IV - 6

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Nun holte Larissa Anna aus der Menge und ihre Schwiegertochter strahlte ihre Freundin an. Sie stimmte selbstsicher in den Song ein und Gretel lächelte, als sie sah, wie die Augen ihres Sohnes seine Frau förmlich liebkosten.
Die zwei waren so toll zusammen und hatten jede Klippe umschifft, die sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Sie war so stolz auf die beiden, denn sie musste zugeben, dass sie sich manchmal gesorgt hatte, wie viel ihre junge Liebe ertragen konnte.
Dennoch hatten sie es geschafft. Auch Hendrik und sie mussten kämpfen. Und waren erfolgreich gewesen. Immer wieder. Trotzdem zitterten ihre Hände nun ein bisschen, als sie sich daran erinnerte, dass seine Augen ein paar Monate nachdem sie die IVF begonnen hatten, nicht mehr so strahlten.

„Margarethe, jetzt mach aber mal einen Punkt!", fauchte Hendrik und sie schnaubte.

„Einen Punkt? Ich jage mir täglich diese bescheuerte Spritze in den Bauch, nur um unseren Wunsch zu erfüllen und du kommst mir mit: Jetzt mach aber mal einen Punkt?!?"

Nun zeichnete sich das auf seinem Gesicht ab, was sie jedes Mal förmlich lähmte: Bedauern und Mitleid. Er bereute es. Er bereute, an der Ehe mit ihr festgehalten zu haben. Sie konnte es spüren und wie immer, wollte ihr Verstand ihn wegschicken, während ihr Herz sich dagegen auflehnte. Sie wollte und durfte ihn nicht verlieren. Er war alles, und das seit jeher. Seit er mit seinem Fahrrad aus Versehen in ihres geknallt war und sie im hohen Bogen geflogen war.

Da hatte sie zum ersten Mal in seine Augen gesehen und sie hatten ungefähr den gleichen reuigen Ausdruck zur Schau getragen, wie gerade eben. Nur war das hier eine andere Situation. Sie war keine beschissene 17 mehr und der Anblick reichte nicht, um sich in den zwei Jahre älteren Typen heillos zu verknallen. Der sie an diesem Tag nach Hause gebracht, sie dann aber wieder vergessen hatte, erinnerte sie sich. Er hatte ihr einmal verraten, dass er aus reinem Pflichtgefühl gehandelt hatte. Hieß das, dass purer Stolz ihn zwang, bei ihr zu bleiben?

„Geh. Das hat alles keinen Sinn. Ich rede morgen mit der Bank, um dich auszubezahlen, wegen des Hauses", sagte sie und bemerkte die Kälte in ihrer Stimme.

Wenn er sich entscheiden sollte zu bleiben, dann weil er sie liebte. Nicht aus einem faden Gefühl der Verantwortung heraus. Das konnte sie nicht mit sich vereinbaren. Der Gedanke an ein Leben ohne ihn zerfetzte ihr Herz, aber es war ihr Recht, sich zu wünschen, dass sie mehr als eine schlichte Verpflichtung für ihn darstellte.

„Spinnst du jetzt komplett, Margarethe?"

„Nein. Es ist mein Ernst. Ich kann deine Träume nicht erfüllen. Wir sind beim zweiten Versuch. Drei werden bezahlt. Ich hab keine Kraft mehr, für etwas zu kämpfen, was uns eher entzweit, als uns zusammenzubringen. So sollte das alles nicht ablaufen. Man sollte glücklich sein, wenn man versucht, ein Kind zu bekommen. Ich bin nicht glücklich und du offenbar auch nicht. Wir streiten so oft. Also geh. Du kannst all das haben, du kannst Vater werden. Aber nicht mit mir an deiner Seite. Ich werde dir nicht im Weg stehen."

„Gretel, ich ... Das meinst du nicht ernst ... Ich..."

„VERSCHWINDE!", brüllte sie, weil ihr Herz in dem Moment schon explodieren wollte, als sie die Worte geäußert hatte, und das durfte er auf keinen Fall miterleben.

