III -10

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Die erste Zeit war wirklich fordernd. Doch da wusste ich auch nicht, was noch auf uns zukommen würde. Schuldbewusst ruckte sie aus ihren Erinnerungen hoch und hörte gerade noch, wie der letzte Ton des Songs verklang. Sie hob den Kopf und schaute in Florians Augen, der ein mildes Lächeln aufgesetzt hatte. „Na, wo bist du gewesen?"
Sie schluckte trocken und zuckte unbestimmt mit den Schultern, während Scham durch sie rieselte. Wie sollte sie ihrem Sohn erklären, dass sie es heute so gar nicht schaffte, im Moment zu leben? Dabei hatte sie gedacht, das gelernt zu haben. Immerhin hatte sie zu oft Krisen hinter sich gebracht, wo nur die kleinen Glücksmomente wie dieser sie über Wasser gehalten hatten. „Tut mir leid."
Sie bemerkte, wie Flo ihre Entschuldigung mit einem Schulterzucken abtat. Erneut zog sich ihre Brust vor Rührung zusammen, als er sie stumm zurück an sich zog und sich weiter mit ihr zum neuen Song wiegte. „Schon okay, Mama. Mein Kopf wandert heute ebenfalls immer wieder zu Dad. Ihr habt oft getanzt. Im Garten. Ihr habt mich nie bemerkt. Damals fand ich es peinlich. Jetzt füllt es mich mit Freude, dass du so eine Liebe leben durftest."
Sie nickte wortlos, obwohl sie ein schmerzhafter Stich durchzog. Offenbar ging ihr Sohn davon aus, dass sie nie wieder lieben würde. Und vielleicht sollte sie das auch nicht. Sie war so wankelmütig, wie die Vergangenheit bewiesen hatte...

Wieder empfing sie der beißende Geruch nach Wodka und sie hörte den lautgedrehten Fernseher zu ihr dröhnen. Sofort sanken ihre Schultern ein und sie dankte ihren Eltern, dass sie darauf bestanden hatten, Flo dieses Wochenende zu nehmen. Wobei sie auf deren sorgenvolle Gesichter gerne verzichtet hätte, als sie ihn vorm Einkaufen dort abgeliefert hatte.

Hendrik hatte weiterhin große Schwierigkeiten, sich in seinem alten Alltag einzufinden. Etwas, das sie ihren Eltern verschwiegen hatte. Sie hatte es auch Emmy nicht erzählt. Auch niemand anderem. Also hatte sie vorher ihre Mutter nur in die Arme geschlossen und war ihrer Frage, wie es ihr gehe, nur ausgewichen. Immer öfter beschlich sie das Gefühl, dass es besser wäre, Florian zu nehmen und zu gehen. Doch dann schaute sie den Mann an, den sie nach wie vor liebte und sagte sich, dass sie sich geschworen hatten, zueinander zu stehen. In guten, wie in schlechten Zeiten. In Gesundheit und Krankheit.

Mit einem Seufzen schulterte sie erneut die schwere Tragetasche und schloss die Haustür hinter sich. Währenddessen dachte sie darüber nach, wo er den Alkohol herhatte. Sie hatte sämtliche Vorräte vernichtet, seit ihr klargeworden war, dass ihr Mann ein Problem hatte. Noch immer überlief sie ein Schauer, wenn sie an den darauffolgenden Streit dachte. Der damit geendet hatte, dass Hendrik in ihren Armen zusammengebrochen war und ihr schwörte, dass er sich in den Griff bekam. Was nicht lange angehalten hat. Aber woher hatte er das Geld, sich Wodka zu besorgen? Heute Morgen vor der Arbeit war sein Portemonnaie leer und die Bankkarte hab ich ihm schon längst abgenommen.

Sie schüttelte den Kopf und betrat den Wohnraum. Wie erwartet lag Hendrik auf dem Sofa und starrte dumpfsinnig im Halbdunkel auf die flimmernde Mattscheibe. „Hi."

Sein Gesicht fuhr zu ihr herum und an seinem glasigen Blick erkannte sie, dass er getankt hatte. Da half auch die ehrlich empfundene Freude nicht, die Enttäuschung abzumildern. Demnach war er heute wieder nicht zu seiner Therapiesitzung gegangen, sondern hatte sich stattdessen betrunken. „Hi, mein Liebling."

Seine schleppende Sprache jagte ihr einen Schauer über den Rücken und erneut fragte sie sich, wieso sie hier war. Sie nickte nur und trug die Einkäufe in die angrenzende Küche. Doch statt sie sofort auszuräumen, stellte sie die Taschen ab und stützte sich haltsuchend auf der Arbeitsplatte ab. Sie hatte das Gefühl, bald zu platzen. Ist das die Strafe dafür, dass ich bei Sebi schwachgeworden bin?

Reflexartig schüttelte sie den Kopf. Das war schlicht und ergreifend Blödsinn. Dennoch nagte diese Begebenheit genauso an ihr wie Hendriks Verhalten. Ob er vielleicht ahnte, was vorgefallen war und deswegen betrank er sich? Hör auf! Wie soll er es wissen? Sprichst du neuerdings im Schlaf?

Seufzend schloss sie für einen Moment die Augen und straffte dann ihre Schultern, als sie diese wieder geöffnet hatte. Sie hievte die große Tasche auf den Tresen und wollte gerade damit anfangen, sie auszuräumen, als sich ein Arm um ihre Taille legte. Ihr Kopf fuhr herum und sie starrte in Hendriks Gesicht. Seine Brauen standen schräg über seinen Augen und sie merkte, wie er versuchte, ein Lächeln auf seine Züge zu bringen. „Kann ich dir helfen?"

Sie widerstand im letzten Augenblick dem Impuls, seiner Fahne auszuweichen und nickte stattdessen nur. Sie wusste, dass sie ihn darauf ansprechen musste. Doch gerade fehlte ihr der Nerv dafür. Schweigend reichte sie ihm die Packung Nudeln und beobachtete, wie er sich bückte, um sie im Apothekerschrank zu verstauen. Wenn sie nicht riechen würde, dass er getrunken hatte, könnte man sich von seinen fließenden Bewegungen täuschen lassen. Aber war das nicht ein Zeichen dafür, dass sich sein Körper an den Alkohol gewöhnt hatte?

„Is' Flo gut angekommen?" Irritiert schaute sie ihn an, ehe sie nickte und die Reispackung aus der Tasche hob. Als Hendrik sie ihr aus der Hand nahm, berührten sich ihre Finger und Gretel fiel auf, wie kalt ihre schon wieder waren. Ihre Blicke trafen sich automatisch und sie merkte, wie Sehnsucht in ihr aufstieg. Denn noch waren sie sich nicht nähergekommen, falls man davon absah, dass sein Arm schwer auf ihrer Taille lastete, wenn sie ihn ins Bett gebracht, den Haushalt erledigt und sich neben ihn gelegt hatte. Dann zog er sie reflexartig an sich, schmiegte sich an ihren Rücken und vergrub murmelnd sein Gesicht in der Kuhle ihres Halses.

Am Anfang hatte sie noch gehofft, er würde wie früher seine Lippen auf die Stelle legen, wo ihr Puls sich abbildete. Doch das war nicht passiert. Du hättest auch den ersten Schritt gehen können, weißt du?

„Hendrik ... ich ..." Hastig brach sie ab und wollte sich abwenden, aber seine warmen Finger legten sich um ihr Handgelenk. Sofort sah sie ihn wieder an und ihre Brust zog sich noch mehr vor Sehnsucht zusammen, als sie das kaum wahrnehmbare Glitzern in seinen Augen entdeckte.

„Sag es, Gretel. Bitte." Sie war versucht, den Kopf zu schütteln. Wollte sie wirklich mit einem Mann intim werden, der seinen Kummer oder was auch immer in Wodka ertränkte? Sie wusste nicht, was darauf die richtige Antwort war. Doch sie meinte die gleiche Sehnsucht in seinem Blick zu sehen und das brachte ihren Puls zum Rasen.

Sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden, aber sie musste sich räuspern, da ihr bewusst war, wie kratzig ihre Stimme ansonsten klingen würde. Vielleicht mussten sie auch gar keinen Sex haben, um wieder Nähe zu empfinden? Wollte er überhaupt Sex? „Ich vermisse dich, Hendrik."

„Du sagst nicht mehr Babe zu mir." Gretel entglitt ihre Mimik und jetzt wurden seine Augen wässrig. Abrupt wich er ihrem Blick aus und es dauerte etwas, ehe er ihn wieder erwiderte. „Ich weiß, ich bin nicht mehr der, den du geheiratet hast. Ich denke ständig darüber nach. Wie sehr ich dich enttäuscht habe..."

Ihr stockte der Atem und sie hielt ihn reflexartig an. Würde er ihr jetzt alles sagen? Doch dann strich er sich hilflos über die Augen, zuckte mit den Schultern und flüsterte: „Ich habe dich mit Flo alleingelassen und mich aus dem Staub gemacht und jetz'? Jetz' brauch ich meine tägliche Dosis Wodka, um überhaupt in die Gänge zu kommen. Damit mein Hirn funktioniert oder für mich wenigstens den Anschein macht..."

„Dann hör auf damit, Babe. Egal, wo du feststeckst. Komm zurück zu uns, ok? Zu mir. Komm zurück zu mir. Ich vermisse dich so sehr. Ich hab dich schon vermisst, da warst du noch nicht mal weg. Aber es hat sich so angefühlt. Ich wollte dich nie bitten zu bleiben, denn das ist gegen unsere Abmachung, aber ... Ich brauche dich, Babe." Nicht nur ihre Sicht schien unklarer geworden zu sein, denn auch in seinen Augen schwammen wieder Tränen, die er diesmal nicht unterdrückte. Das schockierte und rührte sie zu gleichen Teilen, denn sie konnte an einer Hand abzählen, wie oft er vor ihr die Fassung eingebüßt hatte.

Schnell zog sie ihn an sich und spürte, wie er sein Gesicht an ihrem Hals vergrub. So wie sie sich an seiner Brust verlor. Unter ihrer Wange raste sein Herz und sie merkte, wie sich etwas in ihr wieder an den richtigen Platz schob, während sie beide weinten. Plötzlich spürte sie es: Seine Lippen legten sich auf ihren Hals.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now