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„Geht es dir gut, Gretchen?" Sie nickte vergnügt, während sie nochmal grinsend auf die Hupe drückte, und erneut ein Trötkonzert über die Straße zwischen der hochaufragenden Felswand und dem Fluss erschallte. Dann schaute sie ihre Mutter an, die sie musterte. Ehe sie den Kopf wieder dem Verkehr zuwandte, bemerkte sie das sanfte Lächeln, das ebenfalls um die Mundwinkel ihrer Mama spielte. Auch die wirkte mittlerweile ruhiger als sie es noch vor einem Jahr gewesen war. Damals war Gretel diejenige gewesen, die gewusst hatte, wie sie sich fühlte. Wie wahnsinnig schwierig es war, den Mann jeden Tag ein bisschen mehr loszulassen, der einen so lang begleitet und dessen Verlust so marternd war. Gemeinsam hatten sie den Schmerz bewältigen können. Dennoch verband er sie auch auf eigentümliche Weise. Aus einem Impuls heraus griff sie nach der Hand ihrer Mutter und verschränkte ihre Finger miteinander, ehe sie auf den Parkplatz der Sehenswürdigkeit einbog. Sofort schlichen ihre Gedanken wieder zurück zu diesem Abend, den sie rückwirkend als Wende bezeichnen würde...

Die Lichter flackerten gerade und es breitete sich schummrig zwischen den samtenen Sitzen in den Reihen vor ihr aus. Ihr Herz pochte weiterhin schnell und sie freute sich noch mehr, dass ihr Weg sie vorher in das kleine Kino geführt hatte. Dort hatte sie ein riesiges Plakat angeleuchtet von einer Neuaufführung von Pearl Harbour. Unschlüssig hatte sie sich gefragt, ob sie es ertragen würde, diesen Film alleine zu sehen oder ob sie die Erinnerungen an Hendrik überwältigen würde, mit dem sie den Film damals geguckt hatte, als er erschienen war. Jetzt war sie froh, dass sie sich entschieden hatte, in den breiten Sesseln zu versinken und der Geschichte erneut zu folgen. Das gelegentliche Ziepen in ihrer Brust hatte sie zwar wahrgenommen, sich jedoch mehr in der Liebesgeschichte verfangen. Ich bin also mehr als zufrieden mit meinem ersten Kinobesuch allein.

Weiterhin erstaunte es sie, dass so viele Menschen in den Kinosaal gefunden hatten, und sie musste grinsen, als die Frau vor ihr ihre Begleiterin schwärmerisch ansah, was die zweite mit einem Augenrollen quittierte. Doch an deren Mundwinkeln zupfte ein mildes Lächeln, ehe sie sich vorbeugte und der anderen einen Kuss auf die Lippen hauchte.

Sofort fühlte sich Gretel, als hätte sie einen intimen Moment gestört und ihr Blick senkte sich zu Boden, während sie der Schlange nach draußen folgte. Gleich würde die Luft weniger stickiger sein, dachte sie. Sobald sie aus der schwarzgestrichenen Flügeltür getreten waren und sich die Menschen vor ihr in die verschiedenen Richtungen verteilten.

Ihre Voraussage bewahrheitete sich und sie wollte sofort mit großeren Schritten zum Ausgang streben, als sie plötzlich unsanft angerempelt wurde und fast das Gleichgewicht verlor. Stattdessen umfasste ein fester Griff ihren Ellbogen, der verhinderte, dass sie zudem über ihre eigenen Füße stolperte. „Hoppla."

Die dunkle Stimme nahe ihres Schopfes, die trotz des Schwatzens der restlichen Kinobesucher zu ihr drang, verwirrte sie. Instinktiv drehte sie ihren Kopf in die Richtung der Quelle. Sie schaute in graue Augen, die in einem bärtigen Gesicht unter schräg hochgezogenen Brauen ruhten und von langen dunklen Wimpern umrandet wurden. „Entschuldigen Sie. Ich wurde auch geschubst."

„Kein ... kein Problem. Schon in Ordnung." Sie setzte ein Lächeln auf und bemerkte irritiert, dass sich ein Prickeln von der Stelle am Ellbogen in ihren restlichen rechten Arm ausbreitete. Doch der Mann zog seine Hand zurück und das Kribbeln erlosch genauso schnell, wie die Reaktion aufgeflammt war.

Sie strich sich reflexartig eine Strähne ihres Haares hinters Ohr und merkte, wie sein Blick der Bewegung folgte. Hastig ließ sie die Hand sinken und knetete ihre Finger. Was dem Mann ebenfalls nicht zu entgehen schien. Zumindest brauchte er ein bisschen, bis er ihr wieder ins Gesicht sah. „Waren Sie auch in Wolverine?"

