III - 4

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„Florian! Warte! Du kannst doch nicht einfach..." Hastig schob sie sich den zweiten Stiefel über den Fuß und grabschte nach ihren Schlüsseln, ehe sie ihrem Sohn nach draußen nachstolperte. Dort blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihr gerade Zweijähriger stand am Ende der Auffahrt und unterhielt sich mit einer Frau, die sie jederzeit wiedererkennen würde.

Sofort schluckte sie gegen den sich bildenden Kloß in ihrem Hals an und warf die Haustür ins Schloss. Sie bemerkte, wie Erika zusammenzuckte und Flo sich ihr zuwandte. Mit schnellen Schritten ging sie auf die Frau zu, die ihr bereits schuldbewusst entgegensah.

„Hallo." Gretel nickte nur und hob sich Florian trotz seines Protestes auf die Hüfte. Sie konnte kaum atmen, als sie in die Augen der Frau sah, die sie während der Geburt ihres leiblichen Sohnes begleitet hatte. Der sich nun gegen sie stemmte – seine Adoptivmutter. Ihre Gedanken überschlugen sich und sie suchte nach einer netten Erwiderung, während Florians Schreie, er wolle laufen, in ihren Ohren klingelten.

Statt ihn loszulassen, drückte sie ihn noch fester an sich. „Was willst du hier?"

Erikas Blick flog zwischen Florian und ihr hin und her, ehe sie sich räusperte und ihr direkt in die Augen sah. „Ich wollte ihn sehen."

„Das ist gegen die Vereinbarung." Gretel musste sich zusammenreißen, dass sich ihre Stimme nicht überschlug, so sehr klopfte ihr das Herz im Hals. Sie würde ihr Baby nicht wieder hergeben.

Mit Genugtuung bemerkte sie, wie sich zumindest Schuldbewusstsein auf das hübsche Gesicht der Frau schlich, die ihr ein Kind geschenkt hatte. Erika schaute auf den Boden und scharrte mit den Füßen, ehe sie den Blick wieder hob. „Ich weiß. Aber ... ich musste nochmal ... ich will ihn dir nicht wegnehmen."

„Ach ja?" Ihre Stimme klang bissiger als beabsichtigt und sogar Flo unterbrach seinen Protest nun, um sie mit großen Augen anzustarren. Eilig schluckte sie den Frust hinunter, der sich ihr bemächtigen wollte. Sie merkte ohnehin, dass Erika genau wusste, was sie meinte.

„Nein. Ich ... ich musste mich nur vergewissern, dass es ihm gutgeht. Ich ... ich werde wegziehen. Ich will das alles hinter mir lassen. Auch Florian. Euch. Aber ..." Die junge Frau vor ihr klang so traurig, dass Gretel für einen Moment die Augen schloss, ehe sie diese wieder fixierte. Sie konnte in Erikas Gesicht keinerlei Anzeichen finden, dass diese sie belog, also seufzte Gretel schwer. Mach schon. Immerhin verdankst du ihr deinen Sohn.

„Wir wollten gerade zum Spielplatz. Willst du uns begleiten?" Für den Bruchteil einer Sekunde riss Erika die Augen weit auf, ehe sie sich fing und kurzangebunden nickte. Gretel setzte unterdessen Florian wieder auf dem Boden ab, der offenbar verwirrt war. Denn er schaute zwischen seinen Müttern hin und her. Dann beschloss er anscheinend, dass es ihm schnurz war, was sich zwischen den Erwachsenen abspielte, denn er blickte Gretel an und ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. „Schielpast?"

„Ja, Raupe. Jetzt gehen wir zum Spielplatz. Wir nehmen Erika mit, ist das ok?" Nochmal wanderte Florians Blick zu seiner leiblichen Mutter, ohne, dass er überhaupt eine Ahnung hatte, wer sie war und Gretels Brust verkrampfte sich, als sie die Ähnlichkeiten zwischen den beiden bemerkte. Sie hatten das gleiche blonde Haar und Florians Nase war ein Abbild der seiner Mutter. Sofort stieg Neid in ihr auf, doch sie schluckte ihn herunter. „Ja. Ok."

Sie lächelte unwillkürlich, als sich Florians – vom Frühstück noch klebrige – Hand in ihre Finger schob und ignorierte das wehmütige Lächeln seiner biologischen Mutter. Flo war ihr Kind. Selbst wenn Erika geplant hätte, ihn ihnen zu nehmen, war die Frist abgelaufen, die Adoption rückgängig zu machen. Dieser Gedanke erleichterte sie so sehr, dass sie ihrem Gegenüber zunicken und sich langsam in Bewegung setzen konnte.

Schweigend passten sie sich Florians Tempo an, der wie eh und je begeistert durch die Siedlung mit den kleinen Einfamilienhäusern lief. Er schien immer wieder irgendeine Kleinigkeit zu entdecken und bückte sich auch mal nach einem Stein, dessen Form ihm gefiel. Normalerweise hätten Flo und sie jetzt geplaudert, doch gerade war ihr nicht danach, so einen Moment mit der blonden Frau zu teilen, die sich in eine dünne Jeansjacke gehüllt hatte. Darunter trug sie einen beigen Wollpullover über einer enganliegenden Jeans, die sie in die braunen Stiefel gesteckt hatte.

Wenn Gretel nicht gewusst hätte, wie Erika ihr Geld verdiente, hätte sie das nicht von ihrem Outfit erschließen können. Es fiel ihr generell schwer, diese Frau mit einer Sexbombe in Verbindung zu bringen, die ihren Körper verkaufte, um ihren Lebensunterhalt zu decken. Sie wirkte eher wie eine der Studenten, die hier im Umkreis von Regensburg wohnten, weil sie von der Hochschule angezogen wurden. Genau deswegen urteilt man nicht über Personen anhand ihres Äußeren.

Gretel bemerkte, dass Erika am Ärmelbund ihrer Jacke pfriemelte, als wäre sie nervös und das rührte sie irgendwie. Genauso wie es sie besänftigte. Von dieser Frau ging keine Gefahr aus, das erzählten ihr auch die leicht eingesunkenen Schultern und der gedankenverlorene Gesichtsausdruck, den Florians Mutter zur Schau trug, während sie Schritt für Schritt an den Einfahrten und Vorgärten vorbeigingen.

Ab und zu huschte der Anflug eines Lächelns auf Erikas Gesicht, vor allem dann, wenn Flo wieder abrupt stehenblieb und auf einen noch sprießenden Strauch oder eine Blume deutete. Gerade faszinierte ihn eine Katze, die auf einem massiven Pfeiler eines Tores saß und sich putzte. Sein Gesicht leuchtete und es schien ihn nicht zu stören, dass seine Mutter heute schwieg. „Mau, mau."

„Ja, Raupe. Das ist eine Katze. Sie wäscht sich." Die Augen ihres Lieblings wurden kugelrund und er legte den Kopf schief, um dem Tier weiter zuzusehen, das sich gemächlich mit der frischabgeleckten Vorderpfote über ihr Maul strich.

Gretel bemerkte im Augenwinkel, wie Erika ihren Sohn musterte und fragte sich, was ihr wohl durch den Kopf ging. Sie hatte sie damals nicht oft getroffen, als zur Debatte stand, dass Hendrik und sie ihrem Fötus ein Zuhause geben würden. Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch wieder von Florian angezogen, der jetzt an ihrer Hand zog. „Deich'n?"

„Nein, Schatz. Fremde Tiere darf man nicht einfach streicheln. Wir wissen nicht, ob die Katze das möchte, weißt du? Da müssten wir die Besitzer fragen." Sie strich Flo automatisch über den Kopf, als er für einen Moment eine Schnute zog und ging neben ihm auf die Knie. „Morgen besuchen wir Oma auf ihrem Bauernhof. Da kannst du die Kälbchen streicheln. Ok?"

Diese Feststellung zauberte wieder ein Lächeln auf die Züge ihres Sohnes und ihr Herz verpasste wie so oft einen Schlag, weil Flos dunkelblaue Augen so glücklich funkelten. Im gleichen Moment gab es ihr einen Stich, den sie sofort von sich schob. „Wollen wir weiter zum Spielplatz?"

Jetzt vertiefte sich das Blitzen in seinem Blick und er nickte euphorisch und Gretel merkte, wie sie automatisch grinste. Wie auch Erika lächelte. „Ja. Schielpast."

Mit einem Nicken erhob sie sich wieder auf die Beine und jetzt hatte es Florian offenbar eilig, denn er zog an ihrer Hand und lief, so schnell er konnte, in die bekannte Richtung. Auch das schien seine biologische Mutter zu amüsieren. Gretel hätte sie gerne eine Menge gefragt. Dafür werde ich jetzt gleich Gelegenheit bekommen, denke ich.

„Schmeckt dir der Kuchen nicht?" Mühsam riss sich Gretel in die Gegenwart zurück und erschrak, als sie bemerkte, dass ihre volle Gabel vor ihr in der Luft hing. Schnell schob sie sich den Bissen in den Mund und das Stöhnen, das daraufhin über ihre Lippen brach, war echt.Trotzdem musterte sie ihre Mutter wieder und sie wich schnell ihrem Blick aus. Stattdessen fixierte sie Florian, um zu kontrollieren, dass er nichts von ihrer Abwesenheit mitbekommen hatte. Was nicht der Fall war, er plauderte mit Annas Verwandtschaft und inhalierte wie gewohnt sein Essen nebenbei. „Margarethe?"Ihre Augen huschten zurück zu ihrer Mutter und sie bemerkte, wie diese sie weiterhin fixierte. Hastig zuckte sie mit den Schultern. „Ich bin ok. Nur ein bisschen sentimental im Moment."Ihr Flüstern wurde zum Glück fast von den Geräuschen im Raum verschluckt. Nur ihre Mutter hatte sie offenbar gehört, denn diese legte ihre Finger auf ihre zitternde Hand und drückte sie kurz, während sich Verständnis auf ihr Gesicht schlich. Gretel setzte ein schiefes Lächeln auf und nahm sich vor, sich jetzt endgültig mit ihrem köstlichen Kuchen zu beschäftigen. Doch auch er barg so viele Erinnerungen. Sie hatte sich eine Portion davon genehmigt nach diesem Tag, fiel ihr plötzlich ein und schon verschwamm die Gegenwart ein weiteres Mal...

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Gretel - Das bin ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt