IV - 1

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Erneut machten Gretels Gedanken einen Zeitsprung und als sie erkannte, wo sie sich befand, fuhr aufs Neue ein scharfer Stich durch ihr Herz. Letztlich hatte sie die Tatsache akzeptiert, dass sich ihr Herzenswunsch eines leiblichen Kindes nie erfüllen konnte.
Während sich automatisch ihre Mundwinkel hochzogen, als Flo mit schlammüberzogenem Trikot auf die Wand gestrahlt wurde, hallte gleichzeitig ein Dank durch ihren Kopf. Dennoch erinnerte sie sich noch zu gut daran, wie schmerzhaft die Zeit gewesen war, ehe sie sich ihrem Schicksal fügen und voranschreiten konnte. Wie viel Angst sie doch gehabt hatte...

„Ich bin zuhause, Liebling! Ich hab uns was vom Chinesen mitgebracht...", hörte sie und konnte sich nicht aufraffen, Hendrik zu begrüßen.

Stattdessen vernahm sie, wie die Tür ins Schloss fiel und wie sich seine Schritte näherten, während der Geruch vom Essen das Wohnzimmer füllte, in dem sie auch ihren Esstisch stehen hatten. Sie mochte den großen lichtdurchfluteten Raum, an den die Terrasse anschloss, die sie über ein paar Stufen in den Garten brachte - ihrem Refugium.

Der Ort, an dem sie sonst aufatmen konnte, spätestens, wenn sie die Hände in die Erde schob und sie auflockerte oder ein Loch buddelte, um ein neues Pflänzchen darin zu versenken. Wenn sie Humus als Nahrung und Rindenmulch zum Schutz ihrer Pflanzen in den Beeten verteilte. Dann konnte sie durchschnaufen. Doch heute hatte nicht mal das den Druck auf ihrer Brust verringern können.

„Gretel? Ist alles ok?", fragte Hendrik sie nun und ging vor ihr in die Hocke.

Seine blauen Augen bohrten sich ihre und sie konnte nur daran denken, wie toll er in seiner Polizeiuniform aussah. Die Lederjacke stand ihm so gut und betonte sein dunkles Haar, das so gut zu seinen Iriden kontrastierte. Sie hatte sich in seine Augen verliebt, in dessen Winkeln schon jetzt leichte Lachfalten waren. Sie liebte sein Lachen. Würde sie es noch so oft hören, wenn sie ihm gestand, dass sie ihm nicht schenken konnte, was er sich so wünschte?

„Margarethe! Ich würde gerne wissen, was los ist", stellte Hendrik fest und riss sie damit aus ihren Überlegungen.

Sie hatte weiterhin das Gefühl, als sei sie ihn Trance. Seit sie die Worte vernommen hatte, der ihren Traum zum Platzen gebracht hatte. Seitdem versank sie in dieser Blase, in die zumindest noch Licht gefallen war, solange sie Hoffnung gehabt hatte. Doch die war unwiderruflich gestorben. Sie merkte, wie wieder Tränen in ihre Augen stiegen. Sie würde Stein und Bein schwören, dass sie nie zuvor so viel geheult hatte wie heute.

„Gretel, was ist los, Liebling? Rede mit mir."

„Ich war beim Arzt", brachte sie mühsam heraus und sah, wie Hendrik blass wurde.

„Was? Liebling ... du bist nicht krank oder so?"

„Ich wünschte, ich wäre krank. Das wäre die bessere Alternative. Dagegen könnte man kämpfen", hauchte sie und spürte, wie der Damm brach.

Erneut wurde sie von der schieren Verzweiflung überrollt. Wie von Wellenbrechern, die sie hinabrissen in die Tiefen der See, in der es kein Licht und keinen Sauerstoff gab. So fühlte sie sich: Als müsse sie unter Wasser atmen und würde hilflos mit den Armen rudern, um wieder an die Oberfläche zu kommen.

„Liebling, sag doch sowas nicht, hm? Nichts kann so schlimm sein."

Sie spürte, wie Hendrik sie auf seinen Schoß zog und seine Arme sie umfingen, während sie der Tränenflut nichts mehr entgegensetzen konnte. Nicht mal sein Geruch konnte sie beruhigen, als sie die Nägel in seine Jacke jagte, um sich irgendwo festhalten zu können. Sie hatte sich vorgenommen, nicht egoistisch zu sein. Sie würde ihm freistellen, zu gehen. Sie liebte ihn zu sehr, um seinem Glück im Wege stehen zu wollen.

Aber allein der Gedanke, nicht mehr neben ihm aufzuwachen, brachte sie um den Verstand: Seine Wärme nicht weiter unter ihrer Wange zu fühlen oder zu spüren, wie er sich nach der Nachtschicht noch kurz an sie kuschelte, bevor sie endgültig aufstehen musste. Sie hörte, wie Hendrik ihr zuflüsterte, egal, was los wäre, sie würden eine Lösung finden. Doch für ihr Problem gab es keine Klärung. Sie hatte sich so danach gesehnt, all das zu fühlen, was ihre Freundinnen erlebten oder bereits erfahren durften.

„Sag mir, was es ist, Liebling. Ich schwöre dir, dass wir einen Weg finden..."

„Ich kann keine Kinder bekommen, dafür gibt es keine Lösung", brach gewaltsam über ihre Lippen und sie spürte, wie seine Hand erstarrte, die noch kurz zuvor sanft über ihren Rücken gestreichelt hatte.

Er würde gehen, oder? Er hatte sich ebenso gewünscht, dieses Haus mit dem Lachen von Kindern zu füllen. Vor drei Jahren hatten sie sich auf den ersten Blick in das Reihenmittelhaus verliebt, dass sie gekauft hatten. Sie hatten es mit Liebe eingerichtet und sie hatte den Garten angelegt, in ihrem Kopf schon eine genaue Vorstellung, wo das Spielhaus für den Nachwuchs stehen sollte. Aber jetzt würde da nie ein Spielturm mit Sandkasten sein.

Der Schmerz darüber tobte in ihr und sie hatte das Gefühl, mitten in einem Feuergefecht zu stehen, getroffen von den vielen Kugeln aus den Schnellfeuerwaffen, die ihre Hoffnungen, Wünsche und Träume darstellten. Sie hatte sich nie etwas so gewünscht, wie Mutter zu werden. Sie war so glücklich gewesen, dass der Mann, in den sie sich so verliebt hatte, diesen Traum auch hatte. Doch genau das fiel ihr jetzt offenbar auf die Füße.

„Es gibt immer eine Lösung, Liebling. Wir müssen sie nur finden", hörte sie und schüttelte den Kopf.

„Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Behandlungen wirken, liegen bei unter zehn Prozent", erzählte sie schluchzend und vernahm, wie er schluckte.

Doch dann fing er sich und raunte: „Aber das heißt auch, es ist nicht komplett ausgeschlossen."

„Das sieht mein Arzt anders."

„Aber er hat dir doch offenbar gesagt, dass es Möglichkeiten gibt..."

„Du verstehst nicht, Hendrik! Die Wahrscheinlichkeit, dass ich dir jemals ein Kind schenken kann, liegt bei etwa sechs Prozent! Und das mit verdammter Behandlung!"

Die Verzweiflung schlug nun in Wut um und sie schob sich von seinem Schoß. Wollte er das nicht begreifen? Dass sie im Grunde nicht fähig war, ihnen ihren Traum von einer großen Familie zu ermöglichen? Was war daran nicht zu verstehen? Sie wollte sich nicht an irgendeine Hoffnung ketten, die sich aller Wahrscheinlichkeit NICHT erfüllen konnte? Wieso hielt er jetzt daran fest?

„Gretel, ganz ruhig, ok?"

„Sag mir verdammt nochmal nicht, ich soll ruhig bleiben! Geh! Such dir eine andere Frau, die dir deinen Wunsch erfüllen kann! Denn ich kann es zum Teufel nicht!"

Sie konnte nicht ertragen, wie fassungslos er sie nun ansah und deswegen beeilte sie sich, aus dem Zimmer zu kommen. Jetzt verpuffte die Wut wieder und während sie über den Flur lief, der eine breite Holztreppe beherbergte. Diese sollte ins Stockwerk mit den Kinderzimmern führen. Sie waren groß genug, um jeweils zwei Kinder zu beherbergen.

Zumindest anfangs, bis ihre vier Kids zu groß waren, um sich ein Zimmer zu teilen. Danach hatten sie den Dachboden ausbauen wollen, indem man hätte auch bequem zwei Räume unterbringen können. Im Moment war eines davon noch ihr Schlafzimmer, also eilte sie die Treppe hinauf, während sie hörte, dass Hendrik ihr nachsetzte. Sie konnte das jetzt nicht.

‚Es war alles Schall und Rauch', erinnerte sie sich und erneut spürte sie, wie ihr Herz zersplitterte.

„Gretel, das lasse ich jetzt nicht so stehen", vernahm sie und schlüpfte ins Schlafzimmer.

Schnell drehte sie den Schlüssel herum und warf sich aufs Neue den Tränen nahe aufs Bett, während sie hörte, dass ihr Mann gegen die Tür pochte und sie um Einlass bat. Sie schob sich das Kissen über den Kopf und als Hendriks Geruch sie einhüllte, brach sie erneut zusammen.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now