III - 15

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Wie so oft stand sie am Fenster und schaute hinaus. Der April war dem Mai gewichen und die Sonnenstrahlen tasteten mit immer größerer Stärke nach allem, was sie berührten. Seit diesem Nachmittag war Hendrik immer öfter gekommen und hatte ihren gemeinsamen Sohn gesehen. Florian fragte wieder öfter, warum sie nicht bei ihm waren und um ehrlich zu sein, konnte sie es ihm nicht beantworten.

Es fiel ihr zusehends schwerer, die Anzeichen dafür zu ignorieren, wie sehr sie ihn weiterhin liebte. Aber irgendwas in ihr sperrte sich dagegen. Plötzlich spielte ein Lächeln um ihre Lippen, als ihre Aufmerksamkeit von Hendrik angezogen wurde, der im Innenhof gerade neben dem gebrauchten Fahrrad herlief, auf dem Flo mit breiten Grinsen saß und kräftig in die Pedale trat. Ihr Herz verpasste unwillkürlich einen Schlag, als das Rad gefährlich wankte, doch sie atmete erleichtert aus, als ihr Mann Flo davor bewahren konnte, zu fallen. Mit einem offenbar sanften Ruck kam das Fahrrad zum Stehen.

Ihr Sohn grinste seinen Vater an und sie beobachtete, wie sie kurz miteinander sprachen. Dann nickte Florian ernstgeworden und stieß sich mit seinen Beinen vom Boden ab, ehe er seine Füße zurück auf die Pedale stellte und zu treten begann. Seine Miene drückte dabei die gleiche Entschlossenheit aus, die sie auch von seinem Papa kannte. Ihr Herz verkrampfte sich vor Liebe für die beiden. „Spionierst du schon wieder?"

Sie zuckte zusammen und drehte sich zu ihrer Mutter, die sie mit einem Lächeln aus der Tür zur Küche anschaute. Schulterzuckend stimmte sie zu und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spektakel im Innenhof zu. Sie merkte, wie sich ihre Mama sich neben sie stellte, und für eine Weile standen sie schweigend nebeneinander und schauten Hendrik und Flo bei ihren Bemühungen zu.

Sie ignorierte das Seufzen ihrer Mutter, wandte sich ihr aber zu, als sie sich räusperte. „Du liebst ihn noch."

„Ich glaube, ich werde ihn immer lieben, Mama. Er ist wie eine Droge. Ich weiß, wie zerstörerisch er ist, und trotzdem möchte ich mir den nächsten Schuss setzen." Ihr Flüstern zerrann mit dem lauten Ticken der Uhr, während ihre Mutter sie lange anschaute.

Dann strich sie sich durch ihren praktischen Kurzhaarschnitt und seufzte nochmal. „Er arbeitet daran, dass er keine schädliche Wirkung mehr hat, Gretchen."

„Ich weiß." Unfähig, dem stechendem Blick ihrer Mutter weiterhin standzuhalten, lenkte sie ihre Augen wieder aus dem Fenster. Sie sah es doch: Seine Haut war von den vielen Stunden mit Flo im Freien sonnengeküsst, seine Augen hatten ihr Strahlen. Fast wie früher.

„Dann solltest du ihm zeigen, dass es dir auffällt, Gretel." Jetzt huschte ihr Blick doch wieder zu ihrer Mutter, die gedankenverloren weiter aus dem Fenster sah. „Aber es ist nicht meine Sache, das zu entscheiden. Er hat dich verletzt und dein Vertrauen hat verständlicherweise darunter gelitten. Trotzdem finde ich, dass er jeden Tag beweist, wie wichtig ihr ihm seid. Denk darüber nach, ok?"

Sie konnte nur nicken, während sie spürte, dass sich wieder einmal die ungeweinten Tränen in ihren Augen auftürmten. Mühsam hielt sie diese zurück, als ihre Mutter ihr nochmal über die Schulter strich und mit der Aussage, sie würde jetzt weiterkochen, den Raum verließ. Hatte ihre Mutter recht? War sie zu reserviert?

Das leise Hallen eines Lachens drang zu ihr und riss sie aus den Gedanken. Mit weitaufgerissenen Augen beobachtete sie, wie Hendrik allmählich die Hände vom Fahrrad nahm und Flo einfach weiterfuhr. Währenddessen reckte sich ihr Mann und es schien, als wüsste er, dass sie neben dem Fenster Position bezogen hatte. Denn seine Augen waren fest darauf gerichtet. Ihr Herz klopfte ihr bis in den Hals, als sie dachte, sie würde in diesem Blick versinken.

Mühsam riss sie sich davon los, als gedämpfter Jubel zu ihr drang und sich Hendrik daraufhin abwandte. Sie beobachtete, wie sich ein Lächeln auf seine Züge fräste und er Flo anfeuerte, der ihn – wacklig, aber offenbar sicher genug – mit seinem Fahrrad umkreiste. Sie wollte ihn so sehr. Als Mann. Partner. Vertrauten. Doch wieder wallte die Erinnerung an das missratene Weihnachtsfest auf, an dem er schon vor der Kindermesse angetrunken gewesen war. Bei der Bescherung hatte er dann nur noch mühsam seine Augen offenhalten können.

Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now