III - 11

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Alles in ihr zog sich zusammen und manifestierte sich als Brummen in ihrem Bauch, während Hendrik den Kopf langsam hob und sie nur anschaute. Es war seltsam und befremdend, wie schüchtern er gerade wirkte, und Gretel schluckte hart, als er langsam eine Hand um ihr Gesicht legte ohne sie aus den Augen zu lassen.

Wollte sie ihn wirklich? Der Schauer, der nach wie vor auf ihrem Rücken tanzte, beantwortete die Frage klar mit einem Ja. Ihr Herz, das einen Schlag nach dem nächsten verpasste, auch. Jedoch rümpfte sie automatisch die Nase, als sein Mund in Zeitlupe näher kam, um sie zu küssen.

Sie merkte, wie Hendrik erstarrte, als hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben. Taumelnd wich er zurück und starrte sie an. Händeringend suchte sie nach einer Erklärung, die ihm verdeutlichte, was in ihr vorging, doch es fiel ihr keine ein. Zumindest keine Diplomatische. „Ich kann das nicht, wenn du nach Wodka stinkst, Hendrik. Das widert mich an."

Seine Augenbrauen ruckten zusammen und zwischen ihnen bildete sich eine Falte, während er seinen Blick auf seine Füße senkte. Das Ticken der Uhr über ihm schluckte seine Zustimmung fast, so leise war sie. Trotzdem ätzte sie sich in Gretels Gehör.

Sie beobachtete, wie er sich langsam abwandte und aus der Küche schlurfte und schloss die Augenlider, um die Tränen dahinter in Schach zu halten. Doch dann wurde die Haustür ins Schloss geworfen. Gretel zuckte zusammen und riss die Augen auf, ehe sie in den Flur hastete und dort ihr offenes Portemonnaie am Boden liegen sah.

Sie bückte sich und kontrollierte es, ehe sie den Kopf sinken ließ. Er hatte alles bis auf ihr Münzgeld mitgenommen. Als die Reifen eines Wagens quietschten, fuhr nochmal ein Ruck durch sie und sie hechtete zur Haustür. Sie riss sie auf und stellte erleichtert fest, dass ihr Auto noch vor der Garage parkte. So, wie sie es abgestellt hatte. Doch von Hendrik war nichts mehr zu sehen.

Kurz spielte sie mit dem Gedanken, ihn zu suchen. Aber sie verwarf ihn fix wieder. Er war zu enttäuscht, um mit ihr zu reden. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch keine Kraft, um sich gerade mit ihm auseinanderzusetzen. Trotzdem schnürte es ihr die Kehle zu, als sie ins Innere wankte und die Tür mit zittrigen Fingern schloss. Sie konnte einfach nicht mehr.

Sie rutschte mit dem Rücken an der Wand zu Boden und schaukelte vor und zurück, um sich irgendwie zu beruhigen. Sie würde ihn verlieren. All die Hoffnung, dass sie ihre Ehe retten würden, war so weit außer Reichweite geraten, dass es ihr immer schwerer fiel, daran festzuhalten. Jetzt brachen all die Tränen hervor, die sie sich seit Wochen versagte. Seitdem hatte sie Hendricks Ausreden durchschaut, die er dazu genutzt hatte, seinen Alkoholkonsum zu rechtfertigen.

Da war ein Stück von ihr abgesplittert. Es war zu viel. Schon es vor Florian geheimzuhalten, dass sein Papa ein ernstzunehmendes Problem hatte, brachte sie an ihre Grenzen. Sie zog die Beine an die Brust und legte ihre Arme darauf, ehe sie ihren Kopf dort bettete. Wie sollte sie das nur weiter durchstehen?

Sie hörte ihr Schluchzen von den Wänden widerhallen und wollte sich die Hände auf die Ohren pressen. Sie war doch die Starke. Das jedenfalls ließ sie jeden glauben. Nur Hendrik hatte ihre Abgründe kennengelernt und wusste, wie es aussah. Oder hat es gewusst. Der Gedanke hallte durch ihr Hirn und drückte noch mehr auf ihre Brust. Nicht mal während er im Einsatz gewesen war, hatte sie sich so einsam gefühlt wie im Moment.

Wie sollte sie Hendrik und sich aus dieser Krise führen, wenn sie kaum mehr Sauerstoff hatte, um überhaupt noch Luft holen zu können? Sie wusste, dass sie ihn liebte. Oder zumindest den Mann, der sich hinter dem Wodka verbarg. Würde er je wieder zu ihr zurückkehren? Ein Gedanke nach dem anderen setzte sich auf eins der hübschen Holzpferdchen auf ihrem Gedankenkarussell und drehte in ihrem Hirn seine Runden. Jeder Einzelne winkte ihr hämisch zu, während sie versuchte, sich irgendwie zu beruhigen.

