht mehr so konzentrieren wie zuvor. Denn schon wenig später hallten Geräusche durch das Haus, die sie annehmen ließen, dass ihr Sohn langsam die Bekanntschaft mit dem weiblichen Geschlecht machte und seine Freundin keine Frau war, die ihrer Lust nicht Ausdruck verlieh. In einer Mischung aus Unmut und Amüsement rollte sie mit den Augen, gab aber kurz später auf. Sie wollte gar nicht Zeugin dieses Spektakels sein, das sich offenbar im Zimmer ihres Sohnes abspielte.

Also raffte sie hastig die Steuerunterlagen zusammen und griff nach einem Zettel, auf dem sie notierte, dass sie nochmal einkaufen gefahren war. So schnell sie konnte, trat sie in den Flur und streifte sich ihre Stiefel gegen das nasskalte Novemberwetter über. Nachdem sie auch ihre Jacke angezogen und nach ihrer Handtasche geangelt hatte, trat sie ins Freie.

Ihr Blick fiel auf ihr Auto und aus einer Laune heraus, entschied sie sich dagegen in den Wagen zu steigen. Denn obwohl ihr der Gedanke nicht behagte, dass ihr Sohn es war, der sich mit einem Mädchen vergnügte, hatten die Geräusche sie trotzdem dran erinnert, dass sie im Moment wie eine Nonne lebte. Schlagartig sehnte sie sich plötzlich nach Berührungen. Es war ihr im Grunde gar nicht aufgefallen, wie lange sie bereits ohne sie auskam. Da wird die eisige Luft helfen, mich wieder auf andere Gedanken zu bringen. Immerhin ist mein Mann tot. Und die Vorstellung, mit einem anderen Mann intim zu werden, schmeckt mir nicht.

Mit großen Schritten eilte sie die Straße mit den Häuschen entlang, die sich wie Perlen auf einer Kette aneinanderreihten. Sie wusste im Grunde gar nicht, was sie einkaufen sollte. Denn den Wocheneinkauf hatte sie bereits nach der Arbeit erledigt. Aber davon ahnte ihr Sohn nichts und sie schätzte, es wäre ihm gerade auch egal.

Reflexartig schüttelte sie den Kopf, während ihr bewusst wurde, dass Flo wirklich den nächsten Meilenstein zum Erwachsenwerden genommen hatte, und wieder hatte Hendrik es verpasst. Natürlich, Gretel! Er ist tot. Wie soll er es mitbekommen. So langsam dürftest du dich von diesem Gedanken lösen, meinst du nicht?

Ein Seufzen kondensierte zu einer kleinen Atemwolke, als sie an das Mädchen an der Seite von Florian dachte. Irgendwas in ihr sagte ihr, dass es nicht diejenige war, die das Herz ihres Sohnes langfristig gewinnen konnte. Warum konnte sie nicht ausmachen. Es war eher so ein Bauchgefühl. Doch hastig pfiff sie sich wieder zurück: Er war in einem Alter, in dem er sich schlicht probierte. Das hatte sein Vater getan, sie ebenfalls und es gehörte wohl einfach zu diesem Abschnitt des Lebens.

Also nahm sie sich vor, Saskia gegenüber aufgeschlossen zu bleiben. Vielleicht täuschte sie ja ihre Intuition und das Mädchen schaffte es doch bis an den Spitzenplatz im Herzen ihres Kindes. Wobei ihr Kind ja offensichtlich keines mehr war.

Ein Hupen riss sie aus ihren Gedanken und sie stellte irritiert fest, dass sie offenbar einfach über die Straße gelaufen war, ohne zu gucken. Oder zumindest ohne BEWUSST aufzunehmen, was in ihrer Umgebung vor sich ging. Hastig hob sie die Hand für eine kurze Entschuldigung und beeilte sich, die andere Straßenseite zu erreichen. Sie war offenbar automatisch zu einer Drogerie spaziert.

Mit einem Schulterzucken betrat sie den Laden und streifte durch die Gänge, ohne, dass sie sich für irgendetwas erwärmen konnte. Doch dann blieb ihr Blick an den Präservativen hängen. Stirnrunzelnd starrte sie die Verpackungen an und fragte sich, inwieweit es ein Eingriff in Florians Privatsphäre war, wenn sie eine Packung kaufen würde.

Allerdings könnte sie die Verhüterlis ja kaufen und sie für sich aufbewahren. Für den Fall, dass sie sich entschloss, selbst wieder in den Sattel zu steigen. Irgendwann. Kaum zu glauben, wie viele neue Sorten es da mittlerweile gibt. Wie lange ist es her, dass ich keine mehr gebraucht habe? Bin ich wirklich schon so alt?

Nachdem sie sich entschieden hatte, griff Gretel nach einer der Packungen und schlich sich an die Kasse. Sie wusste nicht wieso, aber irgendwie war es ihr unangenehm, Verhütung zu kaufen. Es fühlte sich fast an wie ein Betrug und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie den interessierten Blick des Mannes vor ihr auffing, der darauf wartete, sein Rasiergel bezahlen zu können.

Sie merkte, wie seine Augen zu ihrer Hand wanderten, und war froh, dass sie weiterhin beringt war. Denn sofort erlosch das Interesse im Gesicht des Typen vor ihr, der ohnehin nicht ihr Typ gewesen wäre. Niemand ist dein Typ, Gretel. Nicht mehr. Aber du bist blöde 39 Jahre alt. Du solltest vielleicht darüber hinwegkommen.

Sofort entstand ein Zwist in ihrem Innersten. Ein Teil von ihr wollte anerkennen, dass sie eine ganz normale Frau war, die eben auch Sinnlichkeit in sich barg. Der andere wies diese Tatsache scharf zurück, indem er erklärte, sie hätte das Recht auf diese Seite in sich mit dem Ableben ihrer großen Liebe verloren.

Als sie endlich an die Reihe kam, war sie bereits kurz davor, die Kondome irgendwo abzulegen und aus dem Laden zu verschwinden. Doch sie bezahlte sie, schob sie in ihre Handtasche und trat wieder zurück in den Nieselregen, der allmählich in größere Tropfen mündete. Mit einem Seufzen zog sie sich die Kapuze ihres Parkas über den Kopf und wollte den Weg nach Hause einschlagen. Aber dann überlegte sie es sich anders und wandte sich in die Richtung, in der Emmy wohnte.

Es war Zeit, ihrer Freundin mal wieder einen Besuch abzustatten. Sie hatte sie sträflich vernachlässigt. Und bei diesem Dilemma konnte wohl nur die engste Vertraute helfen.

Ihr Blick fiel auf Emelie, die mit ihrem Mann an einem der anderen Tische einen Platz gefunden hatte. Ihr Gesicht war so strahlend wie an jenem Abend, als sie völlig durchgefroren bei ihr aufgetaucht war und Gretel ihr das Herz ausgeschüttet hatte. Sie hatten heute noch nicht viel geredet und plötzlich dürstete es Gretel danach.
Seit Emmy vergeben war, hatte sich auch diese Freundschaft verändert. Es gab so vieles, was sie nicht wusste und Gretel auf dem Herzen brannte. Aus einem Impuls heraus erhob sie sich und ging die Tischreihe entlang. Bei Emmy angekommen, lächelte diese sie an und sie ließ sich neben sie gleiten. „Na, Süße? Amüsierst du dich?"
Gretel nickte, merkte aber sofort, dass ihre Freundin sie durchschaute. So viel schien sich dann doch nicht geändert zu haben. Denn augenblicklich hoben sich ihre feingezupften Brauen und ihre Augen verdunkelten sich vor Besorgnis, während Emmy sich ihr komplett zuwandte.
Mitgefühl schlich auf ihre Züge und Gretel schluckte, ehe sie zugab: „Ich vermisse ihn. So schlimm wie schon lange nicht mehr."

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Gretel - Das bin ichحيث تعيش القصص. اكتشف الآن