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So habe ich doch einen kleinen Beitrag zu ihrer Unabhängigkeit geleistet, ohne dass die beiden bis heute davon wüssten. Dieser Gedanke erheiterte Gretel, während sie sich aus der Kirchenbank schob und hinter den Frischvermählten das Gotteshaus verließ. Natürlich hatten sich Annas und Florians Freunde ein kleines Spektakel für direkt nach der Trauung überlegt und blockierten mit einem riesigen Leintuch den Ausgang zum Kirchengelände. Auf dem Stoff prangte ein riesiges rotes Herz und Gretel grinste, als Larissa ihrer besten Freundin eine Nagelschere aushändigte. Anschließend gab sie Florian ebenfalls ein Exemplar und wies die beiden an, dass sie das Herz ausschneiden mussten, ehe sie in ihr neues Leben passieren dürften. Gretel beobachtete, wie das Brautpaar dieser Forderung lachend nachkam – unter den lauten Anfeuerungsrufen der restlichen Anwesenden. Dabei huschten ihre Gedanken zu einer weiteren Station in ihrem Leben, die für Flo, Anna und sie einen anderen Neuanfang markiert hatte...

Was für eine unmögliche Frau! Gretels Blick blieb an Saskias Mutter hängen, die gerade ziemlich unter Annas Gürtellinie gefeuert hatte und sie unterdrückte den Impuls, mit dem Kopf zu schütteln. Sie war wirklich froh, dass Flos Freundin diesen Spruch nicht mehr abbekommen hatte. Würden Saskia und Florians Freund Erik nicht so beschämt dreinsehen, würde sie wahrscheinlich ihren Senf dazu geben. Aber so schwieg sie nur angestrengt und hoffte, dass Flo seine Anna beruhigen und sie so einen trotzdem schönen Abiball verleben konnten.

Doch leider sah es nicht danach aus, als ihr Sohn sich ohne seine Freundin einen Weg durch die dichtgedrängten Tische im Tanzsaal bahnte. Eher sah er aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Was wohl bedeutet, dass Anna geflüchtet ist und ihm verboten hat, ihr zu folgen.

Ihr Herz verkrampfte sich noch mehr, als ihr Sohn sich neben ihr auf seinen Stuhl fallenließ und betrübt auf seinen weiterhin gefüllten Teller starrte, ehe er ihn wegschob. Reflexartig lüpfte Gretel ihre Brauen. Wenn sogar Florian der Appetit vergangen war, war es übel. „Kommt Anna nicht mehr?"

Die Augen ihres Sohnes wanderten zu Erik, der die Frage gestellt hatte, ehe er seine Ex Saskia anblitzte. „Nein. Sie hat die Nase voll. Es ist genauso ihr Abschiedsball, verdammte Scheiße. Dazu unser Jahrestag. Und sie verbringt den Abend jetzt lieber allein zuhause. Vielen Dank auch."

Gretel bemerkte, wie Saskia unter ihrem Make-up erblasste und legte beschwichtigend die Hand auf den Unterarm ihres Sohnes. „Möchtest du nach Hause?"

Nun drehte Florian ihr sein Gesicht zu und er zuckte mit den Schultern, ehe er mit dem Kopf schüttelte und seufzte. Dennoch schob er kurz seine Unterlippe trotzig vor. „Anna hat gesagt, ich soll mit dir den Abend genießen. Immerhin ziehen wir bald weg und sie sagt, wir sollten meinen Abschluss zusammen verbringen. Und das will ich auch. Ich will mit dir feiern, dass wir es geschafft haben, dass sogar ich ein Abi bekommen habe. Ohne dich wäre das schließlich kaum möglich gewesen."

Sie legte den Kopf schräg und strich ihm reflexartig über seine Wange, ehe sie die Finger schnell wieder zurückzog. Sie wollte ihn nicht blamieren, obwohl Flo kein Wort darüber verlor. Stattdessen setzte er ein schiefes Lächeln auf und griff nach ihrer Hand. Ihr Herz verpasste einen Schlag, weil ihr bewusst wurde, dass jeder am Tisch diese Geste sah. Ihr Mund wurde trocken, während sich ein Flattern in ihrem Bauch ausbreitete, als Florian anfügte, er hätte sich nie dafür bedankt.

Sie konnte nur stumm mit dem Kopf schütteln, sonst wären die Tränen hervorgebrochen, die sich in ihrem Blick sammelten und dort ausharrten, um ihrer Rührung Ausdruck zu verleihen. Sie sah ihre Gefühle in seinen Augen gespiegelt und darum war es nicht verwunderlich, dass ihr Sohn sich räusperte und den Blickkontakt unterbrach. Mit einem Seufzen entzog er ihr seine Finger und zog seinen Teller zurück zu sich. Das Essen darauf war bestimmt schon eiskalt, doch Florian aß es still.

*

Die Musik dröhnte mittlerweile durch den großen Saal und die Tanzfläche füllte sich immer mehr. Die Situation am Tisch hatte sich wenigstens etwas entspannt. Seit sie Saskias Eltern ausblendeten, die sich weiterhin über allen und jeden aufregten.