Sie sah, wie Hendrik fassungslos den Kopf schüttelte. Er kam einen Schritt auf sie zu, sie wich zurück. Wenn er sie jetzt berührte, würde sie zu Staub zerfallen. Sie hatte all das so satt. Die Stimmungsumschwünge, die Übelkeit, die Migräneattacken und die Schmerzen, wenn sie ihr befruchtete Embryonen einsetzten, die sich doch nicht einnisteten. Dann die Streits, weil sie sich nicht unter Kontrolle hatte und sie deutlich merkte, wie unglücklich er über die Situation war. Sie konnte nicht mehr. Sie liebte Hendrik und er sollte nicht so eine Frau haben. Er sollte nicht leiden mit ihr an seiner Seite.

„Liebling, ich ... Wir...", fing er an und wollte sie in seine Arme ziehen.

„VERSCHWINDE, VERDAMMT NOCHMAL!", schrie sie wütend.

„Was soll die Scheiße jetzt? Ich werde nicht gehen!"

„Das solltest du aber. Es ist nur zu deinem Besten", log sie und registrierte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich.

Sie wusste, wenn sie den nächsten Satz sagte, hätte er keine andere Wahl mehr, als sich zu fügen. Sie wollte das nicht tun. Aber es war offenbar nötig.

Also wappnete sie sich innerlich und erklärte: „Geh und such dir eine andere, die mit dir fickt. Wir wussten beide, dass es nicht ewig klappen würde, weil ich nicht bereit war, das Spiel mitzuspielen. Im Grunde willst du dich nicht auf eine Frau festlegen. Wolltest du nie, wie dein Vater. Ich weiß es und du weißt es auch. Du bist wie er. Du willst ficken, was bei drei nicht auf dem Baum ist. Du willst keine Beziehung. Ich wusste, dass es so kommen könnte. Aber ich lasse nicht zu, dass du mich genauso unglücklich machst, wie dein Vater deine Mutter. Merkst du, wie das keinen Sinn ergibt, Hendrik? Wir beide – das war einmal. Geh. Denn alles andere wäre albern."

Jedes Wort brannte wie Feuer in ihrem Hals und ihrem Mund, ehe es über ihre Lippen drang. Doch sie musste ihm wehtun, damit er es kapierte. Sie wusste, dass er sich geändert hatte, ihm ihr Wohl über alles ging und er sie liebte. Sie hatte ihm gezeigt, dass Liebe so viel mehr als Sex war. Er hatte die Chance, wirklich glücklich zu werden. Auch ohne sie. Sie wusste nicht, wie sie den Verlust verkraften sollte. Gar nicht wahrscheinlich. Eher starb sie an gebrochenem Herzen, aber das war nebensächlich.

„Du hast sie nicht mehr alle, Margarethe", fauchte er auch schon und sie schüttelte den Kopf, um ihm den Todesstoß zu versetzen.

„Ich war noch nie klarer, Hendrik. Du kennst unsere Vereinbarung: Solange wir beide Lust aufeinander haben", erwiderte sie und unterdrückte den Impuls über seine Wange zu streicheln, weil sie den Schmerz in seinen Augen kaum ertrug.

Wie in Zeitlupe nickte ihr Mann, während sich seine Züge verhärteten. Er wandte sich ab und sie zuckte zusammen, als die Tür ins Schloss krachte. Sie bekam keine Luft. Der Druck, den sie empfand, schien ihr den Sauerstoff aus der Lunge zu pressen, während es in ihr schrie, sie müsse einatmen. Doch sie konnte nicht. Der Schmerz würde sie umbringen. Dieser Kampf war schlimmer gewesen als alles, was sie je hatte durchstehen müssen. Sie wusste, dass es das Richtige gewesen war. Aber der Selbsthass, der in ihr wütete, war die unverwechselbare Spur dieser Schlacht. In diesem Augenblick, weil sie ihm nicht geben konnte, was er sich so offensichtlich wünschte: Eine Familie – mit ihr.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now