Doch der Tränenstrom lief so lange weiter, bis sich ihre Kehle ganz wund anfühlte und ihre Wangen vom Salz zu brennen begannen. Aber selbst als sie keine Tränen mehr zu haben schien und ihr Mund schon staubtrocken war, schluchzte sie noch trocken und erbebte unter der Wucht ihrer aufgestauten Gefühle.

Irgendwann erstarb auch das. Erschöpft ließ Gretel den Kopf auf ihrem feuchten Pullover liegen und spürte der Leere in ihr nach. Sie fühlte sich weiterhin an, als wollte sie sie verschlingen. Doch das kann sie nur, wenn du aufhörst zu kämpfen. Abrupt blitzten diese Worte in ihrem Kopf auf und sie riss die Augen auf. Überrascht stellte sie fest, dass das Halbdunkel des Januartages der Finsternis gewichen war und nur noch ein fahler, kaum wahrnehmbarer Schimmer der Straßenlaterne durch das Glasfenster der Haustür drang.

Sie war am späten Nachmittag zurückgekommen, also wie lange saß sie hier? Verdattert schüttelte sie den Kopf, ehe sie sich über die Wangen wischte. Sie waren trocken, dennoch hatte sie das Gefühl, als würde sie die salzigen Krusten ihrer Tränen auf ihrem Handrücken fühlen. Ein Seufzen brach über ihre Lippen, die sich ungewöhnlich spröde anfühlten. Sie zog die Brauen zusammen und leckte sich über die Unterlippe, schmeckte aber nur Schnodder und salzige Tränen.

Reflexartig zuckte sie mit den Schultern. Sie war zu erledigt, um sich davor zu ekeln. Mühselig stützte sie sich am Boden ab und hievte ihre steifen Knochen hoch. Ihr wurde leicht schwindlig und sie wusste, dass sie wieder einmal vergessen hatte, ausreichend zu essen. Oder überhaupt zu trinken. Mit wackligen Knien schlurfte sie zurück in die Küche, wo die Tüte sie an die kurze Szene erinnerte, in der sie so etwas wie Hoffnung gehabt hatte.

Schnell schob sie die Wehmut beiseite und verstaute mit bedächtigen Bewegungen die restlichen Lebensmittel, ehe sie den Kühlschrank öffnete und direkt aus der Flasche einen kräftigen Schluck Cola nahm. Unwillkürlich schüttelte sie sich, weil die Kohlensäure in dem Getränk sich längst verflüchtigt hatte und der schale, übersüße Geschmack sich in ihrem Mund breitmachte. Trotzdem zwang sie sich, noch einen großen Schluck zu nehmen. Irgendwie musste sie ihren Blutzucker pushen und ihr fehlte die Muße sich jetzt etwas zu essen zu machen.

Erneut lief ihr ein Schauer über den Rücken und sie goss den Rest der Flasche in den Ausguß, ehe sie diese einfach daneben stellte. Sie wollte sich jetzt nur noch verkriechen und sich eine Decke über den Kopf ziehen. Sich vor allem verstecken. Kurz überlegte sie, ob sie ins Bett gehen sollte. Aber sie war sich nicht sicher, ob Hendrik seine Hausschlüssel mitgenommen hatte, also schlurfte sie zum Sofa. Ihr Blick blieb am halbgefüllten Glas und einer Wasserflasche hängen und sie runzelte die Stirn.

Sie schraubte den Deckel der Flasche ab und roch daran. Der beißende Alkoholgeruch trieb ihr die Tränen in die Augen und sie nickte. So war es ihm also gelungen. Plötzlich von rasender Wut gepackte, fegte sie das Glas vom Couchtisch und hörte mit Genugtuung, wie es an der Wand zwischen Wohnzimmer und Flur zersprang.

Nachdem auch dieser Song endete, machte sie sich mit den Worten von ihrem Sohn los, dass er sich jetzt aber wieder um seine Frau kümmern sollte, sie müsse ohnehin mal wohin. Sie erlaubte sich jedoch noch, auf die Zehenspitzen zu gehen und ihm einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Das schmälerte die Besorgnis in seinen Augen wenigstens etwas.
Während sie zu ihrem Tisch lief, um ihre Tasche zu holen, meinte sie seinen Blick noch im Rücken zu spüren, doch sie drehte sich nicht nochmal zurück. Gerade war es zu viel und sie brauchte ein wenig Luft. Wieso hatte sie Florian nicht geantwortet, dass sie sich trotz der Vergangenheit weiterhin nach Liebe sehnte?
Sie war doch sonst nicht so auf den Mund gefallen. Dennoch hatte sie geschwiegen und sich stattdessen wieder mit den Erinnerungen befasst, die sie immer weiter weg von der Gegenwart trugen. Das konnte nicht so weitergehen, sagte sie sich, während sie den Saal mit den feiernden Gästen verließ.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now