Gretels Blick blieb an dem Mädchen kleben, dass nachdenklich geworden zu sein schien und mit dem ungenutzten Dessertlöffel Falten aus dem weißen Tischtuch glättete. Sie beobachtete, wie Erik offenbar versuchte, Saskias Aufmerksamkeit zu bekommen, und musste leicht lächeln, als das Mädchen den Blick schließlich hob und sie die Zuneigung förmlich greifen konnte, die sich zwischen den beiden aufbaute. Genau das hat mir gefehlt, als Flo und Saskia ein Paar gewesen sind.

Ihre Augen wurden zurück zu ihrem Sohn gelenkt, als der seufzte und sich mit einem Seitenblick auf sie durch seine halblangen blonden Haare strich. „Wollen wir tanzen, Ma? Ich wollte mit Anna über die Tanzfläche wirbeln, aber ... so bist du meine Tanzpartnerin heute."

Sie nickte, während ein Zucken durch ihren Körper ging und grinste reflexartig, als ihr Sohn von seinem Stuhl sprang und ihre Finger ergriff. Er zog an ihrer Hand und sie erhob sich nur zu gerne, um ihm zu folgen. Kurz flackerte das Bild von Hendrik in ihrem Blick auf, der sie nach ihrem gemeinsam absolvierten Schultanzkurs ebenso durch die dichtgedrängten Tische manövrierte, um sich mit ihr den tanzbaren Melodien hinzugeben.

Ihr Seufzen wurde von der Musik verschluckt und sie ließ es sich nur zu gerne gefallen, wie sich der Arm des jungen Mannes vor ihr um ihre Taille legte. Sie lächelte Florian an und bemerkte, den konzentrierten Gesichtsausdruck mit den Falten über seiner Nase. Sie zwang sich, in der Gegenwart zu verbleiben, und ließ sich von ihrem Sohn über die Tanzfläche schieben.

Nach einer Weile hatte Flo seinen Takt gefunden und sie passte sich seinen Schritten an, die mittlerweile flüssiger über den polierten Holzboden schwebten. Auch die Anspannung im Körper ihres Sohnes hatte sich inzwischen gelegt und er war lockerer. Erneut drang ein Seufzen aus ihrem Mund, als Florian sie näher zog und sie sich in seine Arme schmiegte. Sie erstickte ihr Keuchen, als er einen Schritt verpatzte und auf ihren Fuß trat. „Sorry."

„Schon ok, du machst das gut." Sie bemerkte, wie seine Augen amüsiert funkelten, als er sich etwas zurückbeugte, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Reflexartig grinste sie zurück und zuckte mit den Schultern. Sie merkte nur zu deutlich, dass er an ihren Worten zweifelte. Doch schließlich nickte er und zog sie wieder näher. Sie genoss es so sehr, wie sie sich, getragen von Ed Sheerans Afterglow, inmitten der anderen Tanzpaare, durch den Raum bewegten.

Sie widerstand dem Drang, die Augen zu schließen, und ließ die restlichen Anwesenden, die um die Tische am Rande der Tanzfläche saßen, zu verschwommenen Schemen werden. Sie wollte diesen Abend mit allen Sinnen genießen und keinen Moment verpassen. Ihr Sohn war jetzt ein junger Erwachsener, der zu bald sein Heim verlassen und sich ein eigenes aufbauen würde. Da ist das leichte Schwindelgefühl ein geringer Preis für diese Minuten.

Irgendwie war dieser Moment wie das Leben, dachte sie unwillkürlich und schüttelte aus einem Impuls heraus kaum merklich mit dem Kopf. Auch das rauschte an ihr vorbei wie die Schemen am Rande der Tanzfläche, eingehüllt von bunten Lichtern, die über ihre Körper blitzten und getragen von einer lieblichen Tonfolge, die Sehnsucht in ihr weckte.

Plötzlich ging ein Ruck durch sie und sie verpasste einen Schritt. Sie merkte, wie sie erblasste, während sie beinahe über Florians Füße stolperte. Da saß er. Ein Geist aus der Vergangenheit und drückte seiner Begleiterin einen Kuss auf die Lippen. Sie schluckte hart und konnte den Blick nicht von der Szene abwenden. „Ma? Kennst du den?"

Hastig verneinte sie und eiste ihre Augen von dem Gesicht los, das jetzt häufiger durch ihre Gedanken blitzte und das sie immer wieder von sich schob. Doch er war es, erkannte sie und merkte überrascht, wie ihr die Brust eng wurde, während sie ihren Sohn erneut anschaute. Hastig setzte sie ein Lächeln auf, entschuldigte sich für ihre Unachtsamkeit und passte sich wieder seinen Schritten an, nachdem Flo ihr die Lüge abgekauft hatte. Er hat mich nicht gesehen und das ist gut so. Er ist nur irgendjemand. So wie ich irgendwer bin.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now