IV - 11

6 4 6
                                    

Kopfschüttelnd und amüsiert schaute Gretel Anna nach, die gerade murrte, dass sie noch keine Gelegenheit gehabt hatte, endlich aus den Scheiß-Absatz-Schuhen und in ihre bequemen Sneaker zu schlüpfen. Langsam setzte sie sich ebenfalls in Bewegung und mischte sich zurück unter die Gäste.
Dabei erspähte sie Anna, die sich gerade auf ihre Zehenspitzen stellte und ihren Mann küsste. Kurz darauf flog Florians Blick zu ihr und sie merkte, wie sich ihre Brust zuzog, weil er sie interessiert musterte. Hatte Anna irgendwas an ihrer Reaktion erahnen können? Gab es überhaupt irgendetwas zu erahnen?
Um ihre Nerven zu beruhigen, griff sie nach einem der Sektflöten, die nun erneut auf Tabletts von Servicekräften durch die Menge getragen wurden. Sie würde sich jetzt nicht mehr ablenken lassen, schwor sie sich und trank einen Schluck, um ihre plötzlich ausgedörrte Kehle zu befeuchten. Doch kaum rann die Flüssigkeit ihren Rachen hinunter, blitzte erneut das Bild von Erika in ihren Gedanken auf.

Sie sah im Augenwinkel, wie Hendrik ihrem Gegenüber aufmunternd zunickte, und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Ihr Herz klopfte laut und wild in ihrer Brust. Seit diesem Gespräch auf der Terrasse waren einige Wochen vergangen und es war inzwischen klar, dass sie nicht auf biologischem Wege Mutter werden konnte. Sie würde niemals ein Kind unter dem Herzen tragen und deswegen hatte sie nochmal die eine oder andere Träne vergossen.

Hendrik hatte mit ihr geweint und sie getröstet. Doch genauso war er immer wieder ins Schwärmen geraten, dass eine Adoption zwar nicht vergleichbar, aber dennoch sinnvoll wäre. Allmählich hatte sie sich von den Schwärmereien anstecken lassen, auch, wenn sie weiterhin enttäuscht war, dass ihre Hoffnungen zu Staub zerfallen waren.

„Hallo Erika. Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mich kennenzulernen", sagte sie und nahm auf dem Stuhl neben Hendrik Platz, der gegenüber seiner Informantin stand.

„Ja, natürlich. Hendrik, also, äh, Herr Gruber, hm ... Sie wollen vielleicht mein Baby zu sich holen?"

„Das könnte sein, ja. Wie geht es Ihnen?", fragte sie und Erika sah sie überrascht an.

Dann nickte sie und meinte: „Ach so. Ja. Also, es geht mir gut. Ich nehm keine Drogen oder so und der Arzt ist sehr zufrieden. Das Baby wächst, wirkt gesund, sein Herz schlägt normal und ich... Ich hab Ultraschallfotos mitgebracht. Ich lass immer einen machen, obwohl das schon teuer ist, aber na ja, ich will ja wissen, ob es dem Kind gutgeht ... hm."

Sie beobachtete, wie die junge Frau vor ihr nervös in ihrer Umhängetasche kramte und kurz darauf förderte sie ihren Mutterpass zutage, aus dem ein paar weiße Ecken in etwas Schwarzem mündeten und schluckte.

Erika pfriemelte die Bilder hervor und sie zwang sich, zu antworten: „So meinte ich das nicht. Hendrik hat mir schon gesagt, dass Sie keine Rauschmittel konsumieren und Sie auf sich aufpassen. Hm, ich wollte darauf hinaus, ob Sie sich sicher sind, dass Sie das Baby wirklich abgeben wollen."

Gretel bemerkte, wie Erikas Blick zu Hendrik flirrte, der ihr zulächelte und erneut ermutigend nickte. Was die junge Informantin bewog, aufs Neue sie zu fixieren und zu nicken. Sie registrierte, dass ihr Gegenüber automatisch eine Hand auf die Stelle legte, unter der der Fötus heranwuchs und spürte einen leichten Stich. Ihre Freundinnen, die schon Kinder hatten, hatten das immer ebenso gemacht. Nichts als ein simpler Automatismus, sagte sie sich und ermahnte sich, ihr Lächeln beizubehalten.

„Ja, da bin ich mir sicher. Ich hätt's auch wegmachen lassen können, aber ... es ist ein Mensch. Ich hab drüber nachgedacht, ich konnt's nicht. Wäre besser gewesen ... auf den Job bezogen, weil ... hm, viele ... äh ... Besucher das nicht wollen."