„Wolver... Äh, nein. Ich war in der Neuaufführung von Pearl Harbour." Sie entdeckte, dass seine Augen zu Schlitzen wurden, als er lächelte und sein linker Schneidezahn ein bisschen über den rechts daneben geschoben war. Trotzdem grinste er breit und das bewog sie dazu, es zu erwidern. Dann brachte sie erneut ein heftiger Schubs ins Wanken. Sofort schoss die Hand des Mannes aufs Neue vor und stabilisierte sie wieder, während er murmelte, sie standen wohl im Weg.

Ein leichter Zug entstand, dem sie reflexartig nachgab und plötzlich befand sie sich am Rand, neben der Stahl-Absperrung, die einen Überblick über das Erdgeschoss des Baues freigab. „Entschuldigung. War Ihnen das Recht? Ich dachte nur ... sonst werden Sie wirklich noch von den Beinen geholt."

Sie konnte nur nicken und ihr Blick blieb wieder an den Augen hängen, in dessen Winkel sich leichte Lachfältchen abbildeten. Automatisch versuchte sie, abzuschätzen, wie alt dieser Mann wohl war. Sein dunkles Haar war von einigen silbrigen Strähnen durchsetzt, die einen schönen Kontrast in dem kurzen Herrenhaarschnitt setzten. Sein Mantel schien aus Wolle zu sein und wirkte elegant, was ebenfalls einen Widerspruch zu seiner Jeans bedeutete, die lockerer um seine Beine saß. Als er sich räusperte, flog ihr Blick wieder an ihm hoch zu seinem Gesicht. Wow, seine Augen sind wie flüssiges Silber, das einen warmen Glanz bekommt, weil sich Feuer drin spiegelt.

„Ich bin Niklas. Aber die meisten nennen mich einfach Nick." Aus einem Impuls heraus ergriff sie die Finger, die sich ihr entgegenstreckten und sie bemerkte, wie sich seine Mundwinkel wieder hochzogen, als sie ihm ihren Namen nannte.

„Gretel, also. Ein ungewöhnlicher Name für so eine junge Frau." Jetzt schnaubte sie automatisch, was das Lächeln in seinem Gesicht noch etwas breiter werden ließ. Was ihres wieder erwärmte.

„Alter liegt wohl im Auge des Betrachters und ist Sache des eigenen Befindens. Aber ja, so viele laufen nicht herum, die in meiner Generation so heißen." Sie zuckte mit den Schultern und bemerkte, wie nun seine Augen auf Wanderschaft gingen und kurz über ihre Gestalt strichen, ehe sie sich wieder auf ihrem Gesicht manifestierten.

„Demnach bin ich gerade um 20 Jahre jünger geworden. Denn um ehrlich zu sein, habe ich mich zwischen den ganzen Teenagern und Twens ziemlich alt gefühlt. Aber ich konnte mir als alter Comicsammler den Film trotzdem nicht entgehen lassen." Sie grinste automatisch und biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um nicht zusätzlich zu kichern. Dennoch hallte Bewunderung durch sie, dass er das so freimütig zugab. Ist ja nicht so, dass du das Gefühl nicht auch kennst. „Pearl Harbour also. Ist das nicht eine Schnulze?"

„Es ist eine Romanze, ja. In den verwirrenden, verzwickten Zeiten des Zweiten Weltkrieges. Ein Film darüber, wie grenzenlos und freimütig die Liebe sein kann. Du musst zugeben, das muss auch ein Mann gesehen haben." Sie zuckte abermals mit den Schultern, als ein nachdenklicher Ausdruck in seinen Augen erschien. Plötzlich nickte er und lächelte sie wieder an.

„So erklärt, ist das ein Film, den Mann auch angeschaut haben sollte." Jetzt konnte sie nicht mehr anders, als zu kichern. Sie bemerkte, wie das Silber in seinem Blick sich erneut erwärmte. Dann schaute er sich suchend um und Gretel trat automatisch einen Schritt zurück, als sie merkte, wie nah sie Nick war. So nah, um wahrzunehmen, dass sein Rasierwasser nach den frischen Noten eines Meeres riecht. „Bist du allein hier?"

Irritiert runzelte sie die Stirn, ehe sie leise zustimmte. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Brust jetzt doch für Sekundenbruchteile verkrampfte. Dabei wich sie seinem Blick ebenfalls kurz aus, ehe sie ein Lächeln zurück auf ihr Gesicht zwang und ihn anschaute. Sie registrierte, dass sein Konterfei sie nun wieder ernst musterte, ehe er schlicht nickte. Dann hob er seine Hand und strich sich durch sein Haar. Wieso fällt dir auf, dass da kein Ring an seinem Finger ist, Gretel? Und warum redest du mit ihm, obwohl deine Ringfinger nicht nackt sind?

Instinktiv verbarg sie ihre Rechte und schalt sich im selben Augenblick eine dumme Gans. „Wenn das so ist... Ich wollte eigentlich nach Hause. Ok, um ehrlich zu sein, wollte ich mich nicht in die Stille dort setzen, aber alleine noch was trinken gehen, wirkt immer irgendwie armselig, oder? Möchtest du mich begleiten?"

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Gretel - Das bin ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt