IV - 7

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Nun holte Larissa Anna aus der Menge und ihre Schwiegertochter strahlte ihre Freundin an. Sie stimmte selbstsicher in den Song ein und Gretel lächelte, als sie sah, wie die Augen ihres Sohnes seine Frau förmlich liebkosten.
Die zwei waren so toll zusammen und hatten jede Klippe umschifft, die sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Sie war so stolz auf die beiden, denn sie musste zugeben, dass sie sich manchmal gesorgt hatte, wie viel ihre junge Liebe ertragen konnte.
Dennoch hatten sie es geschafft. Auch Hendrik und sie mussten kämpfen. Und waren erfolgreich gewesen. Immer wieder. Trotzdem zitterten ihre Hände nun ein bisschen, als sie sich daran erinnerte, dass seine Augen ein paar Monate nachdem sie die IVF begonnen hatten, nicht mehr so strahlten.


Sie schloss die Augen und ihr Hirn projizierte all die schönen Momente, die sie und Hendrik miteinander verbracht hatten, und sie hörte sich wie von fern schluchzen. Dann brach der Bann, während sie nach Luft schnappte und sie gierig einatmete. Plötzlich drangen Laute aus ihrem Körper, die sie nie vernommen hatte. Sie konnte nicht gegensteuern. Was hatte sie getan? Er würde ihr das niemals verzeihen, denn er verabscheute sich heute dafür, wie er Mädchen früher behandelt hatte.

Damals hatte er sich als Bindungsphobiker bezeichnet, unfähig, eine richtige Beziehung zu führen. Seine Angst, eine Frau an seiner Seite könnte genauso leiden, wie seine Mutter hatte ihn zu einem Typen gemacht, der nahm, was sich ihm bot. Ohne sich großartige Gedanken zu machen, wie echt die Gefühle der Mädchen waren, die er vögelte. Er hatte sein Herz nie verschenkt. Bis sie gekommen war.

Sie hatte ihm damals ihre Liebe gestanden und als er flüchten wollte, hatte sie ihm gesagt, es bestehe keine Notwendigkeit dazu. Sie hatte amüsiert getan. Anschließend hatte sie ihn gefragt, ob es ok war, es einfach so lange zu genießen, wie es ging, ohne Verpflichtungen. Und jetzt hatte sie ihm das um die Ohren gehauen. Nachdem sie überglücklich gewesen war, als er sie gebeten hatte, sie zu heiraten. Oder dieses Haus mit ihm zu kaufen. Oder eine Familie zu gründen. Jetzt war alles vorbei.

‚Damit er eine Chance hat, glücklich zu werden, Gretel', hallte durch ihren Kopf, doch sie schüttelte ihn automatisch.

Sie hatte den Mann verletzt, den sie über alles liebte. Dafür gab es keine Rechtfertigung. Worüber hatten sie überhaupt gestritten? Sie hatte ihn wegen des Stramplers angefallen wie eine Hyäne. Dabei wusste sie doch, dass er ihr damit Mut machen wollte. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass ihre Ehe nun in Scherben vor ihr lag?

Sie konnte nicht ohne ihn sein, dachte sie und wieder griffen ihre Finger zum Telefon, um ihn anzurufen und ihn zu bitten, nach Hause zu kommen. Ihr zu verzeihen. Doch aufs Neue ließ sie es unverrichteter Dinge auf den Couchtisch fallen. Vielleicht brauchten sie wirklich kein Kind, um glücklich zu sein. Das hatte er ihr gesagt. Aber dann schenkte er ihr einen Strampler, auf dem stand „Moms and Dads best parts"!

Ihre Uhr piepte und lenkte ihre Gedanken in die Gegenwart: Zeit, sich die Hormonspritze zu setzen. Sie hatte keine Kraft. Sie wollte einfach schlafen und, dass der beschissene Schmerz aufhörte. Aber sie rappelte sich trotzdem mühsam hoch, kämpfte gegen den Schwindel, der sofort von ihr Besitz ergriff, und schlurfte ins Bad. Was, falls sie sich versöhnten? Es war ziemlich ausgeschlossen, aber was, wenn doch? Dann hätte sie die Hormontherapie versaut und die Krankenkasse würde ihre Kostenübernahme zurückziehen. Welchen Grund hätte er da noch, mit ihr von vorn anzufangen? Weshalb sollte er es ein zweites Mal mit ihr versuchen, wenn sie in ihrem Wahn dann alles endgültig zerstört hätte?

Sie setzte sich an den Rand der Badewanne und hob ihr Shirt, um die dünne Nadel der Injektion durch ihre Bauchdecke zu schieben. Da waren schon einige blaue Flecken. Manche wurden auch bereits grün und verblassten. Ihr Arzt wollte die Dosis minimieren, damit sie nicht mehr so mit den Nebenwirkungen zu kämpfen hatte. Aber er hatte ihr zudem gesagt, dass dann die Chance geringer werden würde, schwanger zu werden. Sie konnte dieses Risiko nicht eingehen - falls Hendrik wieder nach Hause kam. Sie warf die Einmal-Spritze in den Mülleimer und hielt sich kurz am Waschbecken fest. Ihr war wirklich flau. Aber das lag nicht nur an der Spritze. Sie hatte nichts mehr gegessen und wahrscheinlich auch zu wenig getrunken.

Also würde sie sich nun zwingen, irgendetwas zu sich zu nehmen, sagte sie sich und wankte in den Flur zurück. Von dort aus trat sie in die Küche, die sie mit frischen Kräutern auf der Fensterbank und liebevoller, etwas kitschiger Deko versehen hatte. Ihr Blick fiel auf das Foto, dass Hendrik und sie bei ihrem Abschlussball zeigte. Sie waren so lange ein Paar und seit dem Tag ihres Vorschlags füreinander da gewesen. Jetzt saß jeder von ihnen irgendwo allein herum. Ob er weinte? Wo war er hin?

Ihr Blick verschwamm, kurz wurde ihr schwarz vor Augen. Sie musste wirklich dringend etwas essen. Ihr Blutzuckerspiegel dürfte langsam den Nullpunkt erreicht haben. Das war nicht gut. Gar nicht und das sollte sie schnellstens ändern. Sie drehte sich herum und merkte plötzlich, dass sie auch fröstelte, obwohl sie nun dazu schwitzte. Vorher war ihr nur kalt gewesen, doch das hatte sie auf die schlaflose Nacht geschoben. Sie brauchte das Telefon. Aber das lag auf dem Sofatisch, das schaffte sie wahrscheinlich nicht mehr. Schnell, Zucker! Ihre feuchten Finger klammerten sich an den Rand der Arbeitsfläche, während ihre Knie zusehends zu Pudding wurden.

Sie schob den Apothekerschrank auf, verzweifelt darum bemüht, Ruhe zu bewahren, und griff nach dem Schraubglas. In das füllte sie immer Zucker, seit sie mal Lebensmittelmotten eingeschleppt hatten und dadurch alle Lebensmittel ungenießbar wurden.

‚Meine Finger zittern zu sehr, ich bekomm es nicht auf', dachte sie verzweifelt, weil ihr immer schwummriger wurde.

Warum ging das jetzt so schnell? Wieso war sie nur so dämlich und hatte jedes Essen verweigert, wenn der Arzt ihr schon sagte, dass sie zu Unterzucker neigte? Immerhin war sie gründlich durchgecheckt worden. Sie brauchte etwas, wo der Zucker schnell ins Blut ging. Traubenzucker oder... Fruchtzucker!

‚Saft!', gellte es in ihren Ohren und sie wandte sich zum Kühlschrank.

Doch sie kam nicht mehr dorthin. Sie spürte, wie ihre Beine einknickten und sie fiel. Da hörte sie es. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, kurz bevor sie auf den Boden krachte.

‚Er ist wieder da', hallte es noch in ihr und die Welt um sie herum wurde schwarz.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now