Sie merkte, dass es Erika unangenehm war, über ihren Beruf zu sprechen, dennoch fügte sie an: „Langsam sieht man's, aber ... ich wollte das nicht. Behalten kann ich's trotzdem nicht. Kann nicht wirklich dafür sorgen und ... hm ... Ich glaube nicht, dass es gut ist für ein Kind. Ich weiß, manche behalten die Babys, das müssen die selbst wissen, aber ich ... Ich will nur, dass es gute Eltern hat."

Sie stimmte leise zu und schaute reflexartig auf die Bilder, die Erika vor ihr ausgebreitet hatte. Der unscheinbare Fleck sah schon aus wie eine Kaulquappe. Das war ein Mensch in seinen Anfängen. Unfassbar, wenn sie sich das Abbild so anschaute.

„Hendrik hat gesagt, dass Sie keine Kinder bekommen können und..." Nun flog ihr Blick zu ihrem Mann und sie starrte ihn an, während er schluckte und nach ihrer Hand griff. Er gab solche Informationen weiter? Einfach so? Er wirkte nun zwar zerknirscht, aber ...

„Oh ... äh ... Entschuldigung. Das hätte ich jetzt wohl nicht ... tut mir leid", hörte sie und wandte ihr Gesicht wieder Erika zu.

„Schon ok. Nein, offensichtlich bin ich nicht in der Lage, unseren Traum von einer kinderreichen Familie zu erfüllen", erwiderte sie und bemerkte selbst, wie scharf ihre Stimme klang.

„Liebling, das ist ok und das weißt du", murmelte Hendrik und sie nickte, obwohl sie kaum besänftigt war.

Sie wollte keine Szene machen. Und im Grunde war es ja logisch, dass sie keine Kinder bekommen konnten, sonst würde dieses Treffen nicht stattfinden, sagte sie sich, konnte sich aber einen giftigen Blick zu Hendrik nicht verkneifen.

Die Schultern ihres Mannes sackten noch ein Stück vor und er wirkte nun ehrlich geknickt, während Erika fragte: „Ja, also, hm. Denken Sie, Sie können meinem Baby eine Mutter sein? Hendrik hat erzählt, dass sie Kinder lieben und echt traurig sind, weil..."

Nun schnappte sie doch nach Luft. Nicht genug, dass er einer Fremden, einer Nutte, einer Informantin berichtete, was in ihrem Leben so ablief, nein, er trat auch noch breit, wie sie sich dabei fühlte? Als wäre es nicht demütigend genug, in ihrem Freundeskreis Rede und Antwort zu stehen!

Zumindest bei denen, die von der Hormontherapie und den künstlichen Befruchtungsversuchen gewusst hatten. Von jenen sie diesen mitleidigen Blick ertragen musste, der ihr nun auch bei Erika entgegensprang.

„Entschuldigen Sie mich bitte", sagte sie mühsam um Beherrschung ringend und erhob sich, um kurz an die frische Luft zu gehen.

„Gretel", hörte sie Hendrik hinter sich sagen und sie weigerte sich, darauf einzugehen, obwohl sie den flehenden Unterton seiner Stimme wahrnahm.

Das ging gerade nicht. Sie konnte seine Betroffenheit nicht auch noch ertragen. Also stapfte sie vor dem Café aufgewühlt auf und ab, während sie versuchte, nicht loszuheulen. Dass Hendrik überall ihr Seelenleben auszubreiten schien, setzte ihr echt zu. Gerade wollte sie wieder kehrtmachen, als ihre Aufmerksamkeit von der Szene hinter der Schaufensterscheibe erregt wurde.

Wie gebannt schaute sie zu, wie Erika und Hendrik sich gestenreich unterhielten. Ein komisches Bauchgefühl beschlich sie, aber sie schob es beiseite. Klar, dass die beiden einen guten Draht zueinander hatten. Immerhin war sie eine wertvolle Informantin und hatte schon so manchen Fall im Milieu vorangetrieben. Das verband mit Sicherheit, oder nicht?

Du bist nicht ganz dicht, Margarethe! Er liebt dich und sie ist nicht mehr als eine Quelle! Die Zeiten, in denen er unter jeden Rock guckte, sind vorbei! Deine kindische Eifersucht kannst du dir schenken! Er möchte mit DIR eine Familie gründen und ihr helfen! Eine Win-Win-Situation', wiederholte sie die Worte, die Hendrik ihr unzählige Male vorgebetet hatte, und sie nickte automatisch.

Als ihr Mann sich plötzlich abwandte und zur Tür lief, riss sie sich aus ihrer Starre. Sie machte auf dem Absatz kehrt und wollte gerade ihren Weg wieder aufnehmen, als sie gegen Hendrik prallte.

„Gretel..."

„Nein, sag kein Wort", forderte sie, kehrte ihm den Rücken und fuhr dann doch auf: „Wie kannst du es wagen, über mein Seelenleben zu tratschen, als wäre es die Wettervorhersage von morgen?"

*******************************

